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01. Mai 2019

Global, digital – national

Von Thomas Straubhaar

Die Volkswirtschaft ist tot, es lebe der Nationalstaat! So präsentiert sich die polit-ökonomische Großwetterlage. Was bedeutet das für unsere Demokratie?

Als „Slowbalisation“ bezeichnet die britische Wochenzeitung The Economist das Schneckentempo, mit dem sich die Globalisierung momentan bewegt. Eine zweifelsfrei zutreffende Veranschaulichung, wie weltweit die Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit mit dem Prinzip der gegenseitigen Marktöffnung und des internationalen Wettbewerbs an ­Dynamik verliert und wie spürbar das Pendel der Globalisierung zurückschwingt. Multilateralismus ist out. Re-Nationalisierung wird in. Strafzölle und Grenzmauern dominieren die aktuelle weltpolitische Diskussion.

Um zu belegen, wie der Globalisierung in der vergangenen Dekade die Puste ausgegangen ist, hat der Economist ein Dutzend Indikatoren zum Stand der Globalisierung zusammengetragen: von weltweiten Handelsnetzwerken über Aktivitäten multilateraler Unternehmen und deren grenz­überschreitenden Investitionen und Lieferketten bis hin zu Transaktionen auf internationalen Kapital- und Finanzmärkten. Das Ergebnis der Datenanalyse zeigt, dass die Verflechtungen der Weltwirtschaft heute weniger eng sind als vor der Finanzmarktkrise Ende des vergangenen Jahrzehnts. Bezogen auf die Wertschöpfung insgesamt waren 2017/18 die Handelsintensitäten, die Investitionen im Ausland durch Aufkäufe und Beteiligungen sowie die grenz­überschreitenden Kreditbeziehungen und Kapitaltransfers geringer als im Jahr 2007.

Am offensichtlichsten lässt sich die gegenwärtige Verlangsamung des Globalisierungstempos beim Güterhandel veranschaulichen. Das Welthandelsvolumen bezogen auf die gesamte Weltproduktion (also der Wert des Weltgüterhandels in Prozent des Welt-Bruttoinlandsprodukts) erreichte 1960 laut Daten der Weltbank 8,8 Prozent, 2008 jedoch 25,7 Prozent, also fast das Dreifache. 2017 waren es aber nur noch 22,1 Prozent und damit weniger als 2005 (mit 22,5 ­Prozent). Aktuell sieht es auch für das erste Quartal 2019 nach ­Angaben der Welthandelsorganisation nach einer weiteren Verlangsamung aus.

Daten statt Waren

Ein vertiefter Blick auf die Globalisierungsstatistiken offenbart jedoch eine Reihe weiterer bemerkenswerter Beobachtungen. So gibt es einige Indikatoren der internationalen Vernetzung, die im zurückliegenden Jahrzehnt durchaus zu- und nicht abgenommen haben. Zuallererst und nicht wirklich überraschend gilt das für den weltweiten Austausch von Daten. Nach einer Schätzung des McKin­sey Global Institute vom Januar 2019 dürfte sich das grenzüberschreitende Datenvolumen (gemessen in Terabits pro Sekunde) in den vergangenen zehn Jahren nahezu vervierzigfacht haben. Und mit der wachsenden Bedeutung des Online-Handels hat sich die Anzahl der weltweit versandten Pakete etwa verdreifacht.

Ebenso sind die internationale Mobilität von Personen und eng damit verbunden die grenzüberschreitende Migration von Arbeitskräften im letzten Jahrzehnt weiter gestiegen. Mehr Menschen als jemals zuvor reisen ins Ausland, machen dort Urlaub oder verlassen ihre Heimat sogar für längere Zeit, um anderswo ihr Glück zu suchen. So lebten 2017 rund 260 Millionen Menschen, also rund 3,4 Prozent der Weltbevölkerung, dauerhaft im Ausland – 2005 waren es noch 190 Millionen Personen (oder rund 2,9 Prozent der Weltbevölkerung) gewesen.

Ganz offenbar ist die Globalisierung nicht am Ende. Aber sie ändert gerade gewaltig ihr Profil. Für Dienstleistungen, die oft mit Migration einhergehen, und die Datenwirtschaft steht die Globalisierung am Anfang. Das zeigt sich auch daran, dass bereits in der letzten Dekade der grenz­überschreitende Dienstleistungshandel keine Anzeichen eines Kriechgangs zeigte und weit schneller gewachsen ist als der Warenhandel. ­Datentransfers ergänzen und ersetzen immer mehr physische Güterströme; sichtbare Transaktionen werden stärker durch unsichtbare Dienstleistungen verdrängt.

Outsourcing war einmal

Zentralisierung war Ursache und Folge der Globalisierung. Die Fixkosten der (industrialisierten) Güterproduktion – also die hohen Kosten der Produktionsanlagen, Fertigungsstraßen und Maschinen – verlangten nach Fabriken, in denen Massen von Beschäftigten aktiv tätig waren, um Massen von Produkten herzustellen. Von einem (einzigen) Standort aus wurden dann möglichst hohe Stückzahlen hergestellt. Eine maximale Auslastung erlaubte es, Durchschnittskosten zu senken und dadurch Vorteile der Massen- und Verbundproduktion zu nutzen. Was zentral vor Ort gefertigt wurde, musste dann in immer größer werdenden Transportsystemen über weite Entfernungen zur Weiterverarbeitung und zum Kunden gefahren werden.

Wie eine Karawane zog die Konsumgüterindustrie in den letzten Jahrzehnten von einem Billiglohnland in Asien zum nächsten. Outsourcing war das Motto. Damit war gemeint, die Wertschöpfungskette in immer kleinere Glieder zu zerlegen und jedes einzelne Glied dort zu ­produzieren, wo es am billigsten ist. Die um die Schwellenländer verlängerten industriellen Werkbänke ermöglichten eine immense Spezialisierung, was noch einmal zusätzlich erlaubte, von Größenvorteilen zu profitieren. Fixe Kosten wie Fabrikgebäude, Produktionsanlagen oder Anlern- und Ausbildungskosten für die Beschäftigten konnten so auf immer größere Stückzahlen umgelegt werden, was die Durchschnittskosten weiter massiv verringerte.

Hochwertige Maschinen, Apparate und Fahrzeuge, auch spezielle Halbfabrikate und Vorleistungen, wurden in den USA oder Europa hergestellt. Dann wurden sie in Containern nach Asien verschifft, zunächst nach Japan und Korea, danach China, Indien, Taiwan, Vietnam und Bangladesch. Dort wurden sie von billigen Arbeitskräften weiterverarbeitet zu Schuhen, Kleidung, Elektroartikeln, Spielzeug, Smartphones oder Autos, die dann in Teilen wiederum in von Jahrzehnt zu Jahrzehnt riesiger werdenden Containerschiffen zum Endkunden zurück nach Europa und in die USA verfrachtet wurden.

Heute geht es um Digitalisierung

Die Billiglohnland-Strategie der Nach-kriegszeit neigt sich ihrem Ende zu. Das haben die weltweit größten Beraterfirmen McKinsey und die Boston Consulting Group auf getrennten Wegen, basierend auf Analysen der Wertschöpfungsketten ihrer rund um die Erde tätigen Kunden und Partner, aus verschiedenen Gründen festgestellt:

Erstens, weil auch in Asien Lohn- , Umwelt- und Sozialkosten steigen. Zudem müssen die asiatischen Länder, insbesondere China und ­Indien, mit Blick auf ihre stark wachsenden Bevölkerungen immer mehr selber und für den Eigenbedarf produzieren, um mehr Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen, das sie mit Einkommen aus eigener Arbeit auch selber finanzieren können. „Zhongguo (Reich der Mitte) 2025“ heißt die Doktrin der Regierung in Peking, die China in Kürze vom Ausland weniger abhängig machen will, als es heute der Fall ist.

Zweitens haben der in den vergangenen zehn Jahren aufkeimende Nationalismus und der grassierende Protektionismus mit drohenden Handelskonflikten und Strafzöllen tiefe Bremsspuren hinterlassen. Globalisierungsstrategien sind für Firmen mit mehr Risiken und entsprechend höheren Kosten verbunden.

Drittens, und vor allem, torpedieren digitale Technologien die alte Billiglohnland-Strategie. Firmen nutzen digitale Technologien zur Dezentralisierung und holen die Produktion zurück zum Kunden. Wenn eh alles, was sich in der Produktion automatisieren oder standardisieren lässt, durch Roboter billiger als durch Menschen erledigt werden kann – was selbst dann gilt, wenn, wie teilweise in Asien, nur Hungerlöhne bezahlt werden –, dann werden die teuren Roboter dort stehen, wo sie am sichersten sind vor politischen Übergriffen, in der Nähe ihrer Kunden und nahe beim Personal, das sie wartet und mit neuer Software füttert. So sorgen Roboter, Big Data und Hightech dafür, dass „Made in Europe“ wieder zu attraktiv geringeren Kosten möglich wird.

Boston Consulting schätzt, dass digitale Technologien dazu führen, dass bei Massenprodukten die Lohnstückkosten, also der Lohnanteil an den gesamten Herstellkosten von Schuhen, Kleidung, Geräten und Maschinen, bis zu 30 Prozent geringer werden. Löhne verlieren somit bei Standardgütern, nicht bei qualitativ hochwertigen (Dienst-)Leistungen, verglichen mit anderen Kosten an Bedeutung –was auch heißt, dass bei Massengütern Transportkosten, wozu auch lange Lieferzeiten, Verzugs- und Versicherungskosten gehören, stärker ins Gewicht fallen.

Produktion in Kundennähe

Digitalisierung und ­Datenökonomie lassen somit lokale Produktion in Kundennähe wieder wichtiger werden. Sportschuhe liefern für diese Entwicklung ein einschlägiges Beispiel. So können Füße vor Ort vermessen und dann – auch unter Zuhilfenahme von 3D-Druckern – gleich passgenau maßgeschneidert und nahezu ohne Wartezeit direkt ausgeliefert werden.

Es entstehen hybride Firmen, also Betriebe ohne fest abgrenzbare Strukturen bei Standort und Personal, die ihre nationalen Wurzeln verlieren und wirklich zu globalen Unternehmen mutieren, um auf der ganzen Welt dezentral für lokale Kunden Leistungen zu erbringen.

Unternehmensangehörige ­werden noch mehr verstreut sein. Wer in Asien oder Lateinamerika sitzt, tauscht digital mit dem Hauptquartier in Europa Daten aus, und zwar nicht als lokale Billigarbeitskraft, sondern auf Augenhöhe mit den Fachkollegen im Norden. Was mit den Callcentern in Indien begann, wird zu globalen Plattformen für hochqualifizierte Spezialisten weiterentwickelt, die simultan, aber örtlich voneinander unabhängig aus einer Vielzahl von Standorten komplexe Bausteine zu Forschung und Entwicklung, Finanzierung und Versicherung, Betrieb, Unterhalt und Wartung beisteuern. Um Qualitätsstandards zu sichern, entsenden westliche Unternehmen für die Endproduktion materieller Güter eigene Fachkräfte – meist temporär und fallweise – in die Absatzländer oder sie heuern gleich, und dann auch längerfristig, gut ausgebildete Spezialisten oder lokale Partnerfirmen aus den Absatzländern an, die besser als andere wissen, wie die dortigen Kunden ticken.

Die Digitalisierung macht eine Verlagerung von zentraler zu dezentraler Wertschöpfung attraktiver. Weniger Con­tainer, dafür mehr Internet; weniger Verlagerung von Arbeit in Billiglohnländer, um Lohnkosten zu sparen, dafür mehr globaler Austausch von Bits and Bytes; Wissen, Daten und mehr dezentrale Produktion vor Ort beim Kunden, um mit maßgeschneidert vor Ort hergestellten kundengerechteren Speziallösungen Qualität und Nutzerzufriedenheit zu verbessern: So arbeiten wirklich globale Firmen. Deglobalisierung und Dezentralisierung werden die Folgen sein. Sie werden die Zukunft prägen.

Grenzen werden niedergerissen

Daten machen die Welt zum Dorf und Fabriken zu hybriden Gebilden. Leistungserbringung, Datenproduktion, -verarbeitung und -bewertung, Diagnosen und Therapien, Information und Kommunikation können heutzutage losgelöst von fixen Standorten, Unternehmensbüros oder Fabrikgeländen irgendwo dezentral erfolgen. Spezialisierte Datenfirmen sind in der Lage, von kleinen Büros aus, räumlich voneinander unabhängig, aber global vernetzt, standortunabhängig weltweit aktiv zu sein – durchaus auch mehr oder weniger gleichzeitig für unterschiedliche Auftraggeber. Dadurch verlieren Raum und Territorialität an Bedeutung.

Alles und jedes ist in Echtzeit überall bekannt und verfügbar. Staatsgrenzen verschwimmen und Unternehmensgrenzen verschwinden, digitale Firmen entstehen. Noch sind digitale Staaten Utopie, aber vielleicht bald schon können sie Wirklichkeit werden.

Loslösung ist das Wesen von Digitalisierung und Datenwirtschaft. Ökonomische Aktivitäten entbinden und entgrenzen sich gleichzeitig von Dingen, Fabriken, Standorten oder Wirtschaftsräumen. Sie werden „entdinglicht“, wenn Daten statt Güter produziert, gehandelt und verkauft werden – also beispielsweise Musik nicht mehr auf Schallplatten, sondern über Spotify angeboten wird. Sie werden „entterritorialisiert“, wenn mehr und mehr Glieder der Wertschöpfung von der Erde in virtuelle Wolken (Clouds) des Orbits verlagert werden, wenn beispielsweise Professoren nicht mehr in Hörsälen unterrichten, sondern Studierende die Angebote virtueller Online-Universitäten nutzen. Und sie werden „entstaatlicht“, weil das weltweite Internet keine physischen Grenzen und damit auch keine Landesgrenzen, Volkswirtschaften oder gar Nationalökonomien mehr kennt.

Das Ende der Volkswirtschaft und die Rückkehr des Nationalismus …

Die Volkswirtschaft ist tot, es lebe der Nationalstaat! So etwa präsentiert sich die polit-ökonomische Großwetterlage der Gegenwart. Faktisch haben erst die Globalisierung und nun die Digitalisierung Nationalökonomien ausgehebelt. Sie haben ­Grenzen niedergerissen und das Standortbindende von Produktion und ­Absatz überwunden. In der Wirtschaft hat das globale das nationale Denken und Handeln abgelöst.

Wenn sich die Wirtschaft von Orten, Personen, Firmen und Volkswirtschaften löst, digitale Wertschöpfung in virtuellen Clouds und Internet nicht mehr verlässlich fixen Quellen zugeordnet werden kann und unsichtbare Daten anstelle dinglicher Produkte im Orbit gehandelt werden, wirken Analysen altbacken und überholt, die sich an räumlich abgrenzbaren Nationalökonomien orientieren. Die Datenökonomie entzieht sich nationaler Staatlichkeit in immer mehr wesentlichen Teilen.

Ganz anders präsentiert sich heutzutage die Politik. In ihr schwingt gegenwärtig das Pendel weit in das Nationalistische zurück. Teile der Bevölkerung erwarten, dass der Nationalstaat sie vor dem Neuen und dem Fremden schützt. Dadurch entstehen Spannungen und Verwerfungen. Der Staat soll Erwartungen erfüllen, für die er zwar de jure zuständig sein mag, auf die er aber de facto kaum mehr Einfluss hat – wie beispielsweise die Transaktionen in einem welt­umspannenden Internet mit seinen virtuellen Wolken.

… werden zum Lackmustest der Demokratie

Zwischen räumlich fixierten Volkswirtschaften und grenzenlosen digitalisierten Ökonomien öffnen sich Gräben, die immer breiter werden und zu Rissen innerhalb nationalstaatlich organisierter Gesellschaften führen können – wie exemplarisch mit dem Brexit erkennbar. „Welche res publica, welcher common ground verbindet uns heute noch, was ist die gemeinsame Grundlage, das öffentliche Interesse, über das wir demokratisch befinden sollen?“, fragt zu Recht der Hamburger Ökonom Henning Vöpel. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Xavier Sala-i-Martín, Professor an der New Yorker Columbia University, sieht durch den technischen Fortschritt gar die Grundlagen der westlichen Werteordnung bedroht: „Es ist sehr gut möglich, dass der Sieg von Demokratie und Märkten im 20. Jahrhundert eine Ausnahme bleiben wird. … Märkte und auch die Demokratie haben sich nicht durchgesetzt, weil sie moralisch überlegen wären, sondern weil sie effizienter waren.“

Folgerichtig müssen sich liberale Demokratie und soziale Marktwirtschaft im Zeitalter der digitalisierten Globalisierung daran messen lassen, ob und wieweit sie besser als private Monopole des Big Business, aber auch besser als ein Big Brother autokratischer zentralwirtschaftlicher Planungsregimes in der Lage sind, Wohlstand für alle zu erzeugen und ihn für die Kindeskinder zu sichern. Kein einfach zu bestehender Lackmustest für Institutionen, die ihre Geburtsstunde in längst vergangenen Zeiten hatten, weit vor der Digitalisierung und Datenökonomie.

Prof. Dr. Thomas Straubhaar lehrt internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Uni Hamburg. Soeben erschien „Die Stunde der Optimisten. So funktioniert die Wirtschaft der Zukunft“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 76-81

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