Zwischen West und Ost
Bislang hat Finnland mit seinem neutralen Status gut gelebt. Doch der Krieg in der Ukraine führt zum Umdenken.
Wenn ich in Helsinki bin und ein bisschen Zeit habe, besteige ich gerne eines der kleinen Fährschiffe, die beim Kauppatori anlegen, dem Marktplatz am alten Hafen, und schippere hinaus zur Festung Suomenlinna. Die Überfahrt zur historischen Militäranlage, die in der Bucht vor der finnischen Hauptstadt liegt, dauert nur eine Viertelstunde. Und doch führt sie in eine ganz andere Welt.
Bei den Einheimischen ist Suomenlinna, die „Finnenburg“, ein beliebtes Naherholungsgebiet. Im Sommer lässt sich dort wunderbar baden und picknicken. Ausländische Besucher können hier in ein Stück nordische Natur eintauchen. Die Festung Suomenlinna, inzwischen Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, wurde nämlich auf einer Gruppe von Schären erbaut – diesen kleinen, reizvollen Inselchen, die so typisch sind für das skandinavische Landschaftsbild.
Beim Aussteigen gleitet der Blick zurück über das Wasser auf die Skyline von Helsinkis Innenstadt. Ob es am finnischen Bewusstsein für urbanes Design liegt oder an nordischer Nüchternheit: Kein einziges modernes Hochhaus durchbricht die relativ niedrigen Linien. Die Dominanten sind vielmehr zwei imposante historische Bauwerke: links der protestantische Dom mit seiner puritanischen Architektur, rechts davon in einem Abstand von nur wenigen hundert Metern die orthodoxe Uspenski-Kathedrale, die mit ihren opulenten Verzierungen und verspielten Zwiebeltürmen einen deutlichen Kontrast zum strengen Gegenüber abgibt.
Was sich in diesem Stadtpanorama spiegelt, ist finnische Geschichte, konzentriert auf das Element, das sie am meisten geprägt hat: die unablässige Auseinandersetzung rivalisierender Machtblöcke im Westen und Osten um dieses Stück Erde. Was heute Finnland ist, war über 600 Jahre lang Hinterland des Königreichs Schweden. Dann waren es die russischen Zaren, die die Macht ausübten, von 1809 bis 1917. Erst seit dem Ende des Ersten Weltkriegs haben die Finnen überhaupt einen eigenen Staat. Die Konstante von früher ist jedoch bis heute geblieben: die Frage, wo Finnland zwischen westlichen und östlichen Mächten und ihren Ansprüchen stehen kann, darf oder muss.
Diese Situation hat die Finnen Pragmatismus gelehrt. In der City zeigt sich das bei einem Spaziergang entlang der eleganten Esplanade, die vom Marktplatz ins Geschäftszentrum führt. Unter den Fremdsprachen, die ans Ohr dringen, dominieren Englisch und Schwedisch: Finnland ist heute sowohl in seiner eigenen Wahrnehmung als auch der Betrachtung von außen fest im Westen verankert. Was auf der Straße jedoch ebenfalls oft zu hören ist, sind die melodiösen Vokale des Russischen.
Denn der Großraum St. Petersburg, der etwa gleich viele Einwohner zählt wie ganz Finnland, ist keine vier Stunden Zugfahrt entfernt. Helsinki ist zu einem beliebten Kurztrip-Ziel geworden für die Einwohner der nordrussischen Metropole; ein nahes und einladendes „Fenster zum Westen“. Das Bindeglied ist der „Allegro“, der 2010 in Verkehr gesetzte Hochgeschwindigkeitszug zwischen den beiden Städten.
Wer sich im März am Hauptbahnhof Helsinki aufhielt, sah die meisten Ankömmlinge aus St. Petersburg dem „Allegro“ allerdings nicht mit kleinen Rollkoffern für den Wochenendaufenthalt entsteigen, sondern mit großem Gepäck. Aus den Gesichtern der Reisenden sprach nicht die Vorfreude auf eine angenehme Städtereise, sondern Ungewissheit und Zukunftsangst. Denn viele ahnten nicht, wann sie ihr Heimatland das nächste Mal wiedersehen würden. Es waren Russinnen und Russen, die in Entsetzen über den von Putin in der Ukraine losgetretenen Krieg und mit Besorgnis über die neue Isolation Russlands ihr Land Hals über Kopf verlassen hatten. In der Gegenrichtung waren die Züge praktisch leer. Und seit Ende März ist der Verkehr ganz eingestellt. Der Bahnsteig 9 am Hauptbahnhof, an dem der „Allegro“ zu stehen pflegte, ist auf unbestimmte Zeit verwaist.
Was lange eine Gewissheit war, ist plötzlich anders
Nach Westen zog es dieser Tage jedoch nicht nur die russischen Zugpassagiere, sondern in übertragenem Sinn auch Finnland selbst. Die Frage nämlich, ob man sich nach über sieben Jahrzehnten von sicherheitspolitischer Neutralität und Allianzfreiheit der NATO anschließen soll, war noch nie so brandheiß wie heute. Und noch nie hat sich die Volksmeinung dazu so rasch und radikal geändert wie in den vergangenen Wochen. Zwar hat Finnland mit dem neutralen Status – wiewohl dieser einst von der Sowjetunion diktiert worden war – nicht nur gut zu leben gelernt, sondern daraus sogar eine Tugend gemacht: In kaum einer westlichen Hauptstadt versteht man heute Moskauer Stimmungslagen besser als in Helsinki. Das hat auf der internationalen Bühne einen Wert. Wenigstens, solange feste Spielregeln gelten.
Doch wenn die Finnen sehen, was gerade in der Ukraine passiert, sehen sie ein Land, das den gleichen großen Nachbarn im Osten hat wie sie selbst und die gleiche allianzfreie Position. Sie erinnern sich an ihren Winterkrieg, als sie 1939 von Stalin überfallen wurden und nur durch aufopfernden Kampf die Existenz ihres unabhängigen Staates gegen die erdrückende sowjetische Übermacht zu retten vermochten.
Eine NATO-Mitgliedschaft war für Finnland auch nach der Wiedererlangung der vollen außenpolitischen Handlungsfähigkeit im Jahr 1991 nie ein Thema gewesen. Das hat sich jetzt innerhalb kürzester Zeit geändert. Was lange eine Gewissheit war, ist plötzlich anders.
Zwar stehen die beiden dominanten Kirchen in Helsinkis Zentrum, Ausdruck von Finnlands Balancieren zwischen Ost und West, stoisch da wie immer. Doch es scheint, als habe die Distanz zwischen ihnen zugenommen.
Rudolf Hermann ist Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung und seit 2015 zuständig für die Berichterstattung über die nordischen und baltischen Staaten.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 114-115
Teilen
Themen und Regionen
Artikel können Sie noch kostenlos lesen.
Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.