Globale Wirtschaftsanarchie
Buchkritik
Prostitution, organisiertes Verbrechen, Menschenhandel: Die Liste der Schattenwelten der Globalisierung ist lang. Doch gab es all das mutatis mutandis schon zu Zeiten der industriellen Revolution. Und wie damals könnte sich auch heute erweisen, dass dort, wo Gefahr ist, auch das Rettende wächst.
Bereits vor vier Jahren hat Loretta Napoleoni ein Aufsehen erregendes Buch vorgelegt, das erstmals die ökonomischen Dimensionen des internationalen Terrorismus in ihrer ganzen Bandbreite untersuchte. Damals gelangte die italienische Wirtschaftswissenschaftlerin zu einer ganzen Reihe von bemerkenswerten Ergebnissen: Auf rund 1,5 Billionen Dollar oder fünf Prozent des Weltsozialprodukts schätzte sie das Volumen der „New Economy of Terror“, der Neuen Ökonomie des Terrors. Dies entsprach 2004 der doppelten Wirtschaftskraft Großbritanniens und dem dreifachen Umfang der Geldmenge der Vereinigten Staaten.
Nun dehnt die Autorin ihr Untersuchungsfeld noch weiter aus. Nicht mehr allein die Verflechtungen von Wirtschaft und Terrorismus, sondern die Schattenwelten und damit die Schattenseiten der Globalisierung sind jetzt ihr Thema. Und auch hier wirken die von Napoleoni zusammengetragenen Zahlen einigermaßen erschreckend: So wird etwa allein der jährliche „Wert“ der weltweiten Prostitution auf 52 Milliarden Dollar geschätzt. Ende der neunziger Jahre lebten zudem rund 27 Millionen Menschen versklavt – ein industrielles Niveau, das nicht einmal im transatlantischen Sklavenhandel erreicht wurde. „Beruhigend“, weil vertraut, wirkt da allein die historische Dimension von Napoleonis Schilderungen. Denn der von ihr beschriebene anarchische Zustand der Wirtschaft ist zwar zum ersten Mal auf globaler Ebene zu beobachten. Aber in geringerem Ausmaß gab es ihn auch schon früher. Bereits die industrielle Revolution hat zu einer massiven wirtschaftlichen Umwälzung geführt, die von Gier und uneingeschränkter Ausbeutung bestimmt wurde. Hier finden sich zahlreiche Kennzeichen des aktuellen wirtschaftlichen Umbruchs wieder: ungleiche Einkommensverteilung, Umweltverschmutzung, Piraterie, Sklaverei, Prostitution, Korruption, Betrug oder organisiertes Verbrechen. Aber auch die positiven Folgen ähneln der heutigen Situation: ein massives Wirtschaftswachstum und ein enormer technischer Fortschritt.
Hoffnungsvoll lässt Napoleoni eine weitere Folge der industriellen Revolution in die Zukunft blicken: Am Ende profitierten auch die ärmsten Schichten der Gesellschaft, die Enkel der hungernden Landbevölkerung, die in die Städte abgewandert waren und dort unter erbärmlichen Bedingungen in Arbeitshäusern schufteten. Ihre wirtschaftliche Ausbeutung ebnete den Weg für Arbeitervereine und Gewerkschaften, welche die Rechte ihrer Mitglieder gegen die Industriellen verteidigen wollten. Schließlich brachte das Wirtschaftswachstum Wohlstand, und die Gewerkschaften handelten bessere Arbeitsbedingungen und Arbeitsverträge aus.
Ein ähnliches Szenario sieht Napoleoni für die zweite Globalisierung voraus. Ihre Gewinner könnten die Bevölkerungen Chinas und der islamischen Länder sein, die gegenüber dem Westen in Fragen von politischer wie wirtschaftlicher Teilhabe viel nachzuholen haben. Auch ihr Gesellschaftsvertrag der Postglobalisierungsära wird eine klare Trennung zwischen Staat und Individuum verlangen. Während der Einzelne im Handel und in der Wirtschaft weitgehend freie Hand haben dürfte, wird der Staat das Monopol der Politik beanspruchen, einschließlich der Außen- und Finanzpolitik.
Zentralregierungen werden wichtige Aufgaben wie die Besteuerung an lokale Behörden abgeben. Sie behalten allerdings das Monopol auf die Verteidigung. Im Austausch für ihren Schutz werden die Gemeinden einen Teil ihres Reichtums an die Zentralregierung abgeben. Ein Szenario, das vor dem Hintergrund der transnationalen Geschichte von EU, NATO, ASEAN und AU nicht unwahrscheinlich ist. Und ein Szenario, das auch in der noch weitgehend nationalen Welt islamischer Staaten angesichts ihrer aktuellen Umbrüche durchaus denkbar scheint.
Loretta Napoleoni: Die Zuhälter der Globalisierung. Über Oligarchen, Hedge Fonds, ‘Ndrangheta, Drogenkartelle und andere parasitäre Systeme. München: Riemann 2008, 384 Seiten, 19,00 €
Dr. THOMAS SPECKMANN, geb. 1974, ist Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen und Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Internationale Politik 7-8, Juli/August 2008, S. 169 - 170