Globalisierung braucht starke Institutionen
Nach dem Doha-Debakel: Zur Notwendigkeit einer WTO plus
Seit Jahrzehnten ringt die Weltwirtschaft darum, Grenzen zu öffnen, Zölle abzubauen, Dumping zu stoppen. Doch nach einer Phase erfolgreicher Liberalisierung droht nun eine Erosion des multilateralen Regelwerks und die Renaissance bilateraler Abkommen. Dabei ist die Stärkung des WTO-Regimes unverzichtbar – um die wachsende Ungleichheit zwischen den Handelspartnern auszugleichen, den institutionellen Wettbewerb zwischen den Staaten zu zähmen und die Globalisierung zu gestalten.
Der Kollaps der Doha-Runde in der letzten Juli-Woche ist ein institutioneller Schock für die Weltwirtschaft. Unter den internationalen Institutionen ist die Welthandelsorganisation (WTO) bisher noch am ehesten diejenige gewesen, die trotz Rückschlägen an Orten wie Seattle, Cancún oder Hongkong hohe Reputation besaß und Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen konnte. Sie hat ein Moment der Stabilität und Vorhersehbarkeit in die Weltwirtschaft getragen und in mancher Hinsicht ein Kontrastprogramm zur „Weltwirtschafts-Unordnung“ geboten. Nach dem Abbruch der fast fünfjährigen Verhandlungen in Genf steht das Vertrauenskapital der WTO aber auf dem Spiel und damit auch die Verlässlichkeit des Weltwirtschaftssystems insgesamt. Droht nun Anarchie? Als Folge des Debakels ist WTO-intern mit einer Flucht in die Streitschlichtung und außerhalb der WTO mit einem starken Auftrieb für bilaterale und regionale Alternativen zum Multilateralismus zu rechnen. Die Streitschlichtung ist ungeachtet einiger Mängel die eigentliche Erfolgsgeschichte der WTO. Durch den Übergang vom positiven zum negativen Konsensprinzip, das Veto-Blockaden verhindert, und die Einrichtung eines gerichtsähnlichen Instanzenzuges hat das Streitschlichtungsverfahren zunehmend wirtschaftlich schwächeren Ländern zu ihrem Recht verholfen und damit einen Kontrapunkt gegen die „Macht des Stärkeren“ in der Handelspolitik gesetzt. Es hat Handelskriege verhindert und eine relativ hohe Erfolgsquote bei der Umsetzung von Panel-Entscheiden und Urteilen der Revisionsinstanz erzielt.1 Der Nährboden der Streitschlichtung ist jedoch ein starkes und anpassungsfähiges multilaterales Regelwerk. Wenn dieser Halt wegbricht, ist zu befürchten, dass der Mechanismus sich weitgehend verselbständigt und eine Eigendynamik entwickelt, die ihrerseits einer Erosion der WTO Vorschub leistet und die Effektivität der Streitbeilegung selbst in Frage stellt.
Es ist absehbar, dass die Streitschlichtung jetzt „instrumentalisiert“ wird, um das zu erreichen, was am Verhandlungstisch nicht durchsetzbar war. Die Anzahl der Streitfälle würde entsprechend ansteigen. Ohne eine feste Verankerung in multilateraler Gesetzgebung droht aber der gesamte judikative Prozess in Misskredit zu geraten und die Bereitschaft der Regierungen, den Beschlüssen der Streitschlichtungsorgane Folge zu leisten, zu schwinden.
Ebenfalls zeichnet sich eine Verstärkung der Tendenz zum Bilateralismus und Regionalismus ab. Mit Ausnahme der Mongolei sind bereits heute alle WTO-Mitgliedsländer parallel zur WTO – und oftmals mehrfach – an Freihandelszonen, Zollunionen und ähnlichen Integrationsgemeinschaften beteiligt. Der Spielraum für eine weitere Ausbreitung derartiger Präferenzhandelsregime, die einen klaren Verstoß gegen das Meistbegünstigungsprinzip darstellen, ist groß: Rechnerisch wären insgesamt 11026 bilaterale Präferenzhandelsabkommen (PHA) zwischen den 149 WTO-Mitgliedern möglich; tatsächlich sind gegenwärtig etwa 200 PHA in Kraft und bei der WTO notifiziert. Die Europäische Union verordnete sich auf diesem Gebiet im Jahre 1999 selbst ein Moratorium, von dem sie inzwischen aber wieder abgerückt ist. Dabei hat die Suspendierung der Doha-Runde den Politikwechsel offenbar beschleunigt. In der EU gilt jetzt Plan B, demzufolge vor allem mit Ländern und Ländergemeinschaften in Asien der Abschluss bilateraler Präferenzhandelsabkommen angestrebt wird. In Asien wird das Gravitationszentrum der neuen Welle des Bilateralismus und Regionalismus gesehen. Der Economist rechnet damit, dass allein die Anzahl der Freihandelsabkommen in und mit Ostasien bis Ende 2006 auf ca. 70 ansteigen wird.
Sieg der Lobbyisten
Vor dem Hintergrund des aktuellen Stillstands der multilateralen Verhandlungen und der in der Vergangenheit bewiesenen Ohnmacht der WTO gegenüber dem „neuen Regionalismus“ ist eine wirksame multilaterale Kontrolle dieser Entwicklung nicht in Sicht. Bleibt sie aber sich selbst überlassen, wird das Gestrüpp unterschiedlicher Handelsregime (insbesondere in der Form komplizierter Ursprungsregelungen) je nach Partnerland weiter wuchern und die Transaktionskosten im internationalen Handel weiter erhöhen. Außerdem wird die Ungleichheit zwischen den Handelspartnern wachsen, da nicht alle zu gleichen Bedingungen an dem Prozess teilnehmen können und speziell bei Nord-Süd-Abkommen Industrieländer über größere Verhandlungsmacht verfügen als Entwicklungsländer. Es kommt hinzu, dass die Chancen – und Anreize – für multilaterale Liberalisierung in dem Maße geringer werden, wie der Bilateralismus und Regionalismus zunehmen. Der Wildwuchs präferentieller Handelsabkommen zwischen WTO-Mitgliedsländern ist daher ein durchaus unvollständiges Substitut für multilaterale Liberalisierung.2
Im Genfer Marathon der sechs Hauptakteure (EU, USA, Japan, Australien, Brasilien, Indien) hat eine der beiden Grundfunktionen der WTO – die Liberalisierung des Welthandels – offensichtlich Schiffbruch erlitten. Die Ursache der Malaise liegt in einem doppelten Versagen: Im Regierungsversagen gegenüber dem Privatsektor und im Versagen der überkommenen politökonomischen Mechanik des Ausspielens liberalisierungsfreundlicher Exportinteressen gegen protektionistische Binnenmarktinteressen. Die Verhandlungsführer aus den einzelnen Ländern haben im Grunde vor ihrer jeweiligen (von Agrarinteressen dominierten) heimischen Lobby kapituliert. Sie haben, in den Worten des EU-Außenhandelskommissars Peter Mandelson, ihre „innenpolitischen Zwänge in die Verhandlungen exportiert“3 und waren dabei nicht imstande, den privaten Interessengruppen Paroli zu bieten. Anders als in früheren multilateralen Handelsrunden ist es in der Doha-Runde den Unterhändlern auch nicht gelungen, innerhalb des Privatsektors genügend Freihandelsinteresse zu mobilisieren, um den Protektionismus politisch zu übertrumpfen.
Das Scheitern der Liberalisierungsverhandlungen zieht auch die zweite Grundfunktion der WTO – Einflussnahme auf die Gestaltung der (handelsrelevanten) Wirtschaftspolitik in ihren Mitgliedsländern – in Mitleidenschaft. Bei wachsendem Antagonismus zwischen WTO-Mitgliedern droht zum einen eine Aushöhlung des WTO-Aquis: Die nationalen Regierungen könnten immer weniger bereit sein, WTO-Vorgaben (Disziplinen) bei ihren wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu akzeptieren; die Bindungskraft bestehender multilateraler Regeln würde geschwächt. Zum anderen wäre die notwendige Weiterentwicklung des Regelwerks gefährdet.
Ein Blick in die Geschichte der multilateralen Handelsrunden zeigt, dass die politische Gewichtsverteilung zwischen Liberalisierung und Regelsetzung über die Zeit stark variiert hat. In den ersten fünf GATT-Runden stand eindeutig die Liberalisierung des internationalen Handels im Vordergrund. Es ging hauptsächlich um Zollsenkungen und damit um den Abbau von Marktzugangshindernissen, die „an der Grenze“ errichtet waren (border measures). In der Kennedy-Runde (1963–1967) rückten nichttarifäre Handelsschranken (non-tariff barriers/NTBs), wie z.B. Antidumpingmaßnahmen, stärker in den Blickpunkt. Beides, der Abbau tarifärer und nichttarifärer Hindernisse, gehört in den Bereich der „negativen Regulierung“. Dabei wird den Regierungen gesagt, was sie unterlassen sollen (z.B. Zölle oder Importquoten zu verhängen oder wieder einzuführen). In der Tokio-Runde (1973–1979) wurden erstmals auch binnenwirtschaftliche Maßnahmen (behind-the-border measures), die sich nachhaltig auf den internationalen Handel auswirken, stärker thematisiert. Dies galt in erster Linie für die Subventionspolitik der GATT-Vertragsparteien. Die Entwicklung zur „positiven Regulierung“ – in diesem Fall wird den Regierungen „vorgeschrieben“, was sie tun sollen (z.B. Subventionen abzubauen oder handelsneutral zu gestalten) – erreichte in der Uruguay-Runde (1986–1994), der achten und letzten GATT-Runde, mit der Einbeziehung des Dienstleistungssektors und des Schutzes geistiger Eigentumsrechte in das multilaterale Regelwerk einen Höhepunkt.4
Gescheiterte Liberalisierung
In der Doha-Runde (seit 2001), der ersten WTO-Runde, ist das Pendel wieder von der Regelsetzung zur Liberalisierung zurückgeschlagen. Die neue handelspolitische Agenda, symbolisiert in den Singapur-Themen Wettbewerbspolitik, Politik gegenüber ausländischen Direktinvestitionen, Transparenz der öffentlichen Auftragsvergabe und Erleichterung der Handelsabwicklung, stand von Beginn der Verhandlungen an im Schatten der Marktzugangsagenda im Agrar-, Industrie- und Dienstleistungssektor. In Cancún entzündete sich im Herbst 2003 an den Singapur-Themen zudem ein scharfer Nord-Süd-Konflikt. Dies war neben der Uneinigkeit in der Agrarfrage ein Hauptgrund für das Scheitern der vierten WTO-Konferenz. Die Einigung auf eine Fortsetzung der Doha-Runde wurde im Sommer 2004 mit einem weitgehenden Verzicht der Industrieländer auf die Singapur-Agenda erkauft. Auf der Tagesordnung blieb allein das Thema Erleichterung der Handelsabwicklung (trade-facilitation). Nach dem jüngsten Eklat bei den Liberalisierungsverhandlungen liegt dieses Thema nun ebenfalls auf Eis. Das Gleiche gilt für die geplanten Reformen in den Bereichen Antidumpingpolitik, Subventionspolitik, Bilateralismus und Regionalismus in der Handelspolitik und Vorzugsbehandlung für Entwicklungsländer. Auch die Regelung des Verhältnisses zwischen WTO-Abkommen und multilateralen Umweltabkommen ist vorerst vom Tisch. Um den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen, wäre aber eine Erneuerung des WTO-Regelwerks dringend erforderlich.
Die aktuellen Vorgänge in der WTO und ihre Entwicklungsgeschichte sind kennzeichnend für das Selbstverständnis der Nationalstaaten in der Globalisierung. Unter Globalisierung soll der Anstieg internationaler Transaktionen auf den Waren-, Dienstleistungs- und Faktormärkten verstanden werden, in Verbindung mit einer verstärkten Herausbildung von Institutionen (Unternehmen, Regierungen, internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen), deren Einflussbereich wächst und nationale Grenzen übersteigt. Grundlegend ist dabei das Wachstum des internationalen Handels.5 Damit wird klar, dass sowohl die Nationalstaaten als auch die WTO in der Globalisierung eine entscheidende Rolle spielen.
Die Dynamik des internationalen Handels ist wesentlich das Ergebnis multilateraler Liberalisierung.6 Sie kommt in einem deutlichen Vorlauf der internationalen Handelsströme vor der binnenwirtschaftlichen Produktion zum Ausdruck und ist daher zugleich mit starken Wachstums impulsen für die beteiligten Volkswirtschaften verbunden. Die Nationalstaaten haben sich in diesem Zusammenhang politisch insoweit selbst entmachtet, als sie die Handelsliberalisierung für bindend und damit für nicht (oder nur gegen Kompensation) reversibel erklärt haben. Dennoch verfügen die nationalen Regierungen weiterhin über beträchtlichen Spielraum in der Wirtschaftspolitik. Die Ironie will es, dass gerade wegen des weitgehenden Abbaus der „border measures“ im Industriesektor die internationale Bedeutung nationaler Wirtschaftspolitik erheblich gewachsen ist: Der Zollabbau hat nicht nur die „Sichtbarkeit“ nicht-tarifärer Handelsschranken an der Grenze erhöht – und damit deren Beseitigung erleichtert –, sondern zusammen mit dem NTB-Abbau zugleich die Wirkungen der Politik „behind the border“ auf den internationalen Handel (und auf grenzüberschreitende Transaktionen generell) wesentlich verstärkt. Die nationale Wirtschaftspolitik ist auf diese Weise „unfreiwillig“ immer internationaler geworden.
Wettbewerbsfähigkeit und Standortfaktoren
Ein zentrales wirtschaftspolitisches Ziel der Staaten und Staatengemeinschaften, wie zum Beispiel der EU im Rahmen ihrer Lissabon-Strategie, ist die Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Internationale Wettbewerbsfähigkeit gehört zu den Schlüsselbegriffen der Gegenwart. Ursprünglich mikroökonomisch motiviert und definiert, wurde er von immer mehr Ökonomen auch in einem makroökonomischen Kontext verwendet; die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft wurde zum Schlagwort.7 Eine Flut von Publikationen hat sich mit diesem Begriff und seiner Operationalisierung in der wirtschaftspolitischen Praxis befasst.8 Nicht minder groß ist aber die Zahl der Kritiker, für die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft ein „non-issue“ bzw. ein „Mythos“ ist.9 Als besonders scharfer Kritiker ist Paul Krugman hervorgetreten, der von „gefährlicher Besessenheit mit Wettbewerbsfähigkeit“ spricht und entschieden bestreitet, dass „die führenden Länder der Welt in nennenswerter Weise miteinander im Wettbewerb stehen“.10
Krugman übersieht dabei aber, wie Horst Siebert zu Recht bemerkt, die stark gewachsene internationale Mobilität von Produktionsfaktoren wie Kapital, Technologie und hochqualifizierter Arbeit.11 Dadurch wird die Annahme der herkömmlichen Außenhandelstheorie obsolet, dass die Faktorausstattung der Länder gegeben und unterschiedlich ist und die Ausbeutung bestehender Unterschiede in der Faktorausstattung die Quelle der Handelsgewinne bildet. Zugleich wird deutlich, dass durchaus Wettbewerb zwischen Ländern besteht, nämlich Wettbewerb um international mobile Produktionsfaktoren. Die Trennlinie verläuft daher nicht mehr zwischen Inland und Ausland oder national und international, sondern zwischen mobil und immobil. Internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft wäre demnach gleichbedeutend mit der relativen Attraktivität des nationalen Standorts für mobile Ressourcen aus dem eigenen Land und aus anderen Ländern.
Entscheidend für eine so verstandene internationale Wettbewerbsfähigkeit ist die Qualität der Institutionen eines Landes, also im weitesten Sinne der Regeln, die das Verhalten der Individuen leiten. Dazu gehören Gesetze und Verträge, aber auch Organisationen und Konventionen.12 Institutionen bilden den Kern der immobilen Standortfaktoren. Ihre Qualität bestimmt das Ausmaß der Transaktionskosten in einer Volkswirtschaft.13 Eine Volkswirtschaft ist daher institutionell – und damit auch international – wettbewerbsfähig, wenn sie in der Lage ist, die für mobile Produktionsfaktoren komplementären öffentlichen Güter und Dienstleistungen (Rechtsstaatlichkeit, Eigentumsschutz, Verwaltungseffizienz, innere und äußere Sicherheit, saubere Luft und sauberes Wasser, geringe Steuer- und Abgabenbelastung für die Nutzung öffentlicher Infrastruktur) und standortgebundenen Faktoren (Boden, investiertes Sachkapital, ortsansässige Arbeitskräfte) bei relativ niedrigen Transaktionskosten anzubieten.
„Gute“ Politik, „schlechte“ Politik
Im Unterschied zur natürlichen Faktorausstattung eines Landes sind seine Institutionen eindeutig „man-made“ und damit auch politikbestimmt. Politik wird im Zeitalter sinkender Kosten der Raumüberwindung nicht weniger bedeutend, sondern – im Gegenteil – wesentlich wichtiger für den Erfolg von Standorten. Gerade ihre Territorialität macht Politik zur dominanten Größe im Standortwettbewerb. Wenn sich Produktionsfaktoren international immer leichter verschieben lassen, dann treten die standortspezifischen Unterschiede des politisch-rechtlichen Rahmens um so deutlicher hervor. Eine „gute“ Politik wird durch Zuwanderung belohnt, eine „schlechte“ Politik wird durch Abwanderung bestraft. Dabei dürfte sehr oft ein Verzicht auf Politik – also der Verzicht auf aktive staatliche Einflussnahme auf (einzel)wirtschaftliches Verhalten – die beste Politik sein.
Mobile Produktionsfaktoren können sich durch Standortarbitrage14 dem nationalstaatlichen wirtschaftspolitischen Zugriff entziehen. So konnten und wollten die Verlierer einer an nationalen Interessen orientierten Handelspolitik die negativen Effekte staatlicher Eingriffe nicht mehr länger mittragen. Sie konnten nicht, weil sie auf globalen Weltmärkten im Wettbewerb mit Unternehmen aus „attraktiven“ Standorten standen, und sie wollten nicht, weil sie nun – dank dem gestiegenen Mobilitätsgrad – leichter die Alternative Exit wählen und ihrerseits auf solche Standorte ausweichen konnten. Die Politik müsste daher in erster Linie bei den immobilen Produktionsfaktoren und deren Transaktionskosten ansetzen. Dies ist vielfach mit einer Intensivierung des institutionellen Wettbewerbs zwischen Staaten verbunden, mündet aber keinesfalls zwangsläufig in ein Race to the Bottom. Institutioneller Wettbewerb kann vielmehr ein leistungsfähiger Kontrollmechanismus sein, der Ineffizienz von Regierungen verhindert, und er kann als Entdeckungsverfahren zur Generierung neuer und besserer institutioneller Lösungen dienen.15
Gestaltung des Wettbewerbs
Die Mittel, die von den Regierungen zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eingesetzt werden, führen indes häufig zu Konflikten mit anderen Regierungen und mit dem Ziel eines effektiven, funktionsfähigen internationalen Wettbewerbs (im Unterschied zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit). Droht eine Volkswirtschaft in ihrer Wettbewerbsfähigkeit zurückzufallen, sind schnell Argumente für einen „Erziehungszoll“, einen „Optimalzoll“, eine „strategische Handelspolitik“, eine „Innovationspolitik“ oder eine „zukunftsweisende Forschungspolitik“ zur Hand. Diese Argumente erweisen sich jedoch weder als theoretisch robust noch als empirisch gehaltvoll.16 Welche wohlstandsmindernden Gefahren damit verbunden sind, zeigt die ökonomische Analyse mehr als deutlich genug.17 In der Entschärfung des entsprechenden zwischenstaatlichen Konfliktpotenzials liegt eine wesentliche Aufgabe der WTO. Dazu müsste die WTO insbesondere in die Lage versetzt werden, in stärkerem Maße als bisher auf die Binnenwirtschaftspolitik ihrer Mitgliedsländer Einfluss zu nehmen.
Eine Stärkung der WTO-Kompetenz bei der Gestaltung des Wettbewerbs zwischen Staaten bliebe jedoch Stückwerk, wenn nicht zugleich dafür Sorge getragen wird, dass der Abbau staatlich verursachter Verzerrungen des Wettbewerbs nicht durch Wettbewerbsbeschränkungen zwischen privaten Unternehmen unterlaufen wird.
Die Internationalisierung der Märkte und des Wettbewerbs korrespondiert mit einer Internationalisierung der Wettbewerbsbeschränkungen. Das Potenzial für derartige restriktive Geschäftspraktiken zeigt sich etwa in wachsender internationaler Kartellbildung, einer starken Zunahme grenzüberschreitender Fusionen und Akquisitionen oder in vermehrten Missbrauchs- und Verdrängungsstrategien global agierender Unternehmen. Dabei ist es durchaus möglich, dass Unternehmen auf die handelspolitische Öffnung von Märkten mit privaten Marktabschottungen reagieren und dadurch sogar höhere Barrieren entstehen als durch die bisherigen Zölle und nichttarifären Handelshindernisse.18 Um dies zu verhindern, wäre eine Wettbewerbspolitik notwendig, die auch den internationalen Wettbewerb effektiv schützt.19
Die Wettbewerbspolitik basiert in den meisten Ländern auf dem Territorialitätsprinzip und ist infolgedessen auf wettbewerbswidriges Verhalten fokussiert, das vom eigenen, nationalen Territorium ausgeht und hier auch seinen Wirkungsschwerpunkt hat. Die „Geographie“ der Wirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen ist jedoch längst international. Genau hier liegt das eigentliche Problem der Wettbewerbspolitik in der Globalisierung: Die Liberalisierung und Integration der Märkte führt dazu, dass Verzerrungen des Wettbewerbs, die von einem Land ausgehen, immer häufiger negative Folgen in anderen Ländern nach sich ziehen. Für die Behörden des Ursprungslands besteht in diesem Fall aber kaum ein Anreiz, gegen die Verursacher vorzugehen. Das Ursprungsland könnte im Gegenteil versucht sein, die Wettbewerbspolitik „strategisch“ zu nutzen, um auf Kosten des Auslands einen wirtschaftlichen Vorteil zu erzielen. Umgekehrt verfügen die Zielländer angesichts der Territorialität des nationalen Rechts im Prinzip nicht über die Möglichkeit, wettbewerbspolitisch direkt einzuschreiten.
Ökonomischer Patriotismus
Als Ausweg aus dem Dilemma wurde die Auswirkungsdoktrin („effects doctrine“) entwickelt. Danach würde die nationale Wettbewerbspolitik auch bei im Ausland verursachten Wettbewerbsbeschränkungen einschreiten, sofern diese sich im Inland – nach Einschätzung der hiesigen Behörden – negativ auswirken. Ein solches Vorgehen ist aber in hohem Maße konfliktträchtig, zumal unterschiedliche wettbewerbspolitische Konzeptionen und Prozeduren oftmals durch industriepolitische Interessengegensätze zwischen den Ländern überlagert werden. Ein Beispiel ist der – am Ende erfolglose – Widerstand der Europäischen Kommission gegen den aus europäischer Sicht in erster Linie industriepolitisch motivierten Zusammenschluss der amerikanischen Flugzeughersteller Boeing und McDonnell Douglas, der im Jahr 1997 die transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen an den Rand eines Handelskriegs führte. Ähnlich kontrovers war im Jahr 2001 die – dieses Mal von der Brüsseler Kommission verhinderte – Fusion der US-Konglomerate General Electric und Honeywell.
Der Einzug wettbewerbsfremder Motive in die Wettbewerbspolitik zeigt sich auch in der europäischen Debatte über den ökonomischen Patriotismus. Dabei wird zugleich eine neue Form des Merkantilismus deutlich: Die Verteidigung nationaler Unternehmen gegen ausländische Investoren – und gegen „vaterlandslose“ Shareholder – geht mit staatlicher Unterstützung inländischer Unternehmen bei ihrer Expansion im Ausland einher. In Frankreich etwa wurde zunächst der Verkauf des Energieunternehmens Suez an die italienische ENEL-Gruppe politisch blockiert und danach die Übernahme des belgischen Elektrizitätsanbieters Electrabel durch Suez staatlich gefördert. Die Unternehmen werden also ermuntert, im Ausland gerade das zu tun, was ausländischen Unternehmen im Inland verwehrt wird.
Als logisch „saubere“ und konfliktfreie Lösung des Globalisierungsdilemmas mag das „Kongruenzmodell“ erscheinen. Danach würde die wettbewerbspolitische an die handelspolitische Regulierungsebene und damit auch an den globalen Aktionsradius der Unternehmen angepasst. Politökonomische, institutionenökonomische und „rein“ ökonomische Argumente sprechen jedoch gegen eine solche Zentralisierung der Wettbewerbspolitik. Angesichts mangelnder Bereitschaft der Länder zum Souveränitätsverzicht wäre ein Weltkartellamt politisch kaum durchsetzbar. Auch herrscht weder in der Wissenschaft noch in der Politik Konsens über die Wohlfahrtswirkungen von Wett-bewerbsbeschränkungen zwischen Unternehmen. Außerdem könnte eine internationale Wettbewerbsbehörde den spezifischen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern kaum genügend Rechnung tragen. Zudem würde der institutionelle Wettbewerb zwischen den nationalen Regelwerken ausgeschaltet. Eine Strategie zur Vermeidung internationaler Konflikte und zur Effizienzsteigerung in der Wettbewerbspolitik könnte deshalb von einem Fortbestehen eigenständiger nationaler Wettbewerbspolitik – und einer natürlichen Disharmonie nationaler Interessen – ausgehen und müsste zugleich Anreize für eine Neuorientierung dieser Politik an der Realität der Internationalisierung des Wettbewerbs schaffen.
Die Initiative könnte dabei von den ausländischen Handelspartnern ausgehen. Diese müssten in die Lage versetzt werden, das Inland zu einer Wettbewerbspolitik zu veranlassen, die nicht mehr zwischen in- und ausländischen Unternehmen sowie Binnen- und Exportmärkten diskriminiert. Die Handelspartner würden im Gegenzug auf die extraterritoriale Anwendung ihrer eigenen Gesetze im Sinne der effects doctrine verzichten. In der Wettbewerbspolitik würde fortan allein das Ursprungslandprinzip gelten bzw. ein Territorialitätsprinzip, bei dem auch extraterritoriale Wirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen berücksichtigt würden. Für die Durchsetzung der Politik könnte das Streitschlichtungsverfahren der WTO (einschließlich handelspolitischer Sanktionen als Ultima Ratio) genutzt werden.
Eine solche Regelung würde unterschiedlichen wettbewerbspolitischen Konzeptionen der Länder gerecht, es würde gemäß einer bewährten, wohlfahrtsökonomisch wohlfundierten wirtschaftspolitischen Regel „an der Quelle“ gegen wettbewerbswidriges Verhalten vorgegangen,20 und der institutionelle Wettbewerb um die besten Lösungen bliebe erhalten. Eine supranationale Wettbewerbsbehörde wäre nicht erforderlich, notwendig aber ein Konsens über wettbewerbspolitische Mindestanforderungen, weil sonst die wechselseitigen Vorteile für die Handelspartner nicht gesichert wären. Die Mindeststandards wären für alle Beteiligten verbindlich und würden insbesondere Verbotsregeln für Preis-, Mengen- und Gebietsabsprachen umfassen. Darüber hinaus stünden Vorkehrungen zur Verhinderung von protektionistischer und „strategischer“ Wettbewerbspolitik an, etwa im Namen nationaler Sicherheit oder der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nationaler (und europäischer) „Champions“. Andernfalls steht zu befürchten, dass wettbewerbswidrige Verhaltensweisen der Unternehmen außer Kontrolle geraten und internationale Konflikte eskalieren.
GEORG KOOPMANN, geb. 1945, ist Senior Economist am Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA).
THOMAS STRAUBHAAR, geb.1957, ist Leiter des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Instituts (HWWI) und Professor an der Universität Hamburg.
- 1Die Beschlüsse der Panel-Instanz, die den jeweiligen Streitfall untersucht, und die Urteile der Revisionsinstanz, die auf Antrag der unterlegenen Partei das Ergebnis des Panel-Prozesses überprüft, sind bindend, wenn sie im WTO-Rat nicht einstimmig zurückgewiesen werden. Beim alten Verfahren unter dem GATT war dagegen umgekehrt für die Annahme von Panel-Entscheiden die Zustimmung aller Vertragsparteien erforderlich (und eine Revisionsinstanz nicht vorgesehen).
- 2Zu dieser Frage und zu der Möglichkeit, „Sphagetti-Schalen“ in „Bausteine“ zu verwandeln und so den Regionalismus zu „multilateralisieren“, vgl. auch Richard Baldwin: Multilateralising Regionalism: Sphagetti Bowls as Building Blocs on the Path to Global Free Trade, Discussion Paper Nr. 5775, London 2006.
- 3Peter Mandelson: A Deal Can Still Be Salvaged from the Ashes of Doha, Financial Times, 31.7.2006.
- 4Vgl. Carsten Hefecker und Georg Koopmann: WTO und internationale Handelsachitektur, Wirtschaftsdienst, Jg. 83, 2003, S. 402–406.
- 5Vgl. Alan V. Deardoff und Robert M. Stern: What You Should Know About Globalization and the World Trade Organization, Review of International Economics, Jg. 10, Nr. 3, 2002, S. 404–423.
- 6Baier und Bergstand zeigen am Beispiel von OECD-Ländern, dass Zollsenkungen etwa ein Viertel des internationalen Handelswachstums seit dem Zweiten Weltkrieg erklären können. Vgl.Scott L. Baier und Jeffrey H. Bergstrand: The Growth of World Trade: Tariffs, Transport Costs, and Income Similarity, Journal of International Economics, Jg. 53, 2001, S. 1–27.
- 7Michael E. Porter: The Competitive Advantage of Nations: With a new Introduction, Basingstoke 2005.
- 8Vgl. Thomas Gries und Claudia Hentschel: Internationale Wettbewerbsfähigkeit – was ist das?, Wirtschaftsdienst, Jg. 74, 1994, S. 416–422. Thomas Straubhaar: Internationale Wettbewerbsfähigkeit – was ist das?, Wirtschaftsdienst, Jg. 74, 1994, S. 534–540.
- 9Vgl. Norbert Berthold: Internationale Wettbewerbsfähigkeit - Was sagt die ökonomische Theorie? in: Erhard Kantzenbach und Otto G. Mayer (Hrsg.): Deutschland im internationalen Standortwettbewerb, Baden-Baden, 1994/95, S. 79.
- 10Paul R. Krugman: Competitiveness: A Dangerous Obsession, Foreign Affairs, Februar 1994, S. 28–44.
- 11Vgl. Horst Siebert: Locational Competition: A Neclected Paradigm in the International Division of Labour, The World Economy, Jg. 29, Nr. 2, 2006, S. 137–159.
- 12Vgl. Norbert Eickhof: Globalisierung, institutioneller Wettbewerb und nationale Wirtschaftspolitik, Wirtschaftsdienst, Jg. 83, 2003, S. 369–376.
- 13Transaktionskosten sind im Sinne von Williamson das ökonomische Gegenstück zu den physikalischen Reibungskosten. Sie beinhalten sowohl die Organisationskosten ökonomischer Aktivitäten innerhalb einer Entscheidungseinheit als auch die Koordinationskosten individueller Transaktionen über Märkte, nicht aber die Produktionskosten, die ihrerseits die Transportkosten als Kosten der Raumüberwindung enthalten. Vgl. Oliver E. Williamson: The Economic Institutions of Capitalism: Firms, Markets, Relational Contracting, New York 1985.
- 14„Standortarbitrage“ meint die Ausnutzung von Kostenunterschieden für ein identisches Bündel von (öffentlichen) Gütern (oder Leistungen) zwischen verschiedenen Standorten durch eine Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten zum kostengünstigeren Standort.
- 15Siebert (Anm. 11).
- 16Vgl. Monopolkommission: Wettbewerbs- oder Industriepolitik (Hauptgutachten 1990/1991), Baden-Baden 1992. Dieter Bender: Neuere Entwicklungen der Theorie internationaler Handelsbeziehungen – Anstöße zur Neuorientierung der Handelspolitik?, Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Jg. 45, 1994, S. 1–49.
- 17Vgl. Karlhans Sauernheimer: Die Grundgedanken der Theorie der strategischen Handelspolitik, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Jg. 39, 1994, S. 375–394.
- 18Vgl. Werner Lachmann und Andreas Mitschke: Wettbewerbspolitik und die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften, WISU, Nr. 4/2006, S. 560–566.
- 19Vgl. Oliver Budzinski und Wolfgang Kerber: Internationale Wettbewerbspolitik aus ökonomischer Perspektive, in: Peter Oberender (Hrsg.): Internationale Wettbewerbspolitik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 311, Berlin, 2006, S. 9–40.
- 20Vgl. Bruno Kaiser und Hans-Jürgen Vosgerau: Global Harmonisation of National Competition Policies, in: Hans-Jürgen Vosgerau (Hrsg.): Institutional Arrangements for Global Economic Integration, Houndmills 2000, S. 35–59.
Internationale Politik 9, September 2006, S. 6-14