Die zweite Welle rollt
Wer die Chancen der Globalisierung nicht erkennt, hat schon verloren
Die positiven Folgen der Globalisierung sind nicht wegzudiskutieren. Noch nie hatten so viele Menschen so gute Lebensbedingungen wie heute. Nach dem Wachstum geht es jetzt an das Aufbrechen von verkrusteten nationalen Strukturen. Auch dies birgt Chancen, die jedoch – vor allem von den Deutschen – erkannt und genutzt werden müssen.
„Kein anderes Wort als dieses – Globalisierung – scheint besser geeignet, das 20. Jahrhundert zu kennzeichnen: als Jahrhundert der globalen politischen Konflikte zuerst und der weltweiten Marktintegration danach.“1 So charakterisiert Herbert Giersch die Wirtschaftsgeschichte der letzten 100 Jahre. Und er hat recht. Wie eine riesige Welle rollte die Globalisierung am Ende des letzten Jahrhunderts über Europa. Sie riss auf dem Reißbrett der Politik konstruierte Grenzen nieder. In Osteuropa wurden die Kunstgebilde Sowjetunion, Jugoslawien oder Tschechoslowakei schlicht weggefegt. Im Westen stieg die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion aus den Fluten empor. In weniger als einem Jahrzehnt erhielt die europäische Landkarte ein neues Gepräge.
Wer nun aber glaubt, dass die Globalisierung ihre Kraft verloren habe und künftig wieder ruhigere Zeiten anbrechen werden, der irrt so gewaltig, wie jene, die eine Trennung Deutschlands für unwiderruflich gehalten haben. Wir stehen nicht am Ende der Globalisierung, sondern höchstens am Ende der ersten Sturmflut. Für den britischen Soziologen Anthony Giddens, Vordenker des „Dritten Weges“ und Berater von Tony Blair, beginnen nun erst die fundamentalen gesellschaftlichen, politischen und auch wirtschaftlichen Konsequenzen zu wirken, die mit Echtzeit-Kommunikation um den ganzen Globus zusammenhängen. Dazu gehören die Möglichkeiten oppositioneller Gruppen, sich über das Internet weltweit Gehör zu verschaffen sowie die Tendenz zu regionaler Autonomie oder Unabhängigkeit in Quebec und Schottland, im Baskenland und in anderen Regionen als Folge des relativen Machtverlusts der Nationalstaaten.
Nach der ersten Welle der Globalisierung …
Technologische Basisinnovationen im Transport- und im Telekommunikationsbereich sowie politische Prozesse haben im Laufe der letzten 50 Jahre vielfältige Handelsschranken nahezu vollständig beseitigt. Nationale Gütermärkte wurden für den internationalen Wettbewerb geöffnet. Die fortschreitende globale Arbeitsteilung ermöglichte eine immer weitergehende Spezialisierung. Ein stetig wachsender Anteil der Weltproduktion wurde auf den Weltmärkten verkauft. Dabei folgte der internationale Warentausch mehr oder weniger den Erwartungen der klassischen Außenhandelstheorie. Länder mit vielen Menschen und vergleichsweise wenig Kapital spezialisierten sich auf die arbeitsintensive Herstellung „billiger“ Standardprodukte. Länder mit viel Kapital und vergleichsweise weniger Menschen erstellten mit kapitalintensiven Technologien die „teuren“ Maschinen. Auf den Weltmärkten wurden Massenkonsumgüter gegen Spezialgeräte, -apparate und -werkzeuge getauscht. Und wie von der Theorie vorausgesagt, führte die internationale Arbeitsteilung auf der Grundlage komparativer Kostenvorteile, betrieblicher Skalenvorteile und differenzierter Produkte auch in der Praxis zu Wohlstandsgewinnen.
Die Globalisierung blieb bis anhin vor allem ein Phänomen des Güterhandels. Es wurden insbesondere Waren, Sachkapital oder unternehmensspezifisches Wissen getauscht, nicht so sehr Produktionsfaktoren. Die grenzüberschreitende Beteiligung am Eigenkapital einer ausländischen Firma oder die internationale Migration von Arbeitskräften blieb die Ausnahme und ist noch lange nicht die Regel geworden. Das bedeutet nicht, dass die Folgen von globaler Arbeitsteilung und weltweitem Güterhandel nicht enorme Rückwirkungen auf die Faktormärkte haben. Die Globalisierung hat das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit dramatisch verändert. Mit der Einbeziehung Asiens in die weltweite Arbeitsteilung kamen Milliarden von Arbeitskräften neu ins Spiel. Sie konkurrierten mit den Belegschaften des Westens nicht nur in fernen Welten. Sie machten ihnen das Leben auch in Europa schwer, wenngleich nicht in Form der Zuwanderung, so doch in Form von Waren, die sie in Billiglohnländern herstellten und dann in die OECD-Länder verkauften. Arbeit wurde reichlicher verfügbar und damit billiger. Kapital wurde entsprechend knapper und somit teurer. Folglich verschoben sich in Westeuropa die Machtgleichgewichte weg von den Gewerkschaften hin zu den Arbeitgebern. Die westeuropäischen Belegschaften verloren in wenigen Jahren, was sie über viele Jahrzehnte von den Arbeitgebern an Rechten und Zusagen erstritten und erkämpft hatten. Sie mussten weitreichende Zugeständnisse machen, um im globalen Kostenwettbewerb mithalten und das Beschäftigungsniveau behalten zu können.
Die Globalisierung hat in der Nachkriegszeit nur wenig daran geändert, dass (Eigen-)Kapital und Arbeit international relativ immobil geblieben sind. Noch immer sind die meisten multinationalen Firmen zunächst einmal „nationale“ Firmen. Noch immer haben sie einen nationalen „Touch“, der durch das Mutterland geprägt wird. Bestenfalls wird unternehmensspezifisches Wissen innerhalb der multinationalen Firmen grenzüberschreitend ausgetauscht. Alles in allem bleiben Investitionen jedoch noch immer durch einen „home bias“ gekennzeichnet. Eine Eigenkapitalbeteiligung in vertrauter heimischer Nähe wird in der Regel noch immer einem Engagement in der unbekannten Ferne vorgezogen. Genauso wenig sind Arbeitskräfte international mobil. Obwohl innerhalb der Europäischen Union die grenzüberschreitende Freizügigkeit für Arbeitskräfte ein konstituierendes Grundrecht ist, bleiben die Europäer(innen) am liebsten zu Hause, selbst wenn sie andernorts besser verdienen oder eher eine Beschäftigung finden könnten. Ganz besonders gering ist die interkontinentale Migration. Zwar erlangen die Bootsflüchtlinge aus Afrika immer wieder eine mediale Aufmerksamkeit. Gemessen an den absoluten Bevölkerungszahlen bleiben die internationalen Wanderungsbewegungen jedoch relativ unbedeutend. Bei einer Weltbevölkerung von insgesamt etwas mehr als sechs Milliarden leben gerade einmal drei Prozent oder etwa 200 Millionen Menschen nicht in ihrem Heimatland. Dabei finden die stärksten Wanderungsbewegungen zwischen unmittelbaren Nachbarländern statt. In Afrika, Asien und Lateinamerika spielen politische Gründe in aller Regel eine wesentlich stärkere Rolle als die Globalisierung der Wirtschaft.
… folgt nun die zweite Welle der Globalisierung
Seit wenigen Jahren rollt nun jedoch eine neue Welle der Globalisierung auf breiterer Front, beschleunigt und ungebremst auf die europäischen Küsten zu. Sie richtet sich nicht mehr auf die Gütermärkte, die bereits in sehr hohem Maße globalisiert sind. Sie zielt auf die Faktormärkte und hier insbesondere auf die Managementfunktionen. Sie wird die nationalen Schutzwälle der europäischen Kapital- und Arbeitsmärkte wegspülen. Zunächst und seit einiger Zeit bereits im Gange werden sich ausländische Investoren – nicht nur aus den USA oder Japan, sondern auch aus Korea, China und Indien sowie aus den erdöl- oder -gasexportierenden Ländern des arabischen Raumes – an europäischen Firmen beteiligen. Dabei werden sie sich nicht wie in der Vergangenheit mit einer stillen Teilhabe an deren Erfolgen begnügen und sich mit Dividenden und unsicheren Wertsteigerungen zufrieden geben. Die Eigenkapitalbeteiligungsfirmen wollen den Kurs und die Richtung der europäischen Unternehmen entscheidend mitbestimmen. Es geht ihnen darum, durch eigenes oder ein von ihnen eingesetztes und streng kontrolliertes Management stille Reserven zu heben, die betriebswirtschaftliche Effizienz zu fördern, um dann im richtigen Moment ein saniertes und gesundes Unternehmen mit maximalem Gewinn verkaufen zu können. Oft werden Eigenkapitalbeteiligungsfirmen als „Heuschrecken“ verunglimpft. Dabei spielen sie in der Regel eher die Rolle einer Gesundheitspolizei. Sie sorgen letztlich dafür, dass knappe Ressourcen nicht verschwendet, sondern besser genutzt werden und dass kranke Unternehmen wieder eine Überlebenschance erhalten.
Folgen der ersten Globalisierungswelle
Die Globalisierung öffnete nationale Märkte dem internationalen Wettbewerb. Der starke Druck der weltweiten Konkurrenz sorgte dafür, dass geringere Kosten in Form tieferer Preise an die Kunden weitergegeben werden mussten. Tiefere Preise erhöhten die reale Kaufkraft der Löhne. Die steigende Arbeitsproduktivität als Folge der weitreichenden Spezialisierung und des dadurch weiter beschleunigten technologischen Fortschritts sorgte zusätzlich für steigende Reallöhne der Beschäftigten. Als Ergebnis verbesserte die Globalisierung in den letzten 50 Jahren den Lebensstandard für die überwiegende Mehrheit der Menschheit. Heute lebt ein kleinerer Teil der Menschheit in absoluter Armut als jemals zuvor in der Weltgeschichte. Und noch nie hatten so viele Menschen so gute Lebensbedingungen wie heute.
Zwischen 1950 und 2000 ist die Weltwirtschaft schneller gewachsen als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte.2 Das Weltsozialprodukt hat sich – in realen Werten gemessen – versechsfacht mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von rund vier Prozent. Vergleichsweise dazu erreichte die jährliche reale Wachstumsrate in der Periode von 1913 bis 1950 weniger als zwei Prozent, was nur zu einer Verdoppelung des Weltsozialprodukts reichte. Besonders erfreulich verlief die Periode 1950 bis 2000 für die Weltregionen Asien (ohne Japan) mit über fünf Prozent realem Wachstum pro Jahr und Lateinamerika mit leicht über vier Prozent. Afrika schaffte zwar jährlich nur rund 3,5 Prozent reales Wachstum, was aber immer noch deutlich über den 2,7 Prozent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lag.
An dieser Stelle beginnt gemeinhin die Fundamentalkritik der Globalisierungsgegner. Sie verweisen darauf, dass das Wachstum der Weltwirtschaft in der Nachkriegszeit nur einseitig den reichen Ländern zugute gekommen sei und dass die ärmeren Länder immer weiter zurückfallen würden. Gerne wird dabei auf die Wachstumsschere hingewiesen, die sich bei einem Pro-Kopf-Vergleich ergibt. So liegt das Pro-Kopf-Einkommen in Afrika südlich der Sahara 2005 im Durchschnitt bei weniger als 2000 „international vergleichbaren“ Dollar. Das sind lediglich etwa fünf Prozent des US-amerikanischen Niveaus (von knapp 42 000 Dollar).3 Es ist tatsächlich ein schwacher Trost, dass in der ersten Hälfte des laufenden Jahrzehnts die Wirtschaftsleistung in den am wenigsten entwickelten Ländern am stärksten gewachsen ist. Der Aufholprozess bleibt sehr schwach und in einzelnen Ländern, vor allem in Afrika südlich der Sahara stockt er.
An der enorm weit geöffneten und aus moralischer Sicht viel zu breiten Wachstumsschere besteht kein Zweifel. Es ist völlig unbestritten, dass es weltweit noch immer viel zu viel Hunger, Massenelend, Armut, Unfreiheit und Unterdrückung gibt. Dafür aber die Globalisierung verantwortlich zu machen, heißt jedoch, Ursache und Wirkung durcheinander zu bringen. Die Globalisierung hat die Massenarmut in Afrika, Asien oder Lateinamerika nicht verursacht. Sie hat – im Gegenteil – auch und gerade diesen ärmeren Ländern erlaubt, den durchschnittlichen Lebensstandard zu erhöhen. Das gilt nahezu in jedem Fall für die absoluten Zustände, wenn sie mit den Zuständen der Vergangenheit vor Ort verglichen werden. Es stimmt vielfach auch für die relativen Vergleiche zu den Lebensbedingungen in benachbarten höher entwickelten Regionen. Eine Teilhabe an den Erfolgen der internationalen Arbeitsteilung fördert das Wachstum. Wachstum wiederum verringert Armut und Elend. Gerade die afrikanische Tragödie sollte uns eines lehren: Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts!
Globalisierung bringt nicht allen Ländern und schon gar nicht allen Menschen gleich viel Reichtum. Sie hat aber dafür gesorgt, dass heute mehr Menschen länger und besser leben als jemals zuvor in der Weltgeschichte. So stieg die durchschnittliche Lebenserwartung für Neugeborene in der Periode von 1950 bis 2000 in Afrika von 38 auf 52 Jahre und in Asien von 40 auf 66 Jahre.4 Für die Länder südlich der Sahara hat sich in den letzten fünf Jahren die Situation, vor allem auch der Aids-Erkrankungen wegen, verschlechtert. Im Jahr 2004 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 46 Jahren für männliche und bei 47 Jahren für weibliche Neugeborene.5 Etwas Hoffnung macht hier jedoch, dass die Sterblichkeit in den ersten fünf Lebensjahren von 185 von 1000 Kleinkindern im Jahr 1990 auf 168 von 1000 Kleinkindern im Jahr 2004 gesunken ist.6 Ebenso ist die Massenarmut zwar keineswegs beseitigt, aber doch geringer geworden. Musste 1978 rund ein Drittel der Weltbevölkerung mit weniger als zwei Dollar pro Tag leben, sind es heute „nur“ noch etwa 20 Prozent.7
Die verbesserten Lebensbedingungen für viele haben zunächst mehr mit Wachstum und weniger mit Verteilung zu tun. Dass innerhalb einiger ärmerer Länder die Ungleichheit weiter steigt, ist in der Regel nicht die Folge der Globalisierung, sondern im Gegenteil oft die Konsequenz geschlossener Gesellschaften, in denen sich Machtmissbrauch, Korruption und Nepotismus breit gemacht haben. In nichtglobalisierten Staaten sind die Menschen der Willkür und Ausbeutung der Machthaber mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert. Nordkorea, Kuba, Myanmar, früher das Taliban-Regime in Afghanistan oder heute einige afrikanische Länder veranschaulichen überdeutlich, welchen horrenden wirtschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen Preis die Massen für eine Abschottung von der Außenwelt zu bezahlen haben. Das mit der Globalisierung einhergehende Wachstum ermöglicht genau jene gesellschaftlichen Strukturen aufzubrechen, die für ökonomische Rückständigkeit und schwache politische Systeme verantwortlich sind.
Wenn sich Gesellschaften vom Joch diktatorischer Herrscher befreien oder wenn Volkswirtschaften beginnen, ihre beengenden nationalen Grenzen zu sprengen und sich Freiheit und Offenheit Bahn brechen, kann es in der Tat zunächst zu gewaltigen ökonomischen und sozialen Problemen kommen. Der mit der Globalisierung einhergehende Strukturwandel verursacht wirtschaftliche und gesellschaftliche Anpassungskosten. Es mag lange dauern, bis alte Verkrustungen überwunden sind und neue Strukturen zu greifen beginnen. Ein Großteil der Globalisierungskosten sind somit Kosten des Strukturwandels. Sie sind dann besonders hoch, wenn sich die nationale Wirtschaftspolitik nicht rasch und effizient genug an geänderte Rahmenbedingungen anpasst. Dieses Staats- und Politikversagen lässt sich nicht dadurch vermeiden, dass man die Globalisierung zu verhindern sucht. Es ist sinnvoller, an die Wurzeln des Übels zu gehen: an verkrustete nationale Strukturen. Das gilt übrigens gleichermaßen für höher und weniger entwickelte Volkswirtschaften.
Folgen der zweiten Globalisierungswelle
Die zweite Welle der Globalisierung erschüttert die Nationalstaaten des Industriezeitalters in ihren Grundfesten. Sie schränkt deren Macht zunehmend ein, wirtschaftliche Aktivitäten mit den territorial begrenzten Rechtsmitteln der Nationalstaaten zu regulieren. Die Globalisierung der Wirtschaft sprengt die Territorialität nationalen Rechts. Es kommt immer stärker zu einer Entmonopolisierung des Nationalen und einer schleichenden Entnationalisierung des Wirtschaftsrechts sowie der gesellschaftlichen Werte und Normen. Politische Landesgrenzen werden durch internationale Abkommen ausgehebelt. Wirtschaftliche Unternehmensidentitäten gehen durch einen raschen Wechsel der Besitzer und des Managements verloren. Die Führungskräfte von ausländischen Eigenkapitalbeteiligungsfirmen werden kaum mehr Verständnis für die lokalen Eigenarten ihrer Belegschaften zeigen. Nationale Mitbestimmungsregeln, Tarifkartelle und lange eingespielte Seilschaften werden ihnen fremd sein und bleiben. Sie werden nur so weit Rücksicht auf kulturelle, gesellschaftliche oder historische Befindlichkeiten nehmen, wie die Kosten der Rücksichtnahme geringer sind als die Vorteile in Form besser motivierter Mitarbeiter, besserer Reputation, höherer Umsätze oder wohlwollender politischer Behörden.
Die Globalisierung führt aber auch zu einer schleichenden Erosion staatlicher Macht. Der Nationalstaat hat nicht mehr das Zwangsmonopol, von seinen Staatsangehörigen alles und jedes einzufordern. Technologische Fortschritte im Transport-, Informations- und Kommunikationsbereich ermöglichen es, dass politische Grenzen einfacher überwunden oder leichter umgangen werden können. Ökonomische Aktivitäten erhalten zunehmend eine internationale, oft weltweite Dimension. Menschen können mit den Füßen abstimmen und das Land verlassen. Kapital wird im Ausland angelegt oder investiert. Eine „funktionale Mobilität bei personeller Immobilität“ ermöglicht eine immer stärkere räumliche Entflechtung von Wohnen und Arbeiten, Produktion und Konsum, Sparen und Investieren. Moderne Verkehrsmittel, leistungsfähige Telekommunikationsnetze, Satellitentechnologie, Internet und Cyberspace erleichtern es – zumindest innerhalb Europas –, Wohn- oder Geschäftssitz, Steuerdomizil und Bankkonto nach Belieben zu wählen. Traditionelle, oft hoheitlich erzwungene nationale Solidargemeinschaften werden aufgeweicht. Eine Loslösung individueller Entscheidungen von nationalen Sachzwängen, historisch gewachsenen standortspezifischen Werten, Normen, Moralvorstellungen und Verhaltensweisen wird für mehr und mehr ökonomische Sachverhalte möglich.
In der Vergangenheit war es relativ einfach, gesellschaftliche Verantwortung einzufordern. Der Staat konnte mehr oder weniger hoheitlichen Zwang ausüben. Es war schwierig, mit Sack und Pack abzuhauen oder mit der Firma ins Ausland zu gehen. Staatlicher Zwang, sozialer Druck oder die ökonomischen Kosten der Mobilität waren vergleichsweise hoch. Heute ist das anders. Weggehen ist billig geworden. Es ist vergleichsweise einfach geworden, die Familie, den Wohnort, die Heimat zu verlassen.
Schonungslos legt Herbert Giersch in seinem weltwirtschaftlichen Denkansatz dar, was die Folgen der zweiten Globalisierungswelle für den künftigen Stellenwert der Nationalstaaten bedeuten: „Nationen sind ein Erbe der Geschichte. Sie erscheinen als Stufe der Entwicklung von den kleinräumigen Gebilden und Gruppen der Vorzeit zu einer Weltgesellschaft der Zukunft. Wenngleich Nationen heute noch nicht ignoriert werden dürfen, treten sie doch schon in den Hintergrund.“8 Nationalstaaten versuchen auf die für sie wenig erfreulichen Folgen der Globalisierung zu reagieren, indem sie nach besseren, den neuen Zeiten angepassten Betriebsgrößen suchen. Sie geben Teile ihrer hoheitlichen Kompetenz nach oben ab. Internationale oder supranationale Organisationen – wie beispielsweise die Welthandelsorganisation (WTO) oder die Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union – sind politische Antworten auf die Folgen der Globalisierung. Sind es auch die richtigen Antworten?
Schon im nationalen Zusammenhang gibt es viele, die mit einem starken Staat die Globalisierung zähmen wollen. Man müsse der Globalisierung ein menschliches Gesicht geben. Man müsse mit strengen Regeln dafür sorgen, dass es nicht zu unfairem (Steuer-)Wettbewerb, Lohndumping, Sozialtourismus und einer Schwächung des Sozialstaats komme. Konsequenterweise wird deshalb nun mit dem Ruf nach einem Supranationalstaat auf die schleichende Erosion der nationalstaatlichen Macht reagiert. Mit weltweit verbindlich vorgeschriebenen Steuergesetzen, Arbeitsvorschriften, Umwelt- oder Sozialstandards soll die Globalisierung an die Kette genommen werden. Verschmutztes Wasser, saubere Luft, der Schutz der Tropenwälder, der Erhalt von Lebensräumen seltener Tiere, Kinderarbeit oder lange Arbeitszeiten werden als Vorwand genutzt, um sich „zu Sprechern für die armen Länder“ zu machen, wie es einer der weltweit führenden Ökonomen, der aus Indien stammende Jagdish Bhagwati, formuliert. „In Wahrheit sind das jedoch gar nicht die Ansichten der armen Länder, die hier vorgetragen werden – es sind unsere eigenen.“
Es wird zur Ironie der Geschichte, dass heute mit dem Argument des unfairen Wettbewerbs der Westen den Aufstieg neuer Konkurrenten bremst. Lange Zeit war das Argument gerade andersherum verwendet worden. Da hatten die armen Länder über die Marktmacht, den unfairen Wettbewerb, die Ausbeutung und die Verdrängung der reichen Länder geklagt. Es ist die große Illusion und falsche Hoffnung, die neue Welt würde auf den starken Staat des alten Europas warten. Die Menschen außerhalb Europas wollen und lassen sich nicht mehr in den engen Käfig kleiner nationaler Märkte zurücksperren, aus dem sie sich gerade eben befreit haben. Sie wollen teilhaben an den Früchten der internationalen Arbeitsteilung. Sie wollen die Regeln der Globalisierung mitgestalten.
Was immer als Kampfmittel gegen die „Auswüchse der neoliberalen Globalisierung“ von den Streitern für eine „gerechtere Weltordnung“ aus dem Arsenal geholt wird, schießt am Ziel vorbei. Der wirkliche Konflikt um die Folgen der Globalisierung spielt sich nicht zwischen ärmeren und reicheren Ländern ab. Er zeigt sich innerhalb der Länder zwischen den Gewinnern und Verlierern des Strukturwandels. Wer Wohlstand und verbesserte Lebensbedingungen für alle will, muss den Mut haben, im Inland um Vertrauen in die positiven Effekte des Strukturwandels zu werben. Dabei ist die Globalisierung eine Hilfe und nicht ein Hemmnis. Sie erlaubt, die Folgen des Strukturwandels besser abzufedern. Sie ermöglicht mehr Wachstum und erleichtert somit die Unterstützung gerade auch der Verlierer des Strukturwandels. Globalisierung schafft die günstigste Voraussetzung für bessere Lebensbedingungen für alle.9 Sie erfüllt also genau jenes Ziel tatsächlich, das die Antiglobalisierungs-Bewegung nur vorgibt zu erreichen, indem sie fälschlicherweise die Globalisierung als „täglichen Terror“ brandmarkt und mit allen Mittel zu verhindern sucht.
Das Erfolgsrezept
„Manche Leute sagen, wir müssten eine Pause einlegen und über die Globalisierung diskutieren. Wir könnten genauso gut darüber diskutieren, ob denn der Herbst auf den Sommer folgen soll“, rief Tony Blair seiner Labour Party zu. Die Globalisierung wird weitergehen, und zwar eher beschleunigt als gebremst. Sie wird unser Leben eher mehr als weniger bestimmen. Sie wird weitere und neue Bereiche, vor allem bei den Dienstleistungen, mit einbeziehen, wie beispielsweise das Bildungswesen, das Gesundheitswesen oder die Versicherungswirtschaft. Entscheidend wird nicht sein, ob die Globalisierung immer rascher immer weitere Kreise ziehen und das Tempo des Strukturwandels noch einmal zunehmen wird. Entscheidend wird sein, ob wir uns bereits im Sommer auf den Winter vorbereiten, ob wir Vorkehrungen treffen, Voraussetzungen schaffen, um auch kältere Tage sorglos und mit viel Spaß und Freude zu erleben und nicht nur mit letzter Kraft und Reserve zu überleben.
Andere, auch kleinere Länder, haben vorgemacht, wie es geht. Man kann auch als westliche Gesellschaft gegen die neue Konkurrenz aus aller Welt standhalten. Australien und Neuseeland als unmittelbare Nachbarn zu Südostasien gedeihen prächtig. In den USA und Großbritannien findet sich wenig vom kontinentaleuropäischen Pessimismus und Attentismus. In Skandinavien sind die Menschen glücklich und zufrieden wie eh und je. In Osteuropa genießt die Bevölkerung die neu gewonnene Freiheit. Was ist das Rezept erfolgreicher -Gesellschaften?
In Skandinavien, in angelsächsischen Ländern, aber auch in den kleineren kontinentaleuropäischen Staaten, vor allem im Osten Europas haben die Menschen begriffen, dass nationale Schutzwälle der Globalisierung nicht standhalten können. Dass es klüger ist, weniger die Bedrohung als vielmehr die Chancen der Globalisierung zu thematisieren. So wie es Tony Blair gefordert hat: „Die Chancen gehen nur an diejenigen, die vorn dabei sind, wenn es darum geht, sich anzupassen. Und die hinten stehen, wenn es darum geht, sich zu beklagen. Die offen sind und bereit sich zu wandeln.“ Es wäre gut, wenn nicht nur die Briten, sondern auch die Deutschen die Botschaft der Globalisierung richtig verstehen würden.
Prof. Dr. THOMAS STRAUBHAAR, geb. 1957, ist Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und lehrt Volkswirtschaft an der Universität Hamburg.
- 1Herbert Giersch: Standortwettbewerb im Prozeß der Globalisierung, in: Rolf H. Hasse und Wolf Schäfer (Hrsg.): Die ökonomischen Außenbeziehungen der EWU (Währungs- und handelspolitische Aspekte), Göttingen 1998, S. 311–312.
- 2Vgl. hierzu die Daten von Angus Maddison: The World Economy: Historical Statistics. OECD, Paris 2006.
- 3Vgl. World Bank: World Development Report 2007, Washington 2006
- 4Vgl. hierzu die Daten von Angus Maddison (Anm. 2).
- 5Vgl. World Bank (Anm. 3)
- 6Ebd.
- 7Vgl. World Bank: World Development Report, verschiedene Jahrgänge.
- 8Herbert Giersch: Anmerkungen zum weltwirtschaftlichen Denkansatz, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 125, 1989, S. 1.
- 9Vgl. hierzu Thomas Apolte: Wohlstand durch Globalisierung: Warum wir offene Grenzen brauchen, München 2006.
Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 34 - 43.