Harmonie, Zensur, Fenster zu den Sternen
Propaganda und Kontrolle prosperieren in China ebenso wie privates Glück
„Harmonie im Vaterland, Friede in jeder Familie“, „Der chinesische Traum: Allen geht es gut“, „Fleiß bringt Wohlstand“, „Tugend ist der größte Reichtum“: Chinas Regierung besitzt einen Schatz an Merksätzen und Sprichwörtern fürs Volk. Das Medium, mit dem die Obrigkeit ihre Merksprüche den Bürgern täglich in Erinnerung ruft, sind Millionen und Abermillionen von Propagandaplakaten. Sie prangen fast überall, wo gerade Platz ist: an Bauzäunen, Bahnhöfen, Bushaltestellen.
Hier ist noch ein Spruch, diesmal einer, der durch seine irgendwie volkstümliche Kunstlosigkeit besticht: „Der Sozialismus ist gut. Den einfachen Leuten geht es gut.“ Aber der Master-Slogan, um den alle anderen Sprüche kreisen, ist von ganz anderer Art: „Hoch haltet die Fahne der Xi Jinping-Gedanken über das Neue Zeitalter des Sozialismus chinesischer Prägung!“ Ein Satz wie ein Eimer Eiswürfel, gedruckt in einer einzigen, fünf Meter langen Zeile auf zahllosen Bannern, die ohne jeden Schmuck auskommen.
Zusammen spiegeln die beiden Spruchsorten – hier warme Wonne, dort ein kalter Lufthauch – die grundlegenden Parameter der veröffentlichten Meinung in China wider. Ihre wichtigsten Themen sind Harmonie, Erfolg, Autorität. Und im Hintergrund eine Drohung, die man ernst nehmen sollte. Denn so viel Harmonie, wie die Regierung ihren Bürgern abverlangt, ist nur um den Preis harter Konflikte und staatlicher Kontrolle zu haben.
Diese Kontrolle wird natürlich euphemistisch verbrämt. So erklärte der Staatsrat in einer Pressemitteilung, die Regierung arbeite daran, eine „öffentliche Meinung zu schmieden, in der Vertrauenswürdigkeit als glorreich gilt“. Gemeint ist das „soziale Punktesystem“ – eine Art Schufa, nur für das gesamte Betragen jedes Bürgers. Die Sache befindet sich noch in der Experimentierphase. Chinas Regierung hat eine Reihe von Unternehmen und staatlichen Stellen beauftragt, verschiedene Ansätze für das Bürgerzeugnis in Echtzeit zu erproben. Fernziel ist ein Master-Score, der alle Daten zusammenfasst. 2020 soll es so weit sein.
Es handelt sich um eine Art Gamification des Gehorsams. Wer in sozialen Netzwerken tüchtig mitspielt, die richtigen Freunde hat und in Bildung und Beruf mit einem hohen Status auftrumpfen kann, wer seine Miete pünktlich bezahlt und bei Online-Einkäufen nicht säumig ist, wer Familie hat, nicht polizeiauffällig wird und obendrein hin und wieder positive Nachrichten über die KP verbreitet, der erhält eine hohe Punktzahl. Wer eher unangenehm auffällt, der bekommt eine niedrige.
Schuldner an den Pranger
Die Konsequenzen sind beträchtlich: Sie betreffen nicht nur die Kreditwürdigkeit, sondern auch Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Beförderungen, Reiseerleichterungen und -hindernisse, und sie wirken sich sogar auf das Ranking in Online-Datingportalen aus. Mitunter sind sie auch dazu geeignet, das öffentliche Ansehen von Bürgern zu vernichten.
So berichtete die Hongkonger Tageszeitung Ming Pao (11.10.2017), dass in einigen Regionen bereits Pilotprojekte liefen, um säumige Schuldner zum Bezahlen zu zwingen. So muss, wer nicht bezahlt, neuerdings feststellen, dass sein Name und seine Vergehen auf LED-Anzeigetafeln in Bahnhöfen und an Bushaltestellen öffentlich gemacht werden. Am 10. Oktober vermeldete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua, dass solche und ähnliche Maßnahmen nun auch landesweit Anwendung finden sollen.
Dazu zählt auch, dass die betreffenden Stellen den Namen, die Nummer des Personalausweises, die Adresse und den geschuldeten Betrag aufnehmen – und dazu ein Foto des Missetäters. Diese Informationen will man dann über alle möglichen Kanäle und Medien veröffentlichen.
Mehr noch: Laut Ming Pao arbeiten in den Provinzen Henan, Jiangsu und Sichuan die Gerichte mit den örtlichen Telekom-Unternehmen zusammen, um die Betroffenen noch stärker unter Druck zu setzen: Wer einen notorischen Schuldner anruft, bekommt nun, bevor das Klingeln beginnt, die Durchsage: „Die Person, die sie anrufen, ist auf einer gerichtlichen Insolventenliste verzeichnet, weil sie ihre Schulden nicht bezahlt. Bitte erinnern Sie diese Person an ihre Pflichten.“
Etwas subtiler geht es bei den privatwirtschaftlichen Ansätzen zum sozialen Punktesystem zu. Zu den experimentierenden Firmen zählt Alibaba, das chinesische Amazon, das es an Reichweite und Trackingfähigkeiten mit dem US-Original aufnehmen kann. Auch mit von der Partie sind Baidu, Tencent, Wechat und Didi – Internetgiganten, die in Sachen Benutzerzahl, künstliche Intelligenz und Big Data-Verarbeitung den Vergleich mit Google und Facebook nicht zu scheuen brauchen. Bessere Partner könnte Chinas Stasi sich gar nicht erträumen.
So erklärte Li Yingyun, die Chefin von Sesame Credit, einer Tochterfirma von Alibaba, für den Citizen Score werte das Unternehmen die Daten seiner Kunden qualitativ aus. „Jemand, der zehn Stunden am Tag Videospiele spielt, der würde zum Beispiel als beschäftigungslos gelten“, sagte Li im Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Caixin (21.8.2017). „Aber ein Kunde, der häufig Windeln kauft, der würde bei uns als jemand gelten, der wahrscheinlich ein Kind hat und Verantwortungsbewusstsein besitzt.“
Noch vielversprechender sind die Firma Tencent und ihre App WeChat, eine Art Kombination aus Facebook, WhatsApp, Onlinebanking und Apple-Pay. Allerdings ist das Bezahlen per Mobiltelefon in China viel weiter verbreitet als im Westen – vom Autokauf bis zum Snack am Straßenrand. WeChatt hat 938 Millionen Benutzer. Ihre Daten sind durch nichts vor dem Zugriff des „sozialen Punktesystems“ geschützt. So berichtete ein Artikel auf dem Pekinger Internetportal Sohu (7.8.2017), dass Tencent nicht nur das Finanzgebaren seiner Nutzer nachverfolge, sondern auch ihre „sozialen Verbindungen“. Obendrein beobachte Tencent „die Posts aus den Netzwerken eines jeden Benutzers, vor allem aus sozialen Medien, um festzustellen, ob das soziale Verhalten des Benutzers gesund“ sei.
Wenn es nicht so „gesund“ ist, kann es auch leicht gefährlich werden. Im Oktober 2017 wurde der chinesische Bürger Wang Jiangfeng zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er Präsident Xi Jinping als „Dampfknödel Xi“ bezeichnet hatte – in privaten Gesprächen per WeChat.
Bis vor Kurzem galt in China die Faustregel, dass man, etwas Fingerspitzengefühl vorausgesetzt, so ungefähr sagen kann, was man will, solange man es nicht gerade öffentlich tut. Dass nun wieder Bürger für ihre privaten Gespräche ins Gefängnis gehen, ist eine Neuheit. Sie verheißt nichts Gutes: das Äquivalent einer Partnerschaft zwischen Stasi und Google.
Nachrichten wie diese dominieren Chinas Medien natürlich nicht. In Xinwen Lianbo – so etwas wie die chinesische Tagesschau – bekommen die Zuschauer ein anderes Bild präsentiert. Typischerweise sind die ersten zwei Drittel der Sendung für Erfolgsmeldungen aus China – die es ja auch wirklich gibt – reserviert. „Auch Probleme kommen hin und wieder durchaus zur Sprache“, sagt ein Journalist von der chinesischen Staatspresse, der seinen Namen nicht in der Zeitung sehen will. „Aber die Botschaft ist immer, dass alles unter Kontrolle ist.“
Das verbleibende Drittel der Sendung widmet sich Problemen im Ausland. „Brexit, Terroristen, MeToo … Da seufzten die Zuschauer und denken, zum Glück leben wir in China, wo es vernünftig zugeht. Das stärkt das Selbstbewusstsein.“ Und das ist bestimmt gut für die Harmonie im Land, die auf den Propagandaplakaten so ausgiebig besungen wird.
Ausgegrenzt und eingemauert
Diese Harmonie oktroyieren die Behörden aber nicht nur medial, sondern auch ganz analog, sogar bei Leuten, die im Zweifel noch nicht einmal ein Smartphone besitzen. Solche Habenichtse werden in chinesischen Zeitungen und Behörden immer wieder als „diduan renkou“ bezeichnet, als „unterer Rand der Bevölkerung“.
In der Ausgabe vom 1. August 2017 sprach sogar Renmin Ribao (Volkszeitung, die chinesische Prawda) vom „unteren Bevölkerungsrand“. Dieser müsse „reguliert und [aus Peking] ausgewiesen“ werden. Darum wird er nun gewissermaßen analog zensiert – also rausgeschmissen.
Ein Schritt in diese Richtung besteht darin, die Häuser, in denen der untere Bevölkerungsrand lebt, unbrauchbar zu machen. In den städtischen Randgebieten leben zahlreiche Wanderarbeiter in einfachen Unterkünften, die nun teils abgerissen, teils zugemauert werden. Auch in der Innenstadt, in den alten, kaiserzeitlichen Gassen, bietet sich teils ein groteskes Bild. Wo die alten, ebenerdigen Häuser bis vor Kurzem noch Cafés, Gemüsehändler und Friseure beherbergten, sind sie nun zur Straßenseite hin, so unwahrscheinlich das auch klingt, tatsächlich zugemauert.
Im chinesischen Wirtschaftsmagazin Caixin hieß es (27.5.2017), dies geschehe aus „Sicherheitsgründen“. Die Ladenbesitzer seien perplex. Sie hätten in der Regel keine Zeit, sich auf die Einmauerung vorzubereiten. Die Stadtbehörden planten, in kurzer Frist 16 000 weitere Ladenfronten zuzumauern.
Immerhin, chinesischen Bloggern stieß der Ausdruck vom „unteren Bevölkerungsrand“ so sauer auf, dass sie sich auf Weibo, dem chinesischen Twitter, hartnäckig darüber beschwerten. Im November wurde der Ausdruck „harmonisiert“, wie es unter chinesischen Bloggern sarkastisch heißt, also wegzensiert.
Bei so viel Kontrolle könnte man meinen, in China lebe es sich wie in Stalins Sowjetunion. Irrtum. Dem World Happiness Report der UN zufolge belegt China 2017 den 79. Platz. Toll ist das nicht, auch wenn die China Daily (23.3.2017) das als Erfolg vermeldete, aber immerhin besser als Portugal (89), Griechenland (87) und Indien (122). Allerdings ist das auch nicht die Gesellschaft, in der China sich gerne sieht. Zum Vergleich: Deutschland liegt auf Platz 16.
Dennoch: Die allermeisten Bürger Chinas fühlen sich nicht hauptberuflich unterdrückt. Stattdessen kümmern sie sich, wie die Bürger der meisten anderen Länder auch, um Familie, Arbeit und Spaß mit Freunden, und sogar mit eher mehr Gusto als anderswo. Konsum spielt ebenfalls eine große Rolle, wie zuletzt am „Doppelelf“, dem 11.11., zu bezeugen war, Chinas „Black Friday.“ Es handelt sich um eine nationale Shopping-Party, die auch dieses Jahr wieder alle Weltrekorde weit in den Schatten stellte, wie die chinesische Presse nicht ohne Stolz berichtete.
Und selbst zarte Ansätze zur Konsumkritik machen sich bemerkbar. So lobte ein Artikel im chinesischen Magazin Huafa (12.6.2017) einen Aussteiger und pensionierten Bootsbauer, der sich am Rand des Perlflussdeltas ein kleines Gartenparadies gebaut hat. Man kann dort auch Zimmer mieten, teils in alten, liebevoll renovierten Häusern, die bereits auf dem Grundstück standen, teils in Pavillons, die der Bootsbauer selbst errichtet hat.
Das Besondere daran, so Huafa: Die Häuser haben ein eigens dafür eingebautes Fenster im Dach, durch das die Gäste, wenn sie im Bett liegen, den Himmel sehen können. Das ist schon etwas anderes als Medienkontrolle, erzwungene Harmonie und ein zugemauertes Peking.
Der Titel der Geschichte im Huafa-Magazin lautet: „Dein Haus hat einen Fernseher mit Flachbildschirm. Aber sein Haus hat ein Fenster zu den Sternen.“ Solange das noch jemanden interessiert, ist, vielleicht, noch alles möglich.
Justus Krüger lebt seit 2005 als freier Korrespondent u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, Mare und Geo in China.
Internationale Politik 1, Januar-Februar 2018, S. 130 - 133