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01. Febr. 2008

Gesucht: Ein neuer Realismus

Wie lassen sich die Beziehungen zwischen EU und Russland wiederbeleben?

Vieles wurde in Angriff genommen, wenig hatte Erfolg: Von der „strategischen Partnerschaft“ bis zur Energiepolitik liegen zahlreiche Kooperationsprojekte der EU mit Russland auf Eis. Das heißt jedoch nicht, dass die Bemühungen um Partnerschaft mit der Russischen Föderation aufgegeben werden sollten. Nötig ist ein kreativer Neubeginn.

Die jüngsten Parlamentswahlen in Russland sind nach einhelligem Urteil der europäischen Institutionen in großem Umfang von der regierenden Kremlpartei manipuliert worden. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.12.2007) wendet sich der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier gegen Vergleiche zwischen den Standards der westeuropäischen Demokratien und den Entwicklungen in Russland. Mit dem Abschied von einer Russland einbeziehenden demokratischen Wertegemeinschaft in Europa, die in diesen Äußerungen Steinmeiers zum Ausdruck kommt (und in der auch das Schrödersche Fehlurteil über Putin als „lupenreinen Demokraten“ keinen Platz mehr hat), wird die Tür für eine pragmatische Politik der Europäischen Union gegenüber der Russischen Föderation geöffnet.

Aber lassen sich die immer deutlicher werdenden Demokratiedefizite Russlands aus der Gestaltung der Gesamtbeziehungen mit Russland ausblenden? Wohl kaum! Eine Russische Föderation, die sich von der demokratischen Werteordnung Europas abwendet und immer mehr zur „Scheindemokratie“ wird, kann zum Beispiel schwerlich einen legitimen Sitz im Europarat beanspruchen, der ja an die Geltung der europäischen Werteskala gebunden ist.

Große Konzepte wie die der „strategischen Partnerschaft“ und der „gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit“ haben in einer Phase nüchterner Bilanzierung gemeinsamer und unterschiedlicher Interessen an Überzeugungskraft verloren. Mittel- oder langfristig aufgegeben werden sollten sie jedoch nicht. Dieser gravierende Wandel der Rahmenbedingungen liegt vor allem an den politischen Veränderungen, die mit dem „System Putin“ in Russland eingetreten sind. Politische Sonderwege nach und mit Moskau, zu denen ein nicht unwesentlicher Teil des politischen Establishments in Berlin neigt, sind mit einer auf die europäische Solidarität achtenden Politik kaum vereinbar.

Hat das Partnerschaftsabkommen eine Zukunft?

Das am 1.12.1997 in Kraft getretene Abkommen der Europäischen Union mit Russland über Partnerschaft und Kooperation lief am 30. November 2007 aus. Es verlängert sich automatisch um ein Jahr, es sei denn, eine Seite kündigt das Abkommen. Die Aufnahme neuer Verhandlungen wurde lange von der Kaczynski-Regierung in Polen blockiert. Die neue polnische Regierung hat den Weg jetzt wieder freigemacht. Damit steht das breite Spektrum der Zusammenarbeit zur Debatte, für die im Jahr 2003 entsprechend der 1999 von der EU verabschiedeten Gemeinsamen Strategie ein „Ständiger Partnerschaftsrat“ mit regelmäßigen Gipfeltreffen und eine Vielzahl spezieller Fachgruppen gebildet worden waren, u.a. ein „Dialogforum zu Menschenrechts- und Minderheitenfragen“ und ein „Europäisches Aus- und Fortbildungsinstitut“ in Moskau. Die europäische Strategie ließ und lässt sich vom „Interesse Europas an der Zukunft Russlands“ leiten, was auch immer darunter zu verstehen ist. Gewiss sollten mit diesen Instrumenten Demokratie und Reformen in Russland gefördert werden.

Auf dem Weg zu einem neuen Realismus in den Beziehungen der EU mit Russland hat es auf beiden Seiten herbe Enttäuschungen gegeben:

  • Der im November 1990 in Paris zwischen den Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Paktes geschlossene Vertrag zur Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) hat für Moskau mit der Auflösung des Warschauer Paktes einen strategischen Bedeutungsverlust erfahren. Die Erweiterung der EU und der NATO nach Mittel- und Südosteuropa haben diesen -Bedeutungsverlust noch verstärkt. Die gegenseitige Blockade beim Ratifizierungsprozess des 1999 unterzeichneten „Angepassten Vertrags über die Begrenzung der Streitkräfte in Europa“ hat die strategische Schieflage aus Moskauer Sicht akzentuiert und letztlich im Dezember 2007 zur Kündigung des Vertrags durch Moskau geführt. Die Kündigung stellt potenziell ein erhebliches Sicherheitsrisiko für den europäischen Raum dar.
  • Die Charta von Paris, im November 1990 von den Staats- und Regierungschefs der an der KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) beteiligten Staaten unterzeichnet, sah die Transformation der Sowjetunion und der anderen im Warschauer Pakt und dem RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) mitwirkenden Staaten zu pluralistischen Demokratien, Marktwirtschaften und Staaten mit Gewaltenteilung vor. Der Warschauer Pakt, der RGW und die Sowjetunion lösten sich auf. Zu tragenden politischen Kräften in einigen der von der sowjetischen Vorherrschaft befreiten Ländern Ost- und Südosteuropas wurden nationale, zum Teil sogar nationalistisch orientierte Kräfte. Nur wenige Staaten konnten auf demokratische Traditionen zurückgreifen, denn unter dem Sowjetsystem hatten sich demokratische Kräfte kaum behaupten können – am wenigsten in der Sowjetunion: Auch die Gorbatschow-Reformen waren „top down“ initiiert worden, keineswegs „von unten“. Rückblickend muss man feststellen, dass der demokratische Transformationsprozess nur in den Ländern Fuß fassen konnte, deren Bevölkerungen und politische Eliten in EU und NATO strebten. Das zeigt nicht zuletzt der Reformprozess in der Ukraine, dessen wichtigster Motor die Hoffnung auf die EU-Mitgliedschaft ist, selbst in den früher eher nach Moskau orientierten östlichen Landesteilen. 
  • Die zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation getroffenen Abkommen sollten aus europäischer Sicht die „strategische Partnerschaft“ mit Leben erfüllen, die sich an dem strategischen Interesse Europas an der Zukunft Russlands orientiert. Mit anderen Worten: an dem Interesse, Russland auf dem Weg zu demokratischen Strukturen und in die internationalen Institutionen (G-8, WTO) „zu begleiten“. Ob eine solche Strategie angesichts der politischen Entwicklung Russlands allerdings noch Erfolg haben kann, ist eine offene Frage. In Russland selbst genießt die EU wegen ihrer allzu sichtbar eingeschränkten internationalen Handlungsfähigkeit kein großes Ansehen. Überdies ist Russland mittlerweile selbstbewusst genug, um seine Interessen eigenständig zu vertreten.

Auch die europäischen Initiativen zur Vertiefung der Partnerschaft mit Russland hatten Rückschläge zu verkraften. So ist die im Jahr 1998 in Kraft getretene Energiecharta, die eine Verflechtung von Interessen der Liefer- und Käuferländer in der Energiepolitik vorsieht, von Russland nicht angenommen worden. Die geplante Verzahnung der europäischen Energie- und Industriepolitik mit den entsprechenden russischen Strukturen ist damit vorerst gescheitert. Das gleiche Schicksal widerfuhr dem 2005 auf dem EU-Russland-Gipfel unterzeichneten Dokument „Die Wegekarten über die vier gemeinsamen Räume“, nämlich den gemeinsamen Wirtschaftsraum, den gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und der Rechtssprechung, den gemeinsamen Raum der äußeren Sicherheit und den gemeinsamen Raum der wissenschaftlichen Forschung, Bildung und kulturellen Zusammenarbeit. Moskau hat offenbar kein großes Interesse daran, die Gemeinschaftsinstitutionen der EU zu stärken – im Gegenteil. Seine Interessen auf energiepolitischem Gebiet sichert es vor allem durch bilaterale Abkommen. Zur strategischen Partnerschaft gehört auch die Bewältigung internationaler Krisenfälle – meist also die Zusammenarbeit zwischen den USA, der EU und Russland. Aber nur in den seltensten Fällen gelangen in letzter Zeit taktische Übereinkünfte.

Perspektiven

  1. Handlungsfähigkeit der Europäischen Union: Für die Gestaltung einer produktiven Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland ist die Verabschiedung des im Dezember 2007 in Portugal unterzeichneten neuen EU-Vertrags im Jahr 2009 von entscheidender Bedeutung. Die Europaverträglichkeit -nationaler Entscheidungen muss wieder zu einem entscheidenden Kriterium der internationalen Politik der Mitgliedstaaten werden – gerade im Verhältnis zur Russischen Föderation. Die EU und Russland sind schwierige Partner; es wäre aber falsch, in einer solchen Situation die Segel zu streichen. Eine Denkpause ist angezeigt, um die ausgetretenen Pfade nicht immer wieder zu betreten, die sich im Dickicht mitgeschleppter Vorurteile verloren haben.
  2. Geltung der europäischen Werte und Rolle der Zivilgesellschaft: Die in der Charta von Paris vereinbarten und im Europarat verankerten Grundsätze der gemeinsamen Werteordnung sind auch für die Neue Nachbarschaftspolitik in Osteuropa und im Mittelmeerraum ein wichtiger Faktor. Bei den Kontakten unserer eigenen Zivilgesellschaften mit denen dieser Länder spielen die Demokratiewerte eine besondere Rolle. Dieser Dimension gesellschaftlicher Entfaltung kommt eine größere Bedeutung zu, als ihr gegenwärtig von unseren Regierungen und von der EU beigemessen wird. Öffentliche und private Stiftungen sind gefordert; Nichtregierungsorganisationen, die auf diesem Gebiet arbeiten, sollten viel stärker gefördert werden als bisher.
  3. Internationales Krisenmanagement: Nach den Präsidentschaftswahlen in Russland und in den USA in diesem Jahr und nach der Umsetzung des EU-Reformvertrags im Jahr 2009 müssen neue Initiativen ergriffen werden, um zu einer wirksameren Eindämmung der Krisenherde zu kommen, die das Risiko militärisch-politischer Flächenbrände in sich tragen. Das multinationale Krisenmanagement muss wieder in den Vordergrund rücken, denn der Unilateralismus der letzten Jahre hat sich nicht bewährt.
  4. Jugendprogramme: Für junge Menschen aus den Transformationsländern sollten die Grenzen geöffnet und nichtstaatliche Begegnungs- und Ausbildungsprogramme in allen Teilen Europas organisiert werden. Hier wird nicht dem jugendlichen Massentourismus das Wort geredet. Aber fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich beispielsweise in Russland dank privater, örtlicher und zivilgesellschaftlicher Initiativen das Schulwesen erneuert. Neben den fachlichen Leistungsanforderungen hat das soziale und gesellschaftliche Engagement der jungen Menschen in den Ausbildungsprogrammen der Schulen einen hohen Stellenwert. Die internationale Vernetzung auf diesem Gebiet steckt noch in den Kinderschuhen; sie sollte mit Hilfe von Schulpartnerschaften verstärkt werden. Jugendprogramme können und müssen finanziert werden – aus den öffentlichen Haushalten, von Stiftungen, von den Zivilgesellschaften.

Dr. HANS-GEORG WIECK, geb. 1928, war Mitglied des Auswärtigen Dienstes von 1954 bis 1993, Botschafter in Teheran, Moskau, Indien, Leiter der deutschen NATO-Vertretung, Präsident des Bundesnachrichtendienstes und Leiter der OSZE Berater- und Beobachtergruppe in Minsk (1997 bis 2001).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 66 - 69

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