Buchkritik

01. Sep 2020

Haus ohne Hoffnung

Jemen, Ägypten, Türkei: In der islamischen Welt reiht sich eine Krise an die andere, ohne Aussicht auf Besserung.

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Um viele Länder der islamischen Welt ist es derzeit nicht gut bestellt. Allein in der arabischen Welt ist die Liste der Krisen in den vergangenen Jahren immer länger geworden. Die nicht enden wollenden Bürgerkriege in Libyen, im Jemen und in Syrien. Der unerbittliche Konflikt zwischen den Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien.

Der von der Herrschaft der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gebeuelte Irak. Oder das von einer autoritären Militärherrschaft regierte Ägypten. Die Türkei, Pakistan, Afghanistan – die Liste lässt sich jenseits der arabischen Welt fortsetzen.



Der niederländische Soziologe Ruud Koopmans findet also genug Beispiele, um seine Analyse über den Zustand der islamischen Welt „Das verfallene Haus des Islam“ zu nennen. Darin will er aufschlüsseln, warum „eine Zivilisation, die in den ersten Jahrhunderten ihrer Existenz so fortschrittlich gewesen sei, so weit zurückgefallen“ ist. Exemplarisch führt er dafür die Zahl der Demokratien an, die in den vergangenen 50 Jahren in der islamischen Welt – anders als etwa in Europa, Mittel- und Südamerika oder in Ostasien – weiter zurückgegangen sei.



Koopmans Thesen ähneln dem, was die sogenannten Islamkritiker immer wieder vorbringen. Zu den Krisensymptomen zählen nicht nur die vielen Kriege und die geringe Zahl an Demokratien, sondern auch der islamische Extremismus, die Missachtung der Rechte von religiösen Minderheiten und Frauen sowie die Diskriminierung von Homosexuellen. Auch der Wohlstand der islamischen Welt sei im Vergleich zu anderen Teilen der Welt in den vergangenen fünf Jahrzehnten dramatisch gesunken.



Ruud Koopmans distanziert sich explizit von Thilo Sarrazin und anderen populistischen Islamkritikern, und man täte ihm Unrecht, setzte man ihn einfach auf dieselbe Stufe. Zum einen begründet er seine Thesen durch eine lange Reihe soziologischer Studien und Statistiken, die das Grundgerüst des Buches ausmachen. Zum anderen weist er explizit darauf hin, dass nicht der Islam in einer essenziellen und unveränderlichen Form als Ursache des Problems auszumachen ist, sondern vielmehr der „real existierende Islam“ beziehungsweise der „islamisch religiöse Fundamentalismus“.



Vieles von dem, was Koopmans vorbringt, ist nicht von der Hand zu weisen: die zahlreichen Krisen und Demokratiedefizite in der islamischen Welt, das vergleichsweise geringere Bildungsniveau, die schwache wirtschaftliche Entwicklung. Oder die Tatsache, dass muslimische Migranten oft die Konflikte ihres Heimatlands im Gepäck tragen und ihnen die Integration wegen mangelnder Sprachkenntnisse und fehlender Bildung häufig schwerer fällt als anderen. So weit, so unbestritten.



Dennoch bietet das Buch an vielen Stellen Anlass zur Kritik, etwa was Begrifflichkeiten angeht. So spricht Koopmans vom „islamischen Fundamentalismus“, obgleich in der Islamwissenschaft mittlerweile ein Konsens herrscht, dass dieser Begriff das Phänomen des Islamismus beziehungsweise des politischen Islam nur unzureichend, weil unscharf beschreibt. Schwerer wiegt jedoch, dass Koopmans so sehr von den religiösen Ursachen der Probleme eingenommen scheint, dass er dabei andere mögliche Einflusskomponenten aus dem Blick verliert oder aber kleinzureden versucht.



Wenn Koopmans etwa die Konflikte in Syrien und im Jemen als „schiitisch-sunnitische Bürgerkriege“ bezeichnet, reduziert er sie auf ihren religiösen Charakter, obwohl dieser nur teilweise eine Rolle spielt.



Ein anderes Beispiel: Mit statistischen Methoden versucht der Soziologe die These zu entkräften, der Kolonialismus habe entscheidend zur heutigen Krise der islamischen Welt beigetragen. Dazu vergleicht er die Dauer der direkten Kolonialherrschaft in verschiedenen Ländern und erkennt einen positiven Zusammenhang zwischen ihrer Dauer und dem Grad der Demokratisierung. Doch eine derartige Statistik ist nur begrenzt aussagefähig. Sie sagt weder etwas über die reale Dauer des kolonialen Einflusses noch über seine tatsächliche Qualität. So waren es in Ägypten die Briten, die das Bildungssystem schwächten. Die islamistische Muslimbruderschaft wiederum gewann einen großen Teil ihres Rückhalts aus ihrer antikolonialen Haltung.



Auch so mancher Vergleich zwischen islamischen und nichtislamischen Ländern scheint willkürlich. Ägypten und Südkorea mögen zu ähnlicher Zeit unabhängig geworden sein und Anfang der 1970er Jahren vergleichbare sozioökonomische Daten vorgewiesen haben – die Voraussetzungen und Umstände für die Entwicklung in den Jahrzehnten danach waren jedoch völlig andere. Durch Koopmans Ansatz lässt sich auch nicht erklären, warum etwa in der arabischen Welt die brutalsten Unterdrückersysteme oft von nichtreligiösen oder gar säkularen Regimen errichtet wurden. Für die rücksichtslose alawitische Herrschaft in Syrien unter Machthaber Baschar al-Assad kann kaum der „islamische Fundamentalismus“ verantwortlich gemacht werden.



Mit erhobenem Zeigefinger

Was Koopmans gar nicht bietet, was aber letztlich aufschlussreicher wäre, sind Tiefenanalysen, die alle potenziellen Komponenten mit einbeziehen. Warum etwa hat Tunesien nach den arabischen Aufständen 2011 den Übergang in die Demokratie geschafft, Ägypten aber nicht? Mit dem „islamischen Fundamentalismus“ allein lässt sich diese Frage nicht beantworten. Wenn Koopmans auch vorgibt, nicht den Islam im Allgemeinen kritisieren zu wollen, so scheint doch auf fast allen Seiten des Buches der erhobene Zeigefinger durch, mit dem ein westlicher Soziologe auf die „andere“ Religion zeigt. Dabei hatte doch die Hoffnung bestanden, dass zumindest die Wissenschaft dieses Stadium des Diskurses überwunden hat.



Nicht zu vergessen, dass die vielen Krisen in den Ländern der islamischen Welt häufig ganz unterschiedliche Ursachen haben. Das wird etwa beim Vergleich von drei Ländern deutlich, denen sich die Bücher von Luise Sammann, Peter Hessler und Bushra al-Maktari widmen: der Türkei, Ägypten und dem Jemen.



Luise Sammann gehört zu den deutschen Journalistinnen, die die Türkei am besten kennen. Über Jahre hat sie dort als freie Korrespondentin gearbeitet und das Land erkundet. In ihren Reportagen und Analysen ist sie immer wieder tief in die türkische Gesellschaft und Kultur vorgedrungen, stets mit Empathie, aber nie unkritisch.



In ihrem Buch „Großmachtträume“ geht es ihr darum, den Blick auf die Türkei zu verändern. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seinen Gegnern in den vergangenen Jahren viel Grund zur Kritik gegeben, weil er die Macht auf Kosten der Demokratie immer fester an sich gerissen hat. Dennoch kritisiert Sammann zu Recht, dass Deutschland viel zu sehr auf den türkischen Staatschef starrt und ihn für den alleinigen Verursacher allen Übels am Bosporus hält. Sammann argumentiert dagegen: „Das Problem der Türkei ist viel größer als die Person Recep Tayyip Erdoğan.“



Eindrücklich legt die Journalistin in ihrem erhellenden Gesellschaftsporträt auf fast 200 Seiten dar, warum so viele Türkinnen und Türken trotz aller Krisenerscheinungen in ihrem Land noch immer treu zu ihrem Präsidenten stehen. Erdoğan mag im Ausland noch so oft als Diktator beschimpft werden, letztlich sei er vor allem eines: gewählt. „Ein Großteil der türkischen Bevölkerung will einen Präsidenten von genau seinem Format“, schreibt Sammann. „Erdoğan-Bashing“ und „erhobener Zeigefinger“ seien jedoch zwecklos.



Die Autorin verweist dabei nicht nur auf die wirtschaftlichen Erfolge der AKP, sondern auch auf die Zeit vor Erdoğan, als der von einer kleinen säkularen und westlich orientierten Elite regierte Staat einem Selbstbedienungsladen glich. In Erdoğan sieht Sammann zwar einen religiös denkenden Menschen, vor allem aber einen Pragmatiker und Machtpolitiker, der die Religion für seine Zwecke einsetzt. Der Opposition wirft sie Versagen vor. Geradezu unsinnig sei die Vorstellung, dass jeder Erdoğan-Gegner oder gar jeder säkulare, westlich orientierte Türke automatisch ein Demokrat sei. So erklärt sich Erdoğans Stärke letztlich auch aus der Schwäche der Opposition.



Sammann macht schließlich in der türkischen Gesellschaft eine „große Sehnsucht nach einem starken Anführer“ und eine „tief verwurzelte Führerliebe“ aus. Diese erklärt sie unter anderem mit fehlender Demokratieerfahrung. Allerdings fällt dabei ihr Blick in die türkische und osmanische Geschichte zu knapp aus, um dieses Phänomen ausreichend zu erklären. Ihre ernüchternde Schlussfolgerung: Selbst, wenn Erdoğan irgendwann nicht mehr das Land regiert, bestehe nur wenig Hoffnung, dass sich eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger viel demokratischer verhalte.



Ein zerrissenes Land

Zwischen der Türkei und Ägypten lassen sich Parallelen nicht verhehlen. Vor einigen Jahren war die Hoffnung in beiden Ländern groß, dass die Zukunft demokratischer und freier sein könnte. In der Türkei Erdoğans sahen nicht zuletzt Ägypter ein Vorbild für ihr eigenes Land.



Ägypten wird heute autokratischer regiert als zu den schlimmsten Zeiten von Langzeitherrscher Hosni Mubarak. Präsident Abdel Fattah al-Sisi und im Hintergrund – fast unsichtbar – das Militär machen keine Anstalten, dem Land wieder mehr Freiheiten zu geben.



Der amerikanische Journalist Peter Hessler kam 2011 als Korrespondent des New Yorker nach Ägypten und erkundete das Land über mehrere Jahre wie auf einer Entdeckungsreise. Dabei schildert er die ägyptische Gesellschaft in „Die Stimmen vom Nil“ auf mehr als 500 Seiten vor allem über Personen, mit denen er über Jahre eng verbunden war: den Müllmann Sayyid, der aus den Armenvierteln Kairos stammt, im vergleichsweise wohlhabenden Stadtteil Zamalek aber täglich die Abfälle einsammelt; den homosexuellen Manu, der für Hessler lange als Übersetzer arbeitete; oder den Arabischlehrer Rifaat, der in seinen selbst geschriebenen Lektionen allerlei Eigenheiten der Ägypter behandelt. Hessler bietet eine ganz eigene Art der soziologischen Studie.



In seinen Protagonisten spiegelt sich die ganze Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit des Landes wider. So ist sein Buch ein gelungenes Gesellschaftsporträt geworden, wohingegen die politische Analyse an der Oberfläche bleibt.



Besonders originell ist Hesslers Blick auf Ägypten aus der Perspektive des früheren China-Korrespondenten, der am Nil zahlreiche Chinesen trifft. Ein chinesischer Unternehmer beklagt Hessler gegenüber die mangelnde Teilhabe ägyptischer Frauen am Arbeitsmarkt – ein Punkt, den auch Ruud Koopmans in seinem Buch bemängelt und zu Recht als eine Ursache für die schwächere wirtschaftliche Entwicklung islamischer Länder ausmacht.



Dokument des Schreckens

Während Peter Hessler immer wieder auch heitere Szenen aus seinem Alltag erzählt, ist das Buch der jemenitischen Journalistin Bushra al-Maktari über den Bürgerkrieg in ihrem Land ein Dokument des Schreckens. Al-Maktari lässt in „Was hat Du hinter Dir gelassen?“ die Opfer zu Wort kommen, die sie über Jahre immer wieder besucht hat. Es sind Menschen, die durch Bomben und Granaten Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn verloren haben und seitdem tief traumatisiert sind.



Das Buch gibt den Opfern eine Stimme und ist schon allein deswegen wichtig, weil der Jemen-Konflikt immer im Schatten der anderen Krisen der Region steht und allzu oft in Vergessenheit gerät. Die Augenzeugenberichte sind düster, manchmal gar kaum zu ertragen. Da ist die Mutter, die ihre bei einer Bombardierung getötete Tochter auf der Straße zwischen Blut und Chips neben anderen Kindern findet, alle ohne Köpfe. Oder der Fischer, der vor der Küste auf einem Fischerboot von einem saudischen Apache-Hubschrauber beschossen wird und vier Freunde verliert. Noch heute plagt ihn die Frage: Warum wurden sie getötet?



Aus solchen Worten sprechen die Willkür und die Unbarmherzigkeit dieses Konflikts. Daran beteiligen sich alle Konfliktparteien: die Huthi-Rebellen genauso wie die Anhänger der international anerkannten Regierung, die von Saudi-Arabien unterstützt wird. Den Preis dafür bezahlten die „kleinen Leute“, schreibt Bushra al-Maktari: „Dies ist ein sinnloser Krieg, und wir sind mittendrin.“

Ruud Koopmans: Das verfallene Haus des Islam. München: C.H. Beck 2020. 288 Seiten, 22 Euro

Luise Sammann: Großmachtträume.Ditzingen: Reclam Verlag 2020. 189 Seiten, 16 Euro

Peter Hessler: Die Stimmen vom Nil.München: Carl Hanser Verlag 2020. 543 Seiten, 26 Euro

Bushra al-Maktari: Was hast Du hinter Dir gelassen? Stimmen aus dem vergessenen Krieg im Jemen. Berlin: Econ Verlag 2020. 320 Seiten, 22,99 Euro

 

Jan Kuhlmann ist Regionalbüroleiter der dpa für die Arabische Welt und Israel mit Sitz in Beirut.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 120-123

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