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01. Juli 2007

Hegemonialmacht im Stillstand

In den USA fehlen die politischen Köpfe für neue Ideen

Die Außenpolitik George W. Bushs hat einen erstaunlichen Erfolg erzielt. Je länger und deutlicher die unglückseligen Folgen des Irak-Kriegs zu beobachten sind, desto umfassender wird die Einigkeit unter den Experten, dass die Politik der letzten Jahre fundamental verfehlt war.

Das besondere an dieser Entwicklung ist, schreibt Jonathan Freedland in der New York Review of Books (14. Juni), dass sie sich nicht (mehr) nur auf die üblichen Verdächtigen erstreckt, sondern dass es nun einen Konsens innerhalb der sonst so gespaltenen außenpolitischen Landschaft der USA gebe – „von Noam Chomsky bis Brent Scowcroft, von den Antikriegsdemonstranten in San Francisco zum gutgepolsterten Büro des ehemaligen Außenministers James Baker“. Der Konsens bestehe darüber, dass der Irak-Krieg ein verhängnisvoller Fehler gewesen sei, dass Bushs Präsidentschaft das Ansehen Amerikas in der Welt beträchtlich geschmälert und dass die verfolgte Politik das Land in Gefahr gebracht habe, weil Verbündete verprellt und Feinde ermutigt worden seien.

Als Beispiele für die unerwartete Einigkeit führt Freedland die neuen Bücher von Zbigniew Brzezinski und Dennis Ross an. Beide sind der kritischen Reflexe der amerikanischen Linken unverdächtig – Brzezinski, konservativer Demokrat und Sicherheitsberater in der Regierung Carter, ist schon seit den Tagen des Kalten Krieges einer der führenden „hawks“ in Washington, und Ross hat als Leiter der Nahost-Stäbe der Präsidenten Bush sen. und Clinton deutlich gemacht, dass er amerikanische Stärke selbstbewusst einzusetzen versteht. „Und dennoch“, schreibt Freedland, „zerlegen beide die Außenpolitik Bushs in Worten, die zu früheren -Zeiten Männern ihres Standes als unanständig gegolten hätten. Es ist der Ton fassungsloser Eltern, die das Familienunternehmen in die Hände einer jüngeren Generation gelegt haben und nun mit ansehen müssen, wie die Firma in den Bankrott getrieben wird.“

Bei genauerer Betrachtung wird aber rasch erkennbar, dass Freedlands postulierter Konsens sehr oberflächlicher Natur ist. Denn an der Frage, wie weitreichend der von Bush angerichtete Schaden ist, entzünden sich neue Kontroversen. Noch problematischer wird es, fragt man nach den Ursachen der außenpolitischen Entwicklung unter Bush – und den sich aus dieser Diagnose ergebenden Therapievorschlägen. Einen der interessantesten Beiträge dazu liefert Michael Lind im National Interest (Mai/Juni) unter dem programmatischen Titel „Beyond American Hegemony“. Seiner Auffassung nach ist das außenpolitische Versagen der USA nicht einer bestimmten Regierung anzulasten oder am Einzelfall Irak allein festzumachen, sondern strukturell begründet. Seit dem Ende des Kalten Krieges seien sowohl Republikaner als auch Demokraten übereingekommen, „die zeitweilige amerikanische Hegemonie über Westeuropa und Ostasien in eine dauerhafte globale Hegemonie zu überführen“. Obwohl sich die Taktik im Detail unterschieden habe, sei diese Strategie gemeinsames Merkmal der Regierungen Bush sen., Clinton und Bush jun. Im Kern habe man die Strategie des Kalten Krieges – sanfte Einbindung Deutschlands und Japans, unverhohlene Eindämmung russischen und chinesischen Machtanspruchs – in eine veränderte Zeit übertragen.

Lind zufolge ist dieses anachronistische globale Hegemonialstreben die Wurzel der gegenwärtigen Nöte Amerikas. Denn es erfordere eine dauerhafte militärische Übermacht Amerikas, der die Logik der erzwungenen Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und des Präventivkriegs entspringe. Dies provoziere internationale Gegenmachtbildung, Isolierung der Vereinigten Staaten und eine Militarisierung der Außenpolitik. Lind sieht in Bush und seinen neokonservativen Vordenkern also nicht die Hauptschuldigen der Krise, sondern nur die eifrigsten Verfechter einer traditionsreichen, aber grundfalschen Strategie: „Ein anderer Präsident hätte vielleicht auf den Irak-Krieg verzichtet. Aber früher oder später hätten die USA entweder die Hegemonialstrategie aufgeben oder den vollen Preis für sie zahlen müssen. Früher oder später wäre es zu einem ‚Irak‘ gekommen, wenn auch nicht unbedingt im Irak selbst.“

Es liegt auf der Hand, dass Lind sowohl die Linksliberalen von Survival belächelt, die ihre gesamte Frühjahrsausgabe der detaillierten Analyse des amerikanischen Scheiterns im Irak gewidmet haben, als auch die Neokonservativen vom Weekly Standard verachtet, die immer noch nicht müde werden, den militärischen Erfolg im Irak herbeischreiben zu wollen (z.B. Max Boot, 21. Mai). Beide Seiten verkennen, „dass die Debatte über Irak zu einer Debatte über amerikanische Grand Strategy insgesamt werden muss.“ Lind, der in seiner schillernden publizistischen Karriere erst für linke, dann neokonservative und schließlich „radikal zentristische“ Ideen eingetreten ist, will die Hegemonialstrategie abgelöst sehen. Doch welche Alternative gibt es? Er wendet sich einerseits gegen den isolationistischen Hauch des „offshore-balancings“, hält aber andererseits eine Politik des klassischen Machtgleichgewichts für zu konfrontativ – und an die Wirkung internationaler Institutionen glaubt er sowieso nicht. Also schlägt er ein „gleichberechtigtes Mächtekonzert“ vor, eine begrenzte Kooperation zwischen den USA, China, Russland, Japan, Indien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, da Interessenkonflikte zwischen diesen Großmächten „begrenzt“ und die Aussichten auf Zusammenarbeit „vielversprechend“ seien.

Von den vielen denkbaren Einwänden gegen diese Idee thematisiert Lind nicht einmal die beiden naheliegendsten. Selbst wenn es die behauptete Nähe der Interessen zwischen diesen Mächten gäbe, bräuchte es doch einen Bismarck, um dieses Konzert zu dirigieren – und dessen Fähigkeiten sind keinem der Präsidentschaftskandidaten zuzutrauen, bei allem Respekt vor Dennis Kucinich. Schwerwiegender ist noch, dass Lind sämtliche außenpolitischen Interventionen der USA seit Ende des Kalten Krieges dem geopolitischen Kalkül der Hegemonialstrategie zuschreibt. Es ist zwar richtig, dass die Absicherung amerikanischer Vormachtstellung ein zentrales Politikziel war, von der Defense Planning Guidance unter Bush sen. über Clintons Strategy of Enlargement bis zur aktuellen National Security Strategy. Aber diesen Faktor etwa in den Balkan-Kriegen oder beim Regime Change im Irak als alleinbestimmend oder auch nur dominierend anzusehen, greift viel zu kurz. Es ist ja gerade die anhaltende Komplexität der Motivlage, welche die amerikanische Außenpolitik antreibt und auch gelegentlich – wie seit dem Fall Bagdads – blockiert.

Ein gutes Beispiel für die Vielstimmigkeit der amerikanischen außenpolitischen Debatte ist Norman Podhoretz’ „The Case for Bombing Iran“ in der Juni-Ausgabe von Commentary. Podhoretz ist die Ikone des außenpolitischen Neokonservatismus und war mit seinen Aufsätzen über den Krieg gegen den Terrorismus („World War IV“, in Podhoretz’ Diktion) einer der wichtigsten intellektuellen Unterstützer der Politik Bushs. Auch im Alter von 77 Jahren ist er nicht so altersmilde geworden, dass er sich Freedlands „Konsens“ unterordnete. Schon in den siebziger Jahren befürchtete Podhoretz die „Finnlandisierung“ Amerikas, womit er die schleichende Aufgabe des robusten Cold-War-Liberalism zugunsten eines um entspannte Koexistenz bemühten, demilitarisierten Umgangs mit der Sowjetunion meinte, der letztlich zum Untergang des freien, selbstbestimmten Westens führen würde. Heute benutzt Podhoretz dasselbe Etikett, um vor einer Beschwichtigungspolitik gegenüber dem „islamofaschistischen“ Iran zu warnen. Die Bedrohung durch einen nuklearen Iran sei unberechenbar und nicht zu tolerieren; eine ernstzunehmende Weltordnungsmacht USA müsse ein unmissverständliches Signal setzen, dass bestimmte Waffen nicht in die Hände bestimmter Regime gelangen dürften. Podhoretz nennt die einschlägigen Gegenargumente gegen eine Bombardierung und stimmt zu, dass die Szenarien der Bedenkenträger triftig sind – aber er sieht, bezugnehmend auf eine Wahlkampfaussage John McCains, doch keine Alternative: „Nur eines wäre schlimmer als Iran zu bombardieren: Wenn Iran die Bombe bekäme.“

Wie stets ist Podhoretz’ Polemik unbedingt lesenswert, selbst wenn man nicht alle Schlussfolgerungen zu teilen vermag. Denn Podhoretz versteht es nicht nur, meisterhaft zu formulieren, sondern auch politische Argumentationsmuster so zu zerlegen, dass er den Leser zur Überprüfung seiner eigenen Grundannahmen zwingt – das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Debattenkultur, wo man über die streitlustige Breite der amerikanischen Auseinandersetzung nur staunen kann. Und wer Podhoretz’ Haltung für einen verwirrten Ausreißer aus dem „Konsens“ hält, sollte Kori Schakes Aufsatz in Policy Review (April/Mai) lesen. Die renommierte Professorin für Sicherheitspolitik in West Point erörtert darin detailliert die Vor- und Nachteile verschiedener Strategien im Umgang mit Irans Nuklearprogramm und kommt gleichfalls zu dem Schluss, dass ein militärischer Erstschlag zwar nicht empfehlenswert sei, aber auch keinesfalls ausgeschlossen werden dürfe.

Insgesamt zeigt der Blick in die amerikanischen Zeitschriften, dass die Phase der völligen intellektuellen Lähmung langsam überwunden wird. Nun, da die ersten Vorwahlkämpfe das Ende der Ära Bush einläuten und die schlechte Lage im Irak immer deutlicher hervortritt, ist die Zeit der Schadensfeststellung gekommen. Auch regen sich erste Ansätze zu einer Neukonzeption amerikanischer Außenpolitik nach Irak, aber sie bleiben holzschnittartig und unbefriedigend – es gibt entgegen der Darstellungen Freedlands und Linds weder einen tragfähigen Konsens in der Fehleranalyse, noch eine eindeutige Abkehr von der klassischen Hegemonialrolle.

Zudem fehlen die politischen Köpfe, neue Empfehlungen und Ideen durchzusetzen. Von Bush und Cheney ist keine Umkehr zu erwarten, und Condoleezza Rice, verzettelt in Nahost, ist politisch irrelevant, wie David Samuels in einem großen Porträt in der Juni-Ausgabe des Atlantic Monthly feststellt. Der außenpolitisch versierteste Kandidat der Republikaner, John McCain, hat das Kunststück vollbracht, sich noch radikaler als Bush und damit im politischen Abseits zu positionieren. Hillary Clinton wiederum muss seit einem Beitrag in der New Republic (4. Juni) ein noch schrecklicheres Gespenst der Vergangenheit bewältigen als Whitewater, Monica oder ihr Votum für den Irak-Krieg: Der liberale Journalist Jonathan Cohn hat ihren 1994 grandios gescheiterten Plan zur Gesundheitsreform gelobt.

PATRICK KELLER, geb. 1978, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und am Nordamerikastudienprogramm der Universität Bonn. Jüngst hat er seine Dissertation zu „Neokonservatismus und amerikanische Außenpolitik“ abgeschlossen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 182 - 190.

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