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01. Sep 2011

Politik ohne Projekt

Gedanken über Deutschland, Libyen und Europa

Der EU ist das Projekt abhanden gekommen, an dem sie sich orientieren kann – und Deutschland jede Vorstellung von dem, was aus Europa werden soll. Dabei gilt: Die Zugehörigkeit zum Westen ist außen- und innenpolitischer Imperativ für Deutschland. Und das bedeutet, Europa von der Währungsunion in eine Politische Union zu steuern.

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“: So lautet der vielzitierte erste Satz der „Politischen Theologie“ des ebenso berühmten wie berüchtigten Staatsrechtlers Carl Schmitt aus dem Jahr 1922.1 Am 3. Oktober 1990 endete der historische Ausnahmezustand, in dem Deutschland nicht souverän gewesen war. Zwei Tage zuvor hatten die Vereinigten Staaten von Amerika, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich die Wirksamkeit ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes ausgesetzt (definitiv endeten die Vorbehaltsrechte erst mit dem Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrags am 15. März 1991). Die Wiedervereinigung machte Deutschland zu dem, was weder die Bundesrepublik noch die DDR gewesen war: zu einem Nationalstaat, nicht weniger souverän als seine Nachbarn.

Es wäre eine Übertreibung zu behaupten, dass die Deutschen der Wiedergewinnung der Souveränität und der Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaats vier Jahrzehnte lang entgegengefiebert hätten. Unter den Intellektuellen der Bonner Republik hatte ein Begriff des Politikwissenschaftlers und Zeithistorikers Karl Dietrich Bracher aus dem Jahr 1976 Karriere gemacht: Viele von ihnen sahen in der Bundesrepublik eine „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten.“2  Mit der Wiedervereinigung endete diese Besonderheit der alten Bundesrepublik. Ein klassischer souveräner Nationalstaat aber ist das vereinte Deutschland auch nicht. Es ist ein postklassischer Nationalstaat wie die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union: bereit, bestimmte Hoheitsrechte gemeinsam mit anderen auszuüben oder auf supranationale Einrichtungen zu übertragen.

„Kultur der Zurückhaltung“ – ohne moralisch überhöhten Absentismus

Der Zugewinn an Souveränität hatte Konsequenzen, mit denen die Deutschen schon kurz nach der Wiedervereinigung konfrontiert wurden. Als im Januar 1991 der zweite Golf-Krieg ausbrach, erwarteten die Partner im Atlantischen Bündnis, obenan die Amerikaner, von Deutschland eine aktive Beteiligung. Da die größer gewordene Bundesrepublik militärisch darauf in keiner Weise vorbereitet war, verblieb der Regierung Kohl/Genscher nur der viel bespöttelte Ausweg der „Scheckbuchdiplomatie“: die großzügige finanzielle Unterstützung der Verbündeten und des bedrohten Israel. Im Zuge der jugoslawischen Erbfolgekriege beteiligte sich die Bundeswehr 1993 erstmals an einem „Out-of-area“-Einsatz der NATO in Gestalt der Überwachung des von den Vereinten Nationen verhängten Flugverbots über Bosnien-Herzegowina. Das Bundesverfassungsgericht, angerufen von SPD und FDP, gab grünes Licht und ergänzte in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 faktisch das Grundgesetz: Die Bundesregierung musste fortan für „Out-of-area“-Einsätze (in der Regel vorab, im Ausnahmefall nachträglich) die „konstitutive Zustimmung“ des Bundestags einholen.

Der Krieg gegen Saddam Hussein hatte 1991 in Deutschland eine pazifistische Protestwelle unter dem Motto „Kein Blut für Öl“ ausgelöst. Als es am 26. Juni 1995 im Bundestag um einen Beitrag der Bundeswehr zum Schutz und zur Unterstützung der „Schnellen Eingreiftruppe“ der NATO in Bosnien-Herzegowina ging, spaltete sich die parlamentarische Linke. 45 Sozialdemokraten und vier Grüne stimmten dem entsprechenden Antrag der Bundesregierung zu – und damit gegen die Mehrheit ihrer Fraktionen. Für den damaligen Bundesgeschäftsführer der SPD Günter Verheugen war das Ausscheren der Minderheit ein Sakrileg. Im Augustheft des sozialdemokratischen Mitgliedermagazins Vorwärts bekannte sich Verheugen zu einer „prinzipiell gewaltfreien Außenpolitik“ und begründete dieses Plädoyer historisch. Deutschland könne auch nach der großen Wende in Europa „nicht in dem Sinne ein normales Land werden (…), wie andere ohne eine so anomale Geschichte es sind. Wer es immer noch nicht glaubt, sollte sich einmal fragen, was das erst jüngst eröffnete Washingtoner Holocaust-Museum bedeutet.“3

Drei Jahre später, am 16. Oktober 1998, inzwischen hatten SPD und Grüne die Bundestagswahlen gewonnen und standen kurz vor der Bildung der Regierung Schröder/Fischer, sprach sich eine große Mehrheit des Bundestags für einen Einsatz der Bundeswehr im Kosovo aus. In der Begründung spielte Auschwitz abermals eine große Rolle, aber jetzt als Argument für einen Einsatz, der einen Völkermord an den Kosovo-Albanern verhindern sollte. Die Berufung auf das Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten mochte mitunter auch dazu dienen, verbliebenen Zweifeln entgegenzuwirken, ob eine Befriedung der umkämpften Region mit militärischen Mitteln möglich sein würde. Aber anders als 1995 war 1998/99 auch die gemäßigte Linke nahezu geschlossen bereit, die Konsequenzen mitzutragen, die sich aus dem Souveränitätszuwachs von 1990 ergaben. Deutschland handelte wie alle Demokratien des Westens. Es blieb kleinen Minderheiten überlassen, unter Hinweis auf die deutsche Vergangenheit auf einer deutschen Sonderrolle zu beharren.

Die Beteiligung der Bundesrepublik am Antiterrorkrieg in Afghanistan seit Dezember 2001 lag auf der Linie, die Rot-Grün im Herbst 1998 eingeschlagen hatte; die Weigerung, 2003 am Irak-Krieg teilzunehmen, widersprach ihr nicht. Der zweite amerikanische Krieg gegen Saddam Hussein war, anders als der Kosovo-Krieg, keine humanitäre Intervention, und anders als beim Afghanistan-Krieg konnten sich die Vereinigten Staaten dabei nicht auf ein Mandat der Vereinten Nationen stützen. Zudem stand die Bundesrepublik bei ihrem „Nein“ zum Irak-Krieg nicht allein: Ihr wichtigster europäischer Verbündeter, Frankreich, bezog dieselbe Position.

Im Fall des Libyen-Einsatzes war die Lage eine völlig andere. Als sich die Bundesrepublik am 17. März 2011 im Sicherheitsrat bei der Abstimmung über die Resolution 1973 der Stimme enthielt, stellte sie sich gegen drei ihrer engsten Verbündeten, die USA, Frankreich und Großbritannien. Das negative Echo im Westen war vorhersehbar: Die Bundesrepublik hatte, indem sie ebenso votierte wie Russland, China, Indien und Brasilien, einen Weg eingeschlagen, der nur als bewusste Distanzierung vom Mainstream in der NATO und der Europäischen Union zu verstehen war: Sie hatte sich selbst isoliert und marginalisiert und damit Zweifel an ihrer bündnispolitischen Verlässlichkeit hervorgerufen.

Den Verantwortlichen in Berlin erschien die Enthaltung dagegen logisch, nachdem sich die Bundeskanzlerin, der Außen- und der Verteidigungsminister zuvor darauf festgelegt hatten, dass die Bundeswehr auf keinen Fall an der Durchsetzung einer Flugverbotszone über Libyen mitwirken dürfe. An dieser Position hielt die Bundesregierung auch noch fest, als sie am 16. März erfuhr, dass US-Präsident Barack Obama seine Haltung revidiert und sich von einem Gegner zum Befürworter einer Flugverbotszone gewandelt hatte.4  Kurz vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gaben in Berlin offenbar innenpolitische Erwägungen den Ausschlag: Umfragen zufolge lehnte eine Mehrheit der Deutschen eine Beteiligung der Bundeswehr an einem Libyen-Einsatz ab. Der zu erwartende außenpolitische Schaden einer deutschen Stimmenthaltung schien weniger schwer zu wiegen als der innenpolitische Sympathieverlust, mit dem die Koalitionsparteien für den Fall eines „Ja“ und seiner zwar nicht zwangsläufigen, aber doch kaum vermeidbaren Folge, einer wie immer gearteten Teilnahme der Bundeswehr an einer Intervention in Nordafrika rechneten.

Die Bedenken gegen einen Libyen-Einsatz waren nicht rundum abwegig, die Argumente der Befürworter nicht allesamt stichhaltig. Von einem durchdachten strategischen Konzept der NATO konnte keine Rede sein, von einem gefährlichen Präzedenzfall freilich auch nicht: Anders als im Fall Syrien gab es ein Mandat des Sicherheitsrats; die Arabische Liga und die Nachbarn bejahten den Einsatz; das Gaddafi-Regime hatte keine mächtigen Verbündeten, die die NATO militärisch bedrohen konnten. Zudem war, wenn der Westen nicht unverzüglich eingriff, mit einem Fall der Rebellenhochburg Bengasi und einem anschließenden Massaker der Gaddafi-Truppen an der Zivilbevölkerung zu rechnen. Der große Zeitdruck machte die Libyen-Intervention, wie Wolfgang Ischinger urteilt, zu einem „absoluten Grenzfall“.5  Dieser Faktor rechtfertigte nicht nur den militärischen Einsatz im Sinne der „Responsibility to protect“, er ließ ihn geboten erscheinen.

Wenn nicht alle Zeichen trügen, hat die Kritik der Verbündeten in Berlin Lernprozesse ausgelöst, und das nicht nur in der schwarz-gelben Koalition, sondern auch bei den Sozialdemokraten und den Grünen, deren parlamentarische Spitzen den Kurs der Regierung in Sachen Libyen zunächst unterstützt hatten. Die Unterordnung langfristiger außenpolitischer Interessen unter kurzfristige innenpolitische Überlegungen hat dem internationalen Ansehen der Bundesrepublik geschadet. Irreparabel wäre der Schaden aber nur, wenn die Stimmenthaltung vom 17. März 2011 zum Paradigma der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik werden sollte.

Die Begrenzung und Behebung des Schadens verlangen den demokratischen Parteien einen „dialektischen“ Blick auf Meinungsumfragen ab: Diese sind kein naturwüchsiges Phänomen, sondern reflektieren oft nur den Mangel an klaren Richtungsanzeigen aus der Politik. Ein Bedarf an nachholender Argumentation ist daher unabweisbar: Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sollte es nach wie vor ein außen- und innenpolitischer Imperativ sein, Zweifel an der Zugehörigkeit Deutschlands zum Westen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die seit Außenminister Klaus Kinkel so genannte „Kultur der Zurückhaltung“ braucht nicht aufgegeben zu werden.6  Sie darf aber nicht zum Synonym einer Politik des moralisch überhöhten Absentismus werden.

Nachholen, was in den neunziger Jahren nicht erreichbar war

Ein Rückblick auf 1990 empfiehlt sich auch, wenn es um die europäische Schuldenkrise und die Krise des europäischen Einigungsprozesses geht. Im Jahr der Wiedervereinigung wurden die Weichen gestellt. Die deutsche Position war bis dahin gewesen, eine europäische Währungsunion zusammen mit einer Politischen Union Wirklichkeit werden zu lassen, die monetäre Einheit also in einen verlässlichen Rahmen zu stellen und sie zu einem Unterpfand weiterer Integration zu machen. Als die Wiederherstellung der deutschen Einheit unerwartet wieder auf die Tagesordnung der internationalen Politik kam, drängte der französische Staatspräsident François Mitterrand darauf, zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Deutsche Mark in einer gemeinsamen europäischen Währung aufgehen zu lassen. Er wollte auf diese Weise eine wirtschaftliche, finanzielle und damit auch politische Hegemonie des vereinten Deutschland in Europa verhindern. An einer supranationalen Politischen Union, wie die Bundesregierung sie anstrebte, lag ihm weniger. Für die britische Premierministerin Margaret Thatcher war dieses Projekt geradezu ein Alptraum.

Bundeskanzler Helmut Kohl wollte die deutsche Einheit nicht mit einem deutsch-französischen Zerwürfnis und einer schweren Krise der Europäischen Gemeinschaft befrachten und gab nach. Auf dem Dubliner Sondergipfel von Ende April 1990 wurden die Währungs- und Wirtschaftsunion auf der einen und die Politische Union auf der anderen Seite faktisch entkoppelt. Der Mainzer Historiker Andreas Rödder hat Recht mit seiner These, „dass die Kohl-Zustimmung zum entscheidenden Schritt hin zu einer Währungsunion eine deutsche Konzession an Frankreich während des Wiedervereinigungsprozesses darstellte“.7 Das Ergebnis getrennter Regierungskonferenzen war der Vertrag von Maastricht vom Februar 1992. In Sachen Währungsunion konnte Deutschland seine Bedingungen, nämlich strenge Stabilitätskriterien und Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, durchsetzen. Was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den Bereich Justiz und Inneres anging, war Bonn hingegen nicht erfolgreich. Sie blieben Domänen der intergouvernementalen Zusammenarbeit, also der supranationalen Integration entzogen. Eine Politische Union galt zwar im Prinzip als erstrebenswert. Was der Begriff aber konkret bedeutete, darüber waren Deutsche, Franzosen und Briten weiterhin unterschiedlicher Meinung.

Die Herstellung einer Währungsunion ohne die gleichzeitige Schaffung einer Politischen Union, die Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion in einem ist, hat sich als schwere Hypothek des europäischen Einigungsprozesses erwiesen. Als „Geburtsfehler“ würde die Entkoppelung von monetärer und politischer Einheit in den frühen neunziger Jahren heute wohl auch dann betrachtet werden, wenn nicht im Jahr 2000 ein schwerer Fehler hinzugekommen wäre: die leichtfertige, auf bewusster Täuschung durch die Regierung in Athen beruhende Aufnahme Griechenlands in die Währungsunion. Die EU und ihre Mitgliedstaaten ließen sich immer mehr von Wunschdenken leiten: Sie neigten dazu, für ökonomisch und finanziell machbar zu halten, was ihnen politisch geboten schien.

Das nachzuholen, was in den neunziger Jahren nicht erreichbar war, ist die Herausforderung, vor die die Europäische Union heute gestellt ist. Strikte Sanktionsmechanismen bei Verstößen gegen den Stabilitätspakt sind notwendig, aber nicht ausreichend. Ohne Angleichung von Lebensarbeitszeiten, Steuersystem, Sozialleistungen und Aufgabenprofilen der öffentlichen Verwaltung wird die Währungsunion in ihrer jetzigen Ausdehnung keinen Bestand haben. Die EU ist ansatzweise bereits zur Transferunion geworden. Politische Akzeptanz wird diese Entwicklung aber nur dann gewinnen, wenn die hochverschuldeten Nehmerländer alles tun, was in ihren Kräften steht, um solche Hilfsleistungen so rasch und so vollständig wie möglich überflüssig zu machen. Nach den Beschlüssen des Brüsseler Krisengipfels vom 21. Juli 2011 in Sachen Griechenland gilt das mehr denn je.

Mühsame Suche nach einer Ersatzlösung

Die Schuldenkrise ist nur eine von zwei Krisen, die die EU derzeit bewältigen muss. Die andere Krise lässt sich als Sinnkrise bezeichnen. In der Frage, auf welches Ziel oder welche „Finalität“ hin sie sich entwickeln soll, ist sich die EU weniger denn je einig. Die Lösung der deutschen Frage war 1990 nur möglich, weil die europäische Frage offen blieb. Durch die Lösung der deutschen Frage wurde auch die Erweiterung der EU in Richtung Ostmitteleuropa und damit die Wiedervereinigung des alten Okzidents möglich: ein Prozess, von dem Optimisten erwarteten, dass er auch eine Vertiefung des Einigungsprozesses zur Folge haben, ja diese geradezu erzwingen werde. Tatsächlich ist die Europäische Union durch die Beitrittsrunden von 2004 und 2007 von 15 auf 27 Mitglieder angewachsen. Die Vertiefung aber ist weithin auf der Strecke geblieben.

Einen spektakulären Versuch, die Sinn- oder Finalitätsfrage des Einigungsprozesses zu beantworten, bildete die Rede, die der damalige Außenminister Joschka Fischer am 12. Mai 2000 an der Humboldt-Universität zu Berlin hielt. Er forderte darin den „Übergang vom Staatenverbund hin zur vollen Parlamentarisierung in einer europäischen Föderation, die Robert Schuman bereits vor 50 Jahren gefordert hat. Und das heißt nichts Geringeres als ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben. Diese Föderation wird sich auf einen Verfassungsvertrag zu gründen haben.“8

Am Anfang sollte also ein geradezu revolutionärer Akt stehen: die Entscheidung, den bestehenden Staatenverbund, als welchen das Bundesverfassungs-gericht in seinem Urteil zum Maastricht-Vertrag vom Oktober 1993 die Europäische Union bezeichnet hatte, in eine Föderation umzuwandeln. Wenn nicht alle Mitglieder der EU zu einem solchen Schritt bereit waren, sollten doch wenigstens diejenigen, die enger als andere kooperieren wollten, einen Grundlagenvertrag als Nukleus einer Verfassung und eine darauf begründete Födera-tion beschließen und so ein„Gravitationszentrum“ innerhalb der EU bilden.

Bekanntlich hat es einen entsprechenden Beschluss nie gegeben – nicht seitens der EU und auch nicht seitens irgendeiner Avantgarde oder Pioniergruppe ihrer Mitglieder. Dass es nicht dazu kam, war nicht überraschend. Weder in Frankreich noch in Großbritannien hatte man je daran gedacht, das eigene Land in eine europäische Föderation einzugliedern, die einem Bundesstaat nach Art der Bundesrepublik zum Verwechseln ähnlich gesehen hätte. Desgleichen hatte auch der französische Kommissionspräsident Jacques Delors nicht im Sinn, als er im Januar 2000 in einem Interview mit Le Monde von einer „Fédération des États-Nations“ sprach.9

Der Begriff Verfassung aber entwickelte eine Eigendynamik. Er stand über jener überfälligen Reform der Institutionen und Entscheidungsprozesse, die die Osterweiterung der EU notwendig machte. Er wurde zur Antwort auf den missglückten Vertrag von Nizza vom Dezember 2000, der es der Europäischen Union faktisch unmöglich machte, mit einer Stimme zu sprechen. Der Reformkonvent, den der Europäische Rat im Dezember 2001 in Laeken einsetzte, legte im Juli 2003 das Ergebnis seiner Bemühungen unter dem Titel „Vertrag über eine neue Verfassung für Europa“ vor.

Kritiker wandten frühzeitig ein, dass die EU in Gestalt ihrer Verträge bereits eine Verfassung hatte. Solange sie ein Staatenverbund ist, bleiben die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge, und solange das so ist, kann die durch eine Verfassung vermittelte Legitimation nach den Worten des Bundesverfassungsrichters Dieter Grimm aus dem Jahr 1995 nur eine „Scheinlegitimation“ sein.10  Der Begriff „Europäische Verfassung“ weckte bei den einen Hoffnungen, bei den anderen Befürchtungen, die, gemessen am Text des Konvententwurfs, beide ungerechtfertigt waren. Im Rückblick erscheint das Beharren auf dem Titel „Europäische Verfassung“ als Belastung des dringend notwendigen Reformprozesses. Der pathetische Begriff hat vermutlich mit dazu beigetragen, dass der Verfassungsvertrag in zwei Referenden, am 29. Mai 2005 in Frankreich und drei Tage später in den Niederlanden, keine Mehrheit fand.

Nach dem Fehlschlag des Versuchs, den Gang der Geschichte mit Hilfe überhöhter Begriffe zu beschleunigen, blieb nur noch die mühsame Suche nach einer Ersatzlösung übrig. Sie mündete in den Vertrag von Lissabon, der in Form und Inhalt alles vermied, was auch nur von fern an einen „Bundesstaat“ erinnerte, zugleich aber Institutionen und Entscheidungsprozesse weithin so reformierte, wie es der Verfassungsvertrag vorgesehen hatte. Auf die Frage nach der Finalität gibt der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag keine Antwort. Diese Frage scheint fast zu einem Tabu geworden. Man vermeidet sie, um den Zusammenhalt der EU der 27 nicht zu gefährden.

Was diesen Zusammenhalt tatsächlich bedroht, ist etwas anderes: der verbreitete Eindruck, dass Europa immer mehr zu einer reinen Exekutivdomäne geworden ist, wobei die wichtigsten Entscheidungen, gleichviel ob in der Kommission oder im Rat, hinter verschlossenen Türen fallen. Der Vertrag von Lissabon hat die Rechte des Europäischen Parlaments zwar erheblich ausgeweitet. Solange die Staaten aber die Herren der Verträge sind, obliegen die entscheidenden Kontroll- und Legitimationsaufgaben den nationalen Parlamenten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag vom 30. Juni 2009 daher geradezu emphatisch die „Integrationsverantwortung“ des Bundestags betont. Im Gefolge dieses Urteils hat sich das europapolitische Gewicht der Bundestags bereits beträchtlich erhöht und das öffentliche Interesse an seinen Debatten gesteigert – ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der repräsentativen Demokratie und zur Überwindung jenes -„Eurofrusts“, der in vielen europäischen Ländern seit geraumer Zeit rechts-populistischen Parteien Wähler zutreibt.

Ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit

Die Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses kann sich nicht in der Reform von Entscheidungsprozessen und Institutionen erschöpfen. Europa wird nur zusammenwachsen, wenn es ein Wir-Gefühl, ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit und Solidarität, hervorbringt. Eine Vertiefung ohne Wir-Gefühl ist ein Widerspruch in sich, aber auch eine verbreitete technokratische Illusion. Ein europäisches Wir-Gefühl vom Polarkreis bis zum Peloponnes, von Lissabon bis Lublin zu entwickeln, ist eine schwierige, aber nicht unlösbare Aufgabe. Dass sich ein Wir-Gefühl herausbildet, das von Karelien bis Kurdistan reicht, ist hingegen eher unwahrscheinlich.

Die geostrategische Konzeption eines Großeuropa bis zum Euphrat, wie sie neben anderen auch Joschka Fischer propagiert, mag ihren Ausdruck in einer strategischen Partnerschaft finden. Für die Aufnahme von Bewerberländern in die Europäische Union sind aber nicht in erster Linie strategische Interessen maßgeblich, sondern die Erfüllung der Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993. Diese verlangen in ihrem politischen Teil die volle Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte, die für die politische Kultur des Westens konstitutiv sind, einen demokratischen Rechtsstaat und den Willen, an einer Politischen Union mitzuwirken, was die Bereitschaft der Bewerberländer voraussetzt, Hoheitsrechte gemeinsam mit anderen auszuüben oder auf supranationale Einrichtungen zu übertragen. Eine EU, die von diesen Bedingungen ablässt, hätte nur noch eine Zukunft als Freihandelszone. Auf das Projekt der Politischen Union, eines Europa, das in wichtigen Fragen mit einer Stimme spricht, aber müsste sie verzichten.

An ebendiesem Ziel festzuhalten ist eine Forderung, die sich aus der Krise der Währungsunion zwingend ergibt. Im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit können die Regierungen allenfalls den jeweils aktuellen Krisen entgegenwirken, aber schon auf mittlere Sicht erfordert eine Stabilisierung der Währungsunion einen Integrationsschub in Richtung einer Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion, kurz einer Politischen Union. Da nicht alle 27 Mitgliedstaaten dazu bereit sein dürften, werden die Mitglieder der Währungs-union auf diesem Gebiet voranschreiten müssen. Das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist bereits eine Realität. Die Währungsunion ist der engere Bund, der zu mehr Zusammenarbeit bereit ist als andere – und offen für Mitglieder der EU, die diesen Weg beschreiten wollen und die notwendigen Voraussetzungen erfüllen.

Seit der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist, scheint nicht nur der EU das Projekt abhandengekommen zu sein, an dem sie sich abarbeiten und orientieren kann, sondern auch Deutschland jede Vorstellung von dem, was aus Europa werden soll. Ein Krisenmanagement von Tag zu Tag beherrscht das Feld – eine situationistische Politik, die der historischen Bedeutung des -Projekts Europa ebensowenig gerecht wird wie eine voluntaristische, vom Glauben an die Berge versetzende Kraft des eigenen Willens geprägte Politik. Die Alternative zu Situationismus und Voluntarismus in Sachen Europa kann nur eine konzeptionelle Politik sein, die die Frage nach der Finalität des Einigungsprozesses nicht länger verdrängt. Eine solche Politik muss bereit sein, über das Transitorium des Staatenverbunds hinauszudenken und als Fernziel einen engeren, föderativen Zusammenschluss Europas ins Auge zu fassen.

Auf längere Sicht kann der Druck der Verhältnisse dazu beitragen, dass der qualitative Sprung vom Staatenverbund in die Föderation, die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, keine Utopie bliebt. Deutschland sollte sich deshalb schon jetzt auf eine Verfassungsdiskussion vorbereiten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag einer Weiterentwicklung des Staatenverbunds keinen Riegel vorgeschoben, sondern auf den Artikel 146 des Grundgesetzes verwiesen. Danach verliert das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tag, an dem eine neue Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Eine Generalüberholung des Grundgesetzes in europäischer Absicht bedarf also eines ausdrücklichen, direkt erteilten Mandats der stimmberechtigten Deutschen. Erst wenn dieser Auftrag erteilt ist, wird das Europäische Parlament einen Teil der Kontroll- und Legitimationsfunktionen übernehmen können, die heute dem Bundestag zustehen und die von ihm wahrgenommen werden müssen.

Das Denken in längerfristigen und historischen Perspektiven ist in der -Europapolitik ebenso wichtig wie in der atlantischen Bündnispolitik. Deutschland wird seine Rolle in der EU und im westlichen Bündnis nur dann überzeugend wahrnehmen können, wenn es sich immer wieder klarmacht, warum es sich nach 1945 der politischen Kultur des Westens geöffnet und einen aktiven Part erst bei der westeuropäischen, dann, nach 1990, bei der gesamteuropäischen Einigung übernommen hat. Diese Politik lag und liegt ebensosehr im deutschen wie im europäischen und westlichen Interesse. Diese Interessen sind mittlerweile so eng miteinander verflochten, dass es schwer fällt, sich ein deutsches Interesse vorzustellen, das dem der Europäischen Union und des Atlantischen Bündnisses entgegengesetzt sein könnte. Daraus ergibt sich für Deutschland die Notwendigkeit, auch künftig konstruktiv und konzeptionell an der Gestaltung der supranationalen Gemeinschaften mitzuwirken, denen die Bundesrepublik aus guten Gründen und aus freien Stücken angehört.

Prof. Dr. HEINRICH AUGUST WINKLER war bis 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

  • 1Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1934², S. 11.
  • 2Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 19796, S. 544.
  • 3Zit. bei Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 20105, S. 629 f.
  • 4Andreas Rinke: Eingreifen oder nicht?, Warum sich die Bundesregierung in der Libyen-Frage enthielt, Internationale Politik, 7–8/2011, S. 44–52.
  • 5Wolfgang Ischinger: Die Last der Verantwortung, Süddeutsche Zeitung, 27.5.2011.
  • 6Zum Begriff „Kultur der Zurückhaltung“ bei Kinkel: Winkler (Anm. 3), Bd. 2, S. 629.
  • 7Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 270.
  • 8Joschka Fischer: Vom Staatenverbund zur Föderation. Rede am 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität zu Berlin, in: Christian Joerges, Yves Mény, Joseph H.H. Weiler (Hrsg.): What Kind of Constitution for What Kind of Politics? Responses to Joschka Fischer, San Domenico 2000, S. 11.
  • 9Jacques Delors critique les stratégies de l’élargissement de l’Union, Le Monde, 19.1.2000.
  • 10Dieter Grimm: Braucht Europa eine Verfassung?, in: ders. (Hrsg.): Die Verfassung und die Politik, München 2001, S. 254.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 28-37

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