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01. Febr. 2007

Hurra, wir konsumieren!

Russlands Verhältnis zum Westen zwischen Kaufrausch und Borat-Bashing

Die politischen Journale Russlands beschäftigten sich nicht erst zur Jahreswende mit dem Verhältnis Russlands zur Welt. Gerade die Beziehungen zum Westen stellen für die großen Moskauer Zeitschriften einen ständigen Anlass dar, um Russlands Rolle im internationalen Geschehen immer wieder neu zu bestimmen.

Die Filmkritikerin Maja Strawinskaja bespricht den Film „Borat“ des britischen Komikers Sascha Baron Cohen (Kommersant Wlast, 11.12.2006). Der politisch antikorrekte Streifen schildert die kulturelle Forschungsreise eines äußerst unzivilisierten Kasachen durch die USA. Im Westen war die Parodie ein Kassenschlager, in Russland dagegen ein Nichtereignis: Laut Strawinskaja wurde er nur zweimal in Moskau vorgeführt. Einmal vor ausgewählten Journalisten, das andere Mal vor staatlichen Filmzensoren, die danach entschieden, solcher Klamauk sei dem russischen Publikum nicht zuzumuten. Strawinskaja sieht es anders: Mit dem antisemitischen, sexgeilen Barbaren Borat wolle Cohen keineswegs die Kasachen beleidigen, sondern die Amerikaner provozieren, ihr wahres Gesicht zu offenbaren, indem er sie mit solcher Barbarei konfrontiere. Sie sieht „Borat“ als Dokumentarfilm: „Alles, was Kasachstan betrifft, ist saftig, grell und grob, aber es ist offensichtlich als Unwahrheit zu erkennen. Aber alles, was Amerika betrifft, ist durch dokumentarische Zeugnisse belegt.“ Zwar sieht sie großzügig über lange Passagen des Filmes hinweg, die nur aus unappetitlichem Analgerede bestehen, und macht sich auch keine Gedanken darüber, dass der durchschnittliche anglo-amerikanische Kinobesucher im Gegensatz zu ihr keinerlei Ahnung davon hat, wie barbarisch oder zivilisiert die Kasachen wirklich sind. Aber sie glaubt wohl zu Recht, Cohen widme seinen „Borat“ viel weniger Kasachstan als Amerika: „Der Komiker demonstriert glänzend, dass Amerika eine Nation der Borats, der Wilden, ist, die so tun, als wären sie zivilisiert.“ Was auch US-Zuschauer nicht daran gehindert habe, sich köstlich zu amüsieren.

Strawinskaja fragt, warum wohl der offiziösen russischen Zensur die amerikanische Toleranz abgegangen sei. „Kasachstan haben sie damit wohl kaum verteidigt (obwohl, möglicherweise, sie auch aus Angst vor einer politischen Reaktion der Bruderrepublik handelten).“ Eher hätten sie wohl feinfühlig erspürt, das „Borat“ die Idee des Patriotismus als solche verspottet. Cohens Gedanke sei einfach: „Nationalismus deformiert das Verhalten, kollektives Bewusstsein verwandelt Menschen in Degenerate.“ Cohens demonstrative Maulschellen für die All-Amerika-Kultur aber führten auch das Gerede der Putinschen Ideologen über die nationale Idee, russischen Volksgeist und Heimaterde ad absurdum. Eben deshalb sei Borat nicht in die russischen Kinos gelangt.

Andere Bewusstseinsströme aus dem Westen haben es viel leichter, nach Russland einzudringen. Anlässlich der Einkäufe zu Silvester und Weihnachten (Neujahr wird in Russland wesentlich aufwändiger gefeiert als das orthodoxe Weihnachtsfest am 7. Januar) ereifert sich das Gesellschaftsressort der Zeitschrift Itogi über den Konsumrausch als neue russische Krankheit (Wita Matsch: „Shopping kak doping“, Itogi, 18.10.2006).

Autorin Wita Matsch zitiert die Auditgesellschaft Deloitte damit, dass die Russen fast 13 Prozent ihres Jahreseinkommens für Geschenke ausgeben, die Iren dagegen nur etwa vier Prozent. Der zwanghafte Konsum, unter dem viele westliche Wohlstandsmenschen litten, sei inzwischen auch in Russland zu einer weit verbreiteten Krankheit geworden, so Matsch. Was die Journalistin als Beleg für die bei russischen Journalisten sehr beliebte These nimmt, dass ihr Vaterland wirtschaftlich und zivilisatorisch immer mehr mit dem Westen gleichziehe. „Shoppomanie ist ein Attribut für das Wohlergehen einer Gesellschaft und eine voll entwickelte Wirtschaft, wenn die Leute Geld nicht nur für Lebensmittel haben und es in den Geschäften Waren für jeden Geschmack gibt.“ Letzteres ist in Russland der Fall, aber angesichts eines Durchschnittslohns von umgerechnet 320 Euro monatlich wirkt es fast zynisch, der russischen Bevölkerung solcherlei Luxusmanien zu unterstellen. Bezeichnenderweise bringt Matsch als einziges lebendes Beispiel für eine russische Shoppomanin die in den USA lebende Tennismillionärin Maria Scharapowa: Die kaufe sich bei Einkaufsorgien nach Nieder-lagen schon mal 20 Paar Schuhe. Und nebenher gesteht Matsch ein, dass nicht Bauernschaft, Rentner und die fünf Millionen Arbeitslosen, sondern auch die dünne russische Mittelklasse jede Art von Kaufrausch nur mit Mühe finanzieren kann: „Und wenn man schon kein Geld flüssig hat, dann ist zu guter Letzt ein Verbraucherkredit immer noch erschwinglich.“

Itogi gehört zu den stramm kremltreuen Zeitschriften Moskaus, deren Redakteure ihren Alltag in der wirtschaftlich privilegierten Hauptstadt statt im eher armen Restrussland leben. Diese Blätter schwärmen ihrer Leserschaft gerne vor, wie üppig inzwischen auch Russen Luxusgüter konsumieren können. Tenor dieses Verbraucherpatriotismus: Zumindest ein Teil von uns, also eigentlich wir alle, sind nicht mehr ärmer als der Westen, uns drohen jetzt dieselben süßen Verlockungen, dazu aber kommt noch unsere besondere russische Seele. Matsch zitiert die Präsidentin einer „Assozia-tion der Spezialisten für Personal Shopping“, Natalija Najdenskaja: „Es spielt auch eine Rolle, dass die Russen ein größeres Herz haben. Während es in Europa üblich ist, nur die Nächsten zu beschenken, so bedenken wir sowohl Verwandte wie auch Freunde und Kollegen.“

„Doping“, „Therapie“, „Marketing“, „Shopping-Assistant“: Matsch wirft mit neurussischen Anglizismen um sich, erklärt den Lesern, mit welchen Merchandising-Tricks man ihnen in den neuen Supermärkten das Geld aus den Taschen zieht: Einkaufswege gegen den Uhrzeigersinn, Farben, Rhythmusfrequenzen, Duftnoten etc. Allerdings nutzen die meisten russischen Einkaufszentren diese Tricks bisher nur zu einem sehr kleinen Teil und kaum systematisch. Matsch schildert eine Wirklichkeit, die sich viel mehr in Chicago als in Tscheljabinsk abspielt: „Wissenschaftler haben errechnet, dass Sie während jeder überflüssigen Minute im Supermarkt 1,89 Dollar ausgeben.“ Tatsächlich deckt sich die Masse der Russen weiter auf großen Freiluftmärkten mit Textilien, Möbeln oder Haushaltsgeräten aus Billigimportländern ein.

Auch der Kommersant Wlast-Artikel über „Borat“ stellt ein Stück west-licher Wirklichkeit dar. Doch obgleich die Zeitschrift inzwischen auch dem Staatskonzern Gazprom gehört und wie fast alle russischen Printmedien auf frontale Kritik an Präsident Putin verzichten muss, bemüht sie sich weiter, unbequeme Meinungen und Fakten an der längst restaurierten Staatszensur vorbei zu schmuggeln. Und diese attackiert sie auch direkt mit Artikeln wie der „Borat“-Besprechung. Derweil besteht die Itogi-Mannschaft zum größten Teil aus eifrigen Erfüllern, die sich bemühen, das Selbstgefühl des Kremls möglichst attraktiv ans Publikum zu verkaufen: Wir holen den Westen auch als Überflussgesellschaft ein, legen uns kostspielige Macken und Manien zu. Hurra, auch wir sind jetzt Konsumenten! Ob die Russen nun japanische Jeeps, Pauschalurlaub auf Zypern oder bloß Coca-Cola kaufen, die Möglichkeit, den Westen zu konsumieren, ist das wohl am besten garantierte Freiheitsrecht im heutigen Russland. Auch wenn die meisten Russen diese Freiheit mangels Kapital nur in sehr bescheidenem Maße nutzen können, hofiert der Kreml seine Untertanen inzwischen zumindest in ihrer Eigenschaft als Verbraucher, indem er den Konsum selbst zum Grundbestandteil der Alltagsideologie ausrufen lässt.

Die Bedeutung des Konsums für die Entwicklung der russischen Gesellschaft bestätigt auch Russkij Newsweek in seiner Neujahrsausgabe. (Michail Fischman: „Insel Kreml“, Russkij Newsweek, Dezember/Januar 2007). „Allein Mars-Schokoriegel wurden dieses Jahr in Russland für eine Milliarde Dollar verkauft“, schreibt Russkij Newsweek, als Publikation des deutschen Axel-Springer-Verlags viel unabhängiger als Kommersant-Wlast oder Itogi. „Europa stöhnt unter der Flut russischer Bürger. Der westliche Lebensstil siegt bei uns allüberall.“ Diesem Trend stellt Fischman die politische  Realität gegen-über: Angefangen mit dem russisch-ukrainischen Gaskrieg habe sich Russland 2006 endgültig mit dem Westen zerstritten, Moskau sei international isoliert. „In einem der Interviews vor dem G-8-Gipfel sagte Putin direkt, die USA organisierten eine Kampagne, um Russland zu diskreditieren und so seine Innen- und Außenpolitik zu beeinflussen. Putin hatte sich inzwischen die Erkenntnis zu eigen gemacht, dass Russland in eine Welt zynischer Berechnung geraten sei, in der jedes Entgegenkommen Schwäche bedeute.“

Seitdem kontere Russland wie einst Breschnjews Sowjetunion alle westlichen Initiativen, bewaffne Syrien, hofiere Außenseiter oder gar Geächtete wie Hugo Chávez, die Hamas oder den Iran. Trotzdem mündete das „Jahr des Putinschen Isolationismus“ keineswegs in einen neuen Kalten Krieg. Laut Fischman, weil zum einen Russland für einen neuen Weltkonflikt einfach zu schlecht gerüstet sei, auch ideologisch – und auf der Liste der außenpolitischen Prioritäten Wa-shingtons erst an zwanzigster Stelle komme. Zum anderen, weil es sich eben längst als Markt der Konsumgüterindustrie des Westens geöffnet habe. Fischman ignoriert, dass das westliche Interesse an Russland nicht nur diesem Markt, sondern wohl noch mehr den russischen Rohstoffreserven gilt. Aber er bezweifelt wohl zu Recht, dass der Kreml oder der Westen Russlands neue Isolation wirklich ernst nehmen. „Das ist alles virtueller Kampf“, zitiert er einen russischen Diplomaten, „aus dem Bereich der Psychologie. Ernst würde es erst, wenn sie uns aus dem UN-Sicherheitsrat oder dem Europarat ausschließen würden.“ Auf beiden Seiten gibt es zu viele pragmatische Gründe, es so weit nicht kommen zu lassen.

Ziehen auch wir ein Fazit: Am Anfang des Jahres 2007 will der Kreml Lästermäuler aus dem Westen wie etwa „Borat“ erst gar nicht mehr hereinlassen. Andererseits hat er dem westlichen Konsumexport alle Tore geöffnet, die von ihm kontrollierte Hauptstadtjournaille predigt der eigenen Bevölkerung inzwischen selbst westliche Verbrauchermentalität. Politisch stellt sich Russland immer mehr als gemäßigt antiwestliche Diktatur dar, wirtschaftlich aber als freier Verbrauchermarkt, der westliche Importe gierig aufsaugt. Putins Russland ist ein sehr originelles System, auf das klassische Begriffe wie „autoritär“, „totalitär“ oder „demokratisch“ kaum noch anwendbar sind. Und das Jahresfazit, das Russkij Newsweek zieht, macht Hoffnung: Dieses Land kann inzwischen nicht mehr isoliert werden, weder von innen noch von außen.

STEFAN SCHOLL, geb. 1962, lebt als freier Autor in Twer, Russland. Zuletzt erschien von ihm „Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr“ (2004).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2007, S. 124 - 127.

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