Idealistisch und realistisch
Der NATO-Beitritt ist für Schweden und Finnland ein epochales Ereignis: Beide Staaten werfen das über Jahrzehnte hochgehaltene Prinzip der sicherheitspolitischen Bündnisfreiheit über Bord. Kein Wunder, dass die Medien vielstimmig darüber berichten. Doch wie ausführlich sollen sie kritisieren dürfen? Und warum reagiert die Türkei auf das schwedische und finnische Gesuch so unterschiedlich?
Stockholm, Januar 2023. Vor der türkischen Botschaft in der schwedischen Hauptstadt findet eine Demonstration mit rechtsextremem Einschlag statt. Rasmus Paludan, ein notorisch bekannter dänisch-schwedischer Unruhestifter, der sich in beiden Ländern schon erfolglos darum bemühte, ins Parlament gewählt zu werden, verbrennt im Beisein einer Handvoll Leute einen Koran.
Einige Tage zuvor hatten Angehörige kurdischer Interessengruppen in Schweden beim Stockholmer Stadthaus bereits eine Puppe kopfüber an einer Schnur aufgehängt; die Figur sollte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan darstellen.
In beiden Fällen reagierte Ankara scharf. Das war nicht anders zu erwarten. Doch während in früheren Jahren die schwedischen Politiker auf die eingehenden diplomatischen Noten Ankaras lakonisch mit den Worten reagiert hätten, in Schweden herrsche eben das Recht auf freie Meinungsäußerung, brach nun in Regierungskreisen Nervosität aus. Denn bis die Türkei den schwedischen NATO-Beitritt ratifiziert, bleibt der Schritt in die Allianz blockiert – ein Anliegen, das als die wichtigste sicherheitspolitische Zäsur der vergangenen 200 Jahre bezeichnet wird.
Stunde der marginalen Medien
In der Diskussion um den NATO-Beitritt schlug die Stunde der marginalen Medien. Denn die traditionellen beziehungsweise Massenmedien, die politisch wie gesellschaftlich auf zentristischem Kurs liegen, waren sich weitgehend einig: Russland lasse mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine den bisher bündnisfreien nordischen Ländern Finnland und Schweden gar keine andere Wahl, als sich so rasch wie möglich der Nordatlantikallianz anzuschließen.
Kleinere Zeitungen allerdings widersprachen – die Publikation Syre zum Beispiel, die für einen bescheidenen Kreis von Abonnentinnen und Abonnenten aus grün-liberaler Warte schreibt. Der Syre-Chefredakteur Lennart Fernström griff persönlich zur Feder. Ihm missfiel, dass das in Schweden sehr hochgehaltene Prinzip der freien Meinungsäußerung beschnitten werden sollte, um den türkischen Präsidenten, den Autokraten Erdoğan, zu besänftigen. „Erdoğan öffnet uns die Türe nur, wenn wir die Kurden opfern und unser Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aufgeben“, hieß es in dem Kommentar. Dass die schwedische Polizei eine zweite geplante Koranverbrennung aus Gründen der nationalen Sicherheit verboten habe, sei bereits der nächste bedenkliche Schritt.
Zwar seien Koranverbrennungen geschmacklos, schrieb Fernström. Doch sie zu untersagen, stehe in direktem Konflikt mit dem schwedischen Gesetz. Denn Sicherheitsaspekte dürften nur dann eine Rolle spielen, wenn sie die konkrete Durchführung einer Demonstration betreffen – die Polizei hingegen hatte mit einer Anhebung der allgemeinen Terrorgefahr argumentiert. „Unser alarmistischer Regierungschef will uns einer aggressiven Kernwaffen-Allianz anschließen, auch um den Preis der Demonstrations- und Meinungsfreiheit“, so die Bilanz.
Die Wortwahl ist drastisch, doch spiegelt die Meinung durchaus eine breitere Stimmungslage in Schweden wider. Anders als in Finnland, wo die parlamentarischen Parteien trotz einigen individuellen Abweichlern am ganz linken und ganz rechten Rand geschlossen hinter dem NATO-Beitritt stehen, ist in Schweden der Widerspruch größer.
Sowohl die Linksradikalen als auch die Grünen (letztere waren bis 2021 Teil der Regierung) unterstützen den NATO-Beitritt nicht. Nicht nur für die kleine Zeitschrift Syre, sondern auch für diese beiden Parteien stehen nun bislang eherne Pfeiler des schwedischen politischen Selbstverständnisses plötzlich zur Diskussion. Es handelt sich nicht bloß um die prinzipiellen Fragen der Demonstrations- und Meinungsfreiheit, sondern auch beispielsweise um Schwedens Umgang mit dem Multikulturalismus im Allgemeinen sowie um Solidarität und Unterstützung für die Kurden im Besonderen.
Ärger mit Ankara
Diesen letzteren Punkt griff die schwedische Wirtschaftszeitung Dagens Industri in einem Kommentar auf. Die Schwierigkeiten zwischen Schweden und der Türkei, argumentierte das Blatt, stammten weniger von Vorfällen wie den Aktionen Paludans oder der prokurdischen Stadthaus-Demonstration, auch wenn diese gewiss „nicht hilfreich“ gewesen seien.
Vielmehr seien sie auf die Art und Weise zurückzuführen, wie sich die damalige sozialdemokratische Regierung 2022 im Parlament von der Stimme einer einzigen linksradikalen Abgeordneten iranisch-kurdischer Abstammung abhängig gemacht habe. Um diese bei Laune und sich selbst an der Macht zu halten, habe man sich zu verstärktem Engagement zugunsten kurdischer Interessen verpflichtet. Das sei eine politisch zweifelhafte Begleitmusik für die Einreichung des NATO-Beitrittsgesuchs gewesen.
Das nach links tendierende und auflagenstarke Aftonbladet warf dem politischen Mainstream einschließlich der Sozialdemokraten hingegen vor, Muslime im Wahlkampf zuerst als Projektionsfläche für alles Negative missbraucht zu haben und nun plötzlich von ihnen zu fordern, Koranverbrennungen als legitimen Ausdruck basisdemokratischer Rechte zu akzeptieren. Nur habe in den oberen Etagen der Politik offensichtlich niemand damit gerechnet, dass man plötzlich vom Wohlwollen der muslimischen Welt abhängig sein könnte.
„Die Botschaft ist klar: Wer auf Mängel beim Umgang mit den Freiheiten hinweist, von denen die Regierung behauptet, dass wir sie hätten, wird als Gefahr für die Demokratie hingestellt. Nutzt also euer Recht auf freie Meinungsäußerung, aber sagt nur, was die Regierung hören will“, ätzte der Kommentar.
Finnland ist anders
In dieser Diskussion um Staatsräson und Freiheitsrechte hat Schweden bisher nur mit Mühe eine Linie gefunden. Ein vergleichender Blick nach Finnland fördert Erstaunliches zutage. Denn auch dort wurde gegen Erdoğan demonstriert und Stimmung gemacht. Doch scharfe Reaktionen, wie Ankara sie gegenüber Schweden zeigte, blieben aus. Dabei waren beispielsweise die Publikationen Iltalehti und Helsingin Sanomat im Nachzug zum politischen Streit um die Januar-Demonstrationen in Schweden einem Aufruf von Flamman gefolgt, einer schwedischen Zeitschrift sozialistischen Zuschnitts. Der Aufruf lautete, dass so viele Publikationen wie möglich bitte Erdoğan-Karikaturen publizieren sollten. Bei Iltalehti und Helsingin Sanomat handelt es sich dabei nicht um Randzeitungen, sondern Schwergewichte der finnischen Publizistik.
Woher also kommt die Ungleichbehandlung der beiden Länder durch die Türkei? Johan Strang, ein finnischer Politologie-Professor an der Universität Helsinki, kann sie sich zwar nicht vollständig erklären, bietet aber folgenden Ansatz an: Zwischen den beiden Ländern sieht er einen grundsätzlichen Unterschied im Auftritt nach außen. Finnland beschreibt er als „kleinstaatlich-realistisch“, Schweden hingegen als „kleinstaatlich-idealistisch“.
Etwas allgemeiner gesprochen bedeutet das: Finnlands historische Erfahrung ist die eines Daseins in der Nachbarschaft und dem Schatten von Großmächten. Durch diese Konstellation wurde es dazu gezwungen, sich nach den Vorgaben des realistisch Möglichen und nicht des politisch Wünschbaren zu verhalten.
Das Paradebeispiel dafür ist die Epoche der sogenannten Finnlandisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals musste Finnland gewisse Souveränitätseinbußen in Kauf nehmen, um als unabhängiger Staat weiterbestehen zu können und nicht von der Sowjetunion in den Ostblock gezogen zu werden. Personifiziert wurde diese Politik durch den damaligen Präsidenten Urho Kekkonen, der sich auf schmalem Grat zwischen der UdSSR und dem Westen bewegte.
In Schweden war zur gleichen Zeit der sozialdemokratische Ministerpräsident Olof Palme die prägende politische Figur, ein charismatischer Redner, der sich vehement für Egalität und Menschenrechte einsetzte. Seit Palmes Zeiten gehört es zum Selbstverständnis Schwedens, sich auf der internationalen Bühne als Verteidiger dieser Werte zu profilieren.
Nur kollidiert dieses Bestreben bisweilen mit den Sachzwängen der Realpolitik – wie zum Beispiel jetzt beim Thema NATO-Beitritt, aber auch schon früher, beispielsweise bei der Frage von Waffenverkäufen an Länder wie Saudi-Arabien. Finnlands Art, sich zurückzuhalten und gegebenenfalls pragmatisch zu schweigen, hat sich da für den NATO-Beitrittsprozess besser ausbezahlt.
Eine einfache Zielscheibe
Mit seiner traditionellen und manchmal auch dezidiert geäußerten Unterstützung für die Sache der Kurden gab Schweden für die Türkei Erdoğans nun eine relativ einfache Zielscheibe ab. Hinzu kommt, dass Schweden allerdings auch eine zahlenmäßig größere kurdische Minderheit hat als Finnland, die sich zudem auf innenpolitischer Ebene stärker bemerkbar macht. Dadurch war Stockholm gegenüber Ankara exponierter und das lohnendere Ziel für eine Machtdemonstration Erdoğans als Helsinki.
Der finnische Politologe Strang gab seine Einschätzungen zum schwedisch-finnisch-türkischen Dreieck übrigens in einer Diskussionssendung des schwedischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens ab, die den ominösen Titel „Der finnische Verrat“ trug. Das Anfang März aufgezeichnete Gespräch drehte sich darum, ob Finnland Schweden im Stich lasse, wenn es (wie es sich damals schon abzeichnete) die Möglichkeit erhalte, vor Schweden der NATO beizutreten, und diese Gelegenheit auch wahrnehme. Denn eigentlich habe man den Beitrittsprozess ja zusammen angestoßen und gelobt, ihn auch zusammen zu Ende zu bringen.
Warten oder vorgehen?
Ob Finnland aus nordischer Solidarität nun angesichts des Widerstands der Türkei auf Schweden warten sollte mit dem NATO-Beitritt, wurde in beiden Ländern zu einem großen Thema. Finnlands höchste Politiker entzogen dieser Frage jedoch sehr rasch den Boden. Wenn man die Mitgliedschaft beantragt habe, könne man nicht später kommen und sagen, man wolle jetzt doch noch nicht, gab Präsident Sauli Niinistö zu bedenken.
Das finnische Fernsehen kommentierte, die schwedische Regierung versuche, die Notbremse zu ziehen, doch der finnische Zug habe den Bahnhof bereits verlassen. Und Stimmen aus dem Volk, aufgenommen auf Helsinkier Einkaufsstraßen, sagten lapidar, Schweden müsse seine Probleme selbst lösen.
Noch ein weiteres Element tauchte in der Debatte auf: Wenn schon von „Verrat“ gesprochen werde, dann müsse auch gesagt werden, dass es sich nicht um den ersten solchen „Verrat“ zwischen den beiden Ländern handele. Tatsächlich hatten Schweden und Finnland schon einmal den Plan gehabt, koordiniert einer supranationalen Organisation beizutreten. Und zwar der Europäischen Union, in den frühen 1990er Jahren.
Die schwedische Zeitung Göteborgs Posten thematisierte unlängst diese Episode im Zusammenhang mit der schwedisch-finnischen Irritation um den NATO-Beitritt.
In Schweden war damals die EU-Frage ein heiß umstrittenes Thema. Die Sozialdemokraten hielten einen Beitritt ursprünglich für unvereinbar mit dem schwedischen Konzept der Blockfreiheit. Die bürgerlichen Parteien hingegen sprachen sich dafür aus.
Um vor nahenden Wahlen den Konservativen den Wind aus den Segeln zu nehmen, schwenkten die regierenden schwedischen Sozialdemokraten plötzlich um. Und zwar, ohne Finnland Bescheid zu geben. Der damalige finnische Präsident Mauno Koivisto soll aus einer Pressemitteilung erfahren haben, dass Schweden ein Beitrittsgesuch einzureichen gedenke, und seinen Zorn darüber nie ganz verdaut haben.
Diese Episode änderte nichts daran, dass die beiden Länder der EU schließlich zeitgleich beitraten. Doch, wie Göteborgs-Posten schreibt: „Der schwedische ‚Verrat‘ ist in Finnland bis heute unvergessen. Das Misstrauen hat sich – wenn auch in abgeschwächter Form – auf spätere politische Generationen übertragen.“
Davon allerdings will die auf Schwedisch erscheinende finnische Zeitung Hufvudstadsbladet nichts wissen. „Vertrauen und Zusammenarbeit zwischen Finnland und Schweden werden nicht erschüttert, wenn Finnland zuerst in die NATO kommt. Beide Seiten verstehen die Situation“, schrieb das Blatt.
Das klingt zwar nach gewissem Zweckoptimismus. Doch immerhin entspricht es den offiziellen Verlautbarungen.
Rudolf Hermann ist bei der Neuen Zürcher Zeitung seit 2015 für die Berichterstattung über die nordischen und baltischen Staaten zuständig. Davor war er Korrespondent in Prag und Sydney und schrieb vor Ort über das Geschehen u.a. in Mittel- und Osteuropa.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S.116-119
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