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01. Febr. 2003

Grenzen der Erweiterung

Die Türkei ist kein Teil des „Projekts Europa“

In einem ersten „Debatten“-Beitrag zum EU-Beitritt der Türkei (der zweite folgt in Internationale Politik, 3/2003) begründet der Berliner Historiker seine Überzeugung, dass die Türkei aus gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und mentalen Gründen nicht Vollmitglied in einer politischen Union werden kann. Europa, so der Autor, endet dort, wo es die Voraussetzungen für ein „Wir-Gefühl“ bzw. eine europäische Identität nicht gibt.

Politiker und Journalisten sind im Umgang mit dem Begriff „historisch“, wenn es um Ereignisse der unmittelbaren Gegenwart geht, meist großzügiger als Historiker. Doch es gibt Ereignisse, bei denen sich dieser Begriff förmlich aufdrängt. Den Gipfel der Europäischen Union vom 12. und 13. Dezember 2002 in Kopenhagen darf man getrost „historisch“ nennen. Die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten, von denen acht bis zur Epochenwende von 1989/91 kommunistisch regiert worden waren, zieht einen Schlussstrich unter ein Kapitel der europäischen Geschichte, das mit der Aufteilung des Kontinents in eine westliche und eine sowjetische Interessensphäre auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 begonnen hatte.

Im Bewusstsein der Europäer werden die viereinhalb Jahrzehnte des Ost-West-Konflikts noch lange nachwirken. Bis vor kurzem meinten Westeuropäer, wenn sie von Europa sprachen, meistens Westeuropa. Doch nicht nur der Begriff „Europa“ hatte sich im Zeichen des Kalten Krieges räumlich verengt, sondern auch der des „Westens“. Der Westen: das waren in der zweiten Nachweltkriegszeit des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen die Staaten, die sich zum Nordatlantischen Bündnis zusammengeschlossen hatten. Erst allmählich trat nach dem Untergang des Sowjetimperiums wieder ins kollektive Bewusstsein der Westeuropäer, dass Europa und der Westen viel weiter nach Osten reichten, als viele von ihnen vier Jahrzehnte lang gemeint hatten.

„Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber: Europa geht auch über den Westen hinaus“, schreibt der Wiener Historiker Gerald Stourzh.1 Geographisch reicht Europa, der Schulbuchformel entsprechend, vom Atlantik bis zum Ural. Zum historischen Okzident aber gehört nur ein Teil Europas: jener, für den zwischen der Kirchenspaltung im 11. Jahrhundert und der Reformation Rom das geistliche Zentrum war, nicht aber der byzantinisch geprägte Osten des Kontinents. Im Zeitalter der Entdeckungen und kolonialen Eroberungen weitete sich der Okzident nach Übersee aus. Gemeinhin rechnet man zum Westen außer Europa die ganz von europäischen Siedlern geprägten Teile der Neuen Welt: in Nordamerika die Vereinigten Staaten und Kanada, in Südamerika mitunter die drei südlichsten Staaten Uruguay, Argentinien und Chile, außerdem Australien und Neuseeland, die beide noch eindeutiger als die Vereinigten Staaten und Kanada der englischsprechenden Welt zuzurechnen sind.

Der historische Okzident ist eine so einzigartige Erscheinung, dass man von einem weltgeschichtlichen Sonderweg des Westens sprechen kann. Nur hier haben sich die Ideen der Menschen- und Bürgerrechte, der individuellen Freiheit, des Pluralismus und der Demokratie herausgebildet; nur hier hat es jenen von Max Weber analysierten umfassenden Prozess der Rationalisierung gegeben, zu dessen Hervorbringungen das Kirchenrecht und die Rezeption des römischen Rechts, die Scholastik und der Humanismus, die moderne Wissenschaft und der moderne Kapitalismus, die Aufklärung, die Säkularisierung und die Emanzipation in jeglicher Gestalt gehören – die Emanzipation des Individuums von kirchlicher und staatlicher Bevormundung, die Emanzipation der Juden und die der Sklaven, die Emanzipation des „dritten“ und des „vierten Standes“ und, nicht zuletzt, die Emanzipation der Frauen.2 Der Prozess der Rationalisierung war immer auch ein Prozess der Differenzierung: der Trennung von gesellschaftlichen Sphären, die zu einem Zugewinn an Autonomie und damit an Freiheit für jede von ihnen führte. Die Urdifferenzierung, die allen anderen Differenzierungen vorausging und sie erst ermöglichte, war die zwischen Gott und Kaiser: „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22,21).

Es heißt kein Werturteil fällen, sondern eine Tatsache feststellen, wenn man darauf hinweist, dass der (von den Christen immer wieder missachtete) Gedanke der Gleichheit aller Menschen vor Gott christlichen Ursprungs ist. Es sollten aber fast 18 Jahrhunderte vergehen, bis aus dieser revolutionären Botschaft ein politischer, rein weltlicher Kampfruf wurde, der sich gegen alle überkommenen Privilegien und damit auch gegen die der Kirche richtete. Entfalten konnte sich das freiheitliche Potenzial des Christentums aber nur dort, wo der Trennung der moralischen Sphären von Gott und Kaiser auch die Trennung der Herrschaftssphären von „sacerdotium“ und „imperium“ beziehungsweise „regnum“, also von Papst und Kaiser oder König, von geistlicher und weltlicher Gewalt, folgte. Dies geschah nur im westlichen, von Rom geprägten Teil Europas, nicht aber im byzantinisch geprägten Osten, wo der Herrscher, in Russland der Zar, auch Oberherr der Kirche, also weltlicher und geistlicher Herrscher in einem war.

Der Gegensatz zwischen Rom und Byzanz wirkt bis heute nach. Die Teilung von geistlicher und weltlicher Gewalt im hohen Mittelalter war die historisch früheste Form der Gewaltenteilung und des politischen Pluralismus. Es ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer einzigartigen Sonderentwicklung des Okzidents, dass sich hier, und nur hier, Pluralismus und Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Demokratie herausgebildet haben. Neben gemeinsamen kulturellen Prägungen, man denke an die großen Stilepochen der Kunst-, Bau- und Musikgeschichte, gibt es also auch gemeinsame politische Prägungen. Nur der Westen hat jene Emanzipationskämpfe erlebt, aus denen Reformation und Aufklärung, Liberalismus und Demokratie hervorgegangen sind. Der Weg dorthin war alles andere als gradlinig, und manche Länder, darunter auch Deutschland, haben erst nach und durch Katastrophen gelernt, die Demokratie als Staats- und Lebensform zu akzeptieren. Dennoch spricht alles für die These, dass die Demokratie in Ländern, die teilhatten an der mittelalterlichen Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, bessere Entwicklungschancen hat als in Ländern, denen diese Erfahrung fehlt.

„Projekt Europa“

Als 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, bestand sie aus sechs Staaten, die alle zum historischen Okzident gehörten: Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg. Dasselbe gilt für die Staaten, die bisher der Europäischen Gemeinschaft beigetreten sind – mit einer einzigen Ausnahme: Griechenland, das 1981 Mitglied der EG wurde, ist ein Teil des byzantinisch geprägten Europas. Die ehedem kommunistisch regierten Staaten Ost-, Mittel- und Südosteuropas, die auf Grund der Beschlüsse des Kopenhagener Gipfels vom Dezember 2002 im Jahre 2004 in die Europäische Union aufgenommen werden können, gehören zum historischen Okzident: die drei baltischen Republiken ebenso wie Polen, die Tschechische Republik, Ungarn, die Slowakei und Slowenien. Zwei bis 1989 kommunistisch regierte Staaten, die die EU frühestens im Jahr 2007 aufzunehmen beabsichtigt, sind durch die byzantinische Tradition geprägt: Bulgarien und Rumänien.

Beide Länder sind im Hinblick auf den Entwicklungsgrad von Zivilgesellschaft und Volkswirtschaft sehr viel weniger „beitrittsreif“ als die Staaten der vorhergehenden Erweiterungsrunde. Trotz der Demokratisierung des politischen Systems und, demnächst, der Mitgliedschaft in der NATO haben Bulgarien und Rumänien noch ein erhebliches Maß an Verwestlichung zu leisten, ehe sie Mitglied der EU werden können. Noch länger wird die Wegstrecke für Serbien und Montenegro sein. Das katholische Kroatien gehört zum historischen Okzident, ist aber in seiner jüngeren Entwicklung durch den Krieg mit Serbien und das halbautoritäre Tudjman-Regime um Jahre zurückgeworfen worden. Langfristig haben alle südosteuropäischen Demokratien, auch die islamisch geprägten, eine Beitrittsperspektive – die einen früher, die anderen später.3

Ungleich schwieriger stellt sich die Lage in Osteuropa dar. Polen kann nicht wünschen, dass seine Ostgrenze auf längere Sicht die Ostgrenze der EU bleibt; es drängt daher auf eine Beitrittsperspektive für die Ukraine. Solche Bestrebungen gibt es auch in Teilen der ukrainischen Elite. Doch auf dem Weg zu einer westlichen Demokratie ist die Ukraine viel weniger weit vorangekommen als die ehedem kommunistischen Balkan-Staaten. Geradezu katastrophal ist es um die Demokratie in Weißrussland bestellt. Die Russische Föderation, die sich unter Präsident Wladimir Putin zu einer „gelenkten Demokratie“ mit Beimengungen von Anarchie und Diktatur zu entwickeln scheint, hat bisher keine Anstalten getroffen, Mitglied der EU zu werden. Russland würde schon seiner Größe wegen, also aus geopolitischen Gründen, die Europäische Union sprengen. Eine EU, die von der Westküste Irlands bis nach Wladiwostok reicht, wäre ein gigantisches Gebilde ohne Eigenschaften: Auf gemeinsame historische Prägungen und eine gemeinsame politische Kultur könnte sich eine solche Union nicht mehr stützen. Sie wäre ein zum „Wir-Gefühl“ unfähiger Zweckverband – eine Einladung an die Nationalisten aller Länder, die Massen gegen ein solches Pseudoimperium zu mobilisieren.

Kandidat Türkei

Ein Beitritt Russlands zur EU ist ein bloßes Gedankenspiel. Der Beitritt der Türkei ist es nicht. Im September 1963 wurde ein Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei unterzeichnet. Schon damals stellte die EWG Ankara eine spätere Vollmitgliedschaft in Aussicht. Die Türkei gehört seit 1952 dem Atlantischen Bündnis an, war und ist also, militärisch gesehen, ein Land des Westens. Eine enge Verbindung mit Westeuropa lag schon deshalb im beiderseitigen Interesse. 1995 – die EWG war inzwischen zu einem qualitativ neuen Gebilde, der Europäischen Union, geworden – beschlossen die EU und die Türkei die Bildung einer Zollunion. Im Dezember 1999 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Helsinki darauf, der Türkei den Kandidatenstatus zu gewähren. Diese bis heute umstrittene Entscheidung kam ohne vorangegangene öffentliche Debatte und unter massivem amerikanischem Druck zustande. Die USA wünschen die Aufnahme des NATO-Partners Türkei in die EU vor allem aus militärstrategischen Gründen. Eine Europäische Union, die an Syrien, Irak und Iran, außerdem an Armenien und Georgien grenzt, liegt aus der Sicht Washingtons im westlichen und nicht zuletzt im eigenem Interesse: Sie würde mittelbar den Einfluss der USA auf den erdölreichen Nahen und Mittleren Osten verstärken.

Mit der Türkei würde ein Land Mitglied der EU werden, das geographisch überwiegend nicht zu Europa gehört. Die politische Kultur der Türkei unterscheidet sich noch immer sehr von der des Westens. Der Modernisierungsprozess, dem sich die Türkei seit der Präsidentschaft Kemal Atatürks (1923–1938) unterzogen hat, lief auf eine mit autoritären Mitteln durchgesetzte Teilverwestlichung hinaus.

Zwar ist die Türkei seitdem der einzige durch freie Wahlen legitimierte, rein weltliche Nationalstaat im islamischen Nahen Osten, aber bis heute beruht diese Errungenschaft auf einem hohen Maß an Zwang. Das Militär übt im politischen Entscheidungsprozess eine Vetomacht aus, die mit westlichen Vorstellungen von Demokratie unvereinbar ist. Daran dürfte sich auch nach dem Wahlsieg der gemäßigten Islamisten am 3. November 2002 nichts ändern. Trotz aller Reformen des Rechtssystems, zu denen sich die Türkei seit dem Beschluss von Helsinki, zumindest auf dem Papier, bereit gefunden hat, ist sie noch immer keine Demokratie westlicher Prägung und weit davon entfernt, eine entwickelte Zivilgesellschaft zu sein.

In allen Staaten, die der EU bis 2004 beitreten werden, gibt es, wenn auch in unterschiedlichem Maß, historische Voraussetzungen für ein europäisches „Wir-Gefühl“. Der Ausbau der Grundlagen von Demokratie und Zivilgesellschaft bedarf in manchen dieser Staaten noch großer Anstrengungen; die Gültigkeit der westlichen Werte aber stellt keiner von ihnen in Frage.

In der Türkei identifizieren sich große Teile der „verwestlichten“ Elite mit Europa oder vielmehr mit dem Bild, das sie sich von Europa machen. Westlich sind der äußere Lebensstil, das Marktverhalten, die Technik, die demokratischen Prozeduren. Von einer Verinnerlichung westlicher Werte durch die türkischen Eliten oder gar durch die türkische Gesellschaft im Ganzen wird man aber nicht sprechen können. Zu den westlichen Werten gehören die Religions- und Meinungsfreiheit. Der Religionsfreiheit steht in der Türkei noch immer ein antipluralistischer und repressiver, mit Zwangsmitteln aufrechterhaltener Staatslaizismus entgegen. Die politische Meinungsfreiheit endet spätestens dort, wo nationale Tabus verletzt werden. Solche Tabus sind die Doktrin von der einheitlichen türkischen Nation und Sprache, die (trotz einiger Reformen in neuester Zeit) anhaltende Diskriminierung der über zehn Millionen Kurden und die offizielle Leugnung des Völkermords an den Armeniern im Ersten Weltkrieg.

Wirtschaftlich und sozial gesehen ist die Türkei in einer schwächeren Position als alle anderen Beitrittskandidaten. Sie erreicht gerade einmal 22% des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der Europäischen Union und bleibt damit noch weit hinter dem ärmsten der zehn Staaten zurück, die 2004 in die EU aufgenommen werden sollen: Lettland erreicht 33%. Der Anteil der Landwirtschaft an der Bruttowertschöpfung liegt in der Türkei bei 12,1%, im EU-Durchschnitt bei 2,1%. Die Inflationsrate lag im Jahr 2001 in der EU bei 2,3%, in der Türkei bei 57,6%. Das Haushaltsdefizit belief sich im gleichen Jahr in der EU auf 0,8%, in der Türkei auf 28,7%.4

Wegen des hohen Geburtenüberschusses würde die Türkei in etwa 15 Jahren mit 80 Millionen Einwohnern zum bevölkerungsreichsten Mitgliedsland der EU aufsteigen und Deutschland auf den zweiten Platz verweisen. „Die Kombination aus demographischer Stärke und ökonomischer Schwäche macht die Brisanz des Beitrittsgesuches aus: die Türkei wäre auf Anhieb größter Nettoempfänger der EU“, stellte Nikolaus Piper am 30.November 2002 in der Süddeutschen Zeitung fest. Die aus Brüssel gemeldeten Zahlen – jährliche Zahlungen in Höhe von 20 Milliarden Euro an die Türkei, wovon fünf Milliarden auf Deutschland entfallen würden – mögen bloße Schätzungen sein. Experten halten diese Zahlen für realistisch.5

Als Mitglied der EU wird die Türkei früher oder später in den Genuss der Freizügigkeit kommen. Auch wenn lange Übergangsfristen vereinbart werden, ist mit einer wachsenden Migration in Richtung EU und namentlich Deutschland zu rechnen. Die jetzt schon beträchtlichen Probleme bei der Integration der in Deutschland lebenden Türken würden sich verschärfen. Die Wanderungsströme aus der Türkei würden nicht zu einer „multikulturellen Gesellschaft“, sondern zur Herausbildung einer Monosubkultur führen – eine Entwicklung von großer sozialer, kultureller und politischer Brisanz für alle davon betroffenen Länder der Europäischen Union.

Europas Identität

Die Frage eines türkischen Beitritts zur EU berührt die Identität dieser Gemeinschaft wie kein anderer Aufnahmeantrag.6 Die Probleme der unterschiedlichen politischen Kulturen und des sozialökonomischen Gefälles sind eng verknüpft mit einem weiteren Problem: der Gefahr des „imperial overstretch“, der räumlichen Überdehnung auf Kosten des inneren Zusammenhalts. Der Historiker Paul Kennedy, von dem der Begriff des „imperial overstretch“ stammt, sieht in einer solchen Überdehnung die tiefere Ursache des Niedergangs aller großen Mächte.7 Eine EU, die an Syrien, Irak und Iran grenzt, hätte als Freihandelszone noch eine Zukunft, aber nicht als politische Union.

Angesichts einer derartigen Gefahr bedarf Europa einer Grundsatzdebatte – einer Debatte über die Grenzen der Erweiterbarkeit der Europäischen Union, über ihre Identität und ihre Zukunft. Historische Prägungen sind nicht auswechselbar. Identitäten lassen sich nicht verordnen. Wer die europäische Einigung vertiefen will, darf keine Erweiterung ohne Rücksicht auf die Geschichte und die Zukunft Europas betreiben. Eine solche Erweiterung wäre eine Ausdehnung ohne Maß und Ziel. Eine maßlos erweiterte EU könnte an kein europäisches „Wir-Gefühl“ mehr appellieren. Ein Europa, das kein Bewusstsein seiner Identität hat, würde eine Renaissance der Nationalismen erleben. Der Nationalismus befriedigt Identitätsbedürfnisse. Aber er würde es auf eine rückwärts gewandte Weise tun, die für Europa verheerend wäre.

Das Problem des türkischen Beitritts ist die Nagelprobe für die Zukunft des Projekts Europa. Die „türkische Frage“ erzwingt eine längst überfällige Debatte über die „europäische Frage“: die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Finalität des Einigungsprozesses, den Außengrenzen und der Identität der Europäischen Union. Über die Finalität wird diskutiert, über Außengrenzen und Identität hingegen kaum.

Seit dem Gipfel von Kopenhagen aber kann die EU dieser Debatte nicht mehr ausweichen. Durch die Aufnahme von Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, von Slowenien, Ungarn, Malta und Zypern ändert sich das Gesicht der Europäischen Union; es kann europäischer sein, als es je war. Freilich wird dies nur dann so sein, wenn einige der neuen Mitgliedstaaten sich bewusst machen, dass es nicht ausreicht, sich zum „Westen“ zu bekennen und darunter in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika zu meinen. Das Europa der EU ist Teil des Westens – aber ein Teil mit eigenen Traditionen und Interessen, die sich nicht überall und nicht immer mit den Traditionen und Interessen der USA decken.

Auf der anderen Seite ist der Türkei in Form eines „Wenn-dann“-Beschlusses erstmals indirekt ein Termin für den eventuellen Beginn für Beitrittsverhandlungen genannt worden – freilich ein sehr viel späterer, als die Türkei selbst und die USA ihn gefordert hatten. Wenn die EU auf Grund eines Berichts der Kommission im Dezember 2004, nach dem Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten, feststellt, dass alle Kriterien erfüllt sind, die bei sämtlichen Beitrittsverhandlungen zugrunde gelegt werden, können Beitrittsverhandlungen mit der Türkei „unverzüglich“ aufgenommen werden. Diese könnten also frühestens im Jahre 2005 beginnen. Als das früheste vorstellbare Beitrittsdatum wird inoffiziell das Jahr 2013 genannt.

Hindernisse und Irrwege

Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und mentalen Hindernisse, die einer türkischen Mitgliedschaft in der EU entgegenstehen, sind so massiv, dass sich dieser Zeitplan als illusorisch erweisen dürfte. Wenn für die Türkei dieselben Standards gelten sollen wie für andere Beitrittskandidaten, werden die Verhandlungen nicht Jahre, sondern Jahrzehnte dauern. Die voraussehbare Folge wäre wachsende Frustration auf beiden Seiten. Die unvermeidbaren Einschränkungen der Freizügigkeit nach vollzogenem Beitritt würden von der Türkei vermutlich als demütigend empfunden werden. Eine türkische Mitgliedschaft in der EU unter diskriminierenden Bedingungen: mit diesem Zustand könnten auf längere Sicht weder die Türkei noch Europa leben. Ein solches Verhandlungsergebnis würde nicht der vielzitierten „Heranführung“ der Türkei an Europa dienen. Die Vollmitgliedschaft der Türkei mit der Folge unbegrenzter Freizügigkeit aber würde zu innenpolitischen Verwerfungen führen, die die Mitgliedstaaten der EU und die EU als Ganze in ihren Grundfesten erschüttern müssten.

Doch soweit muss es nicht kommen. Die EU kann noch immer den Irrweg verlassen, den sie im Dezember 1999 eingeschlagen hat, als sie der Türkei den Kandidatenstatus verlieh. Sie hat sich nicht verpflichtet, auf dem Gipfel im Dezember 2004 großzügig über vorhandene Defizite an Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Pluralismus in der Türkei hinwegzusehen und den Beginn von Beitrittsverhandlungen im Jahre 2005 zu beschließen. Sie kann auch feststellen, dass die Voraussetzungen für solche Verhandlungen nicht gegeben sind. Anstatt das Thema anschließend erneut zu vertagen, kann die EU Ankara eine privilegierte Partnerschaft, eine „Assoziation plus“, eine vertraglich vereinbarte enge Zusammenarbeit auf allen Gebieten vorschlagen, auf denen es gemeinsame Interessen gibt, zum Beispiel auf dem Gebiet der Verteidigung. Eine solche Verbindung würde keine von beiden Seiten überfordern – weder politisch noch kulturell oder emotional. Eine „Assoziation plus“ wäre besser als eine „Mitgliedschaft minus“; eine privilegierte Partnerschaft für die Türkei wie für Europa befriedigender als ein Beitritt unter diskriminierenden Bedingungen.

Das Zusammenwachsen Europas nach dem Ende des Kalten Krieges ist für diesen Erdteil eine politische Überlebensfrage. Es wäre fatal, wenn dieses Projekt bloß technokratisch, voluntaristisch oder pragmatisch, ohne Rücksicht auf seine geschichtlichen Grundlagen, betrieben würde. Die Erinnerung an gemeinsame Prägungen und Erfahrungen kann das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit von West- und Osteuropäern stärken. Es muss gestärkt werden, weil sich anders der emotionale Rückhalt für den schwierigen Vereinigungsprozess bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht herausbilden kann. Ohne einen solchen Rückhalt würde dem Projekt Europa eine unabdingbare immaterielle Ressource fehlen: der „Legitimitätsglaube“ im Sinne Max Webers.8

Eine Freihandelszone oder ein loser Staatenbund können auf ein solches Bindemittel verzichten. Europa als politische Union kann es nicht. Es braucht eine Idee von sich selbst. Es muss sich auf ein „Wir-Gefühl“ stützen können – auf ein Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit und zukünftiger gemeinsamer Herausforderungen und Verantwortung. Europa endet dort, wo es die Voraussetzungen für ein solches „Wir-Gefühl“ nicht gibt. Wenn die europäische Einigungspolitik dieser Maxime folgt, hat sie einen sicheren Kompass.

Anmerkungen

1  Vgl. Gerald Stourzh, Statt eines Vorworts: Europa, aber wo liegt es?, in: ders. (Hrsg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung. Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Historische Kommission, Wien 2002, S. XI.

2  Max Weber, Vorbemerkungen zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, 3 Bde., Bd. 1, Tübingen 19889, S. 1–16.

3  Zur Nachwirkung des Gegensatzes von Rom und Byzanz auf dem Balkan vgl. Holm Sundhaussen, Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas, in: Geschichte und Gesellschaft, 25. Jg. 1999, S.626–653.

4  Vgl. die Zahlen nach: Beitritt der Türkei würde die EU 20 Milliarden Euro im Jahr kosten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.11.2002; Wo endet Europa?, in: Der Spiegel, Nr. 50, 9.12.2002.

5  Nikolaus Piper, Die Ökonomie des Beitritts, in: Süddeutsche Zeitung, 30.11./1.12.2002.

6  Zum Begriff des „imperial overstretch“ vgl. Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1989, S. 515.

7  Vgl. auch die kontroversen Standpunkte zum EU-Beitritt der Türkei:Udo Steinbach, Pro: Sicherheitspolitischer Stabilitätsfaktor, in: Internationale Politik, 3/2000, S. 55 ff., und Peter Scholl-Latour, Contra:Nicht im Interesse der Türkei, ebenda, S. 59 ff., sowie die dort abgedruckten Daten zur Türkei.

8  Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 1. Halbband, Köln 1964, S.22ff.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2003, S. 59 - 66

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