Gegen den Strich: Nachhaltigkeit
Zwischen Heilsreligion und Wohlfühlgarantie
Globale Heilsreligion, kleinster gemeinsamer Wertenenner der Globalisierung oder marketingtauglicher Verdeckungsbegriff mit kollektiver Wohlfühlgarantie? Was bedeutet dieser heute so strapazierte Begriff Nachhaltigkeit? Und wird damit wirklich „neues“ Denken beschrieben?
Ist Nachhaltigkeit ein neuer Begriff?
Mitnichten. Der Begriff und die mit ihm verbundenen Einsichten stammen aus dem 18. Jahrhundert. Zu fragen bleibt damit, wie ein Terminus, der gut 300 Jahre in forstwirtschaftlichen Spezialwörterbüchern gedämmert hatte, quasi über Nacht zum globalen Leitbegriff vernünftigen Handelns aufsteigen konnte. Es hat vor allem politische Gründe. 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer haben die Kernbegriffe der europäischen Neuzeit – also Menschenrecht und freie Marktwirtschaft – ihre universalisierende Leitfunktion eingebüßt. Im Zuge des west-östlichen Machttransfers zeichnet sich politisch wie ethisch vielmehr eine Multipolarität ohne Leitvision ab – und damit die schlechteste aller Entwicklungen. Der permanente Relevanzverlust der entscheidungsblockierten Vereinten Nationen stand und steht beispielhaft für dieses Dilemma. Händeringend gesucht wurde also ein neuer Attraktor, um den sich neue, notwendig gewordene Formen der Global Governance würden organisieren können, gleichsam ein kleinster gemeinsamer Wertenenner der Globalisierung – kraftvoll genug, die Ängste und Hoffnungen unserer Zeit überzeugend zu bündeln. Voilá: Nachhaltigkeit.
Welche Einsicht steht hinter diesem Paradigma?
Sie ist denkbar trivial. Dass es für ein System, welches überdauern will, nicht ratsam ist, sich die stofflichen Grundlagen der eigenen Existenz zu entziehen, kann ja geradezu als Grundgesetz des Lebens selbst bezeichnet werden und lässt sich deshalb für alle menschlichen Kultur- und Entwicklungsstufen namhaft machen. Nachhaltiges Denken ziemt sich bei der Büffeljagd ebenso wie beim Autodesign, erfüllt die Existenz des klugen Reisbauern in gleicher Weise wie die seines Feudalherrn, leitet Hausfrauen wie Unternehmensberater in ein effektiv besseres Leben.
Treten wir einen weiteren Reflexionsschritt zurück, liegt die (vollends triviale) Erklärung für die totale Anschlussfähigkeit des Nachhaltigkeitsbegriffs in seinem grundlegenden Bezug zum Begriff des Systems. Nachhaltigkeitsideale bleiben auf die Erhaltung und Entwicklung von Systemprozessen bezogen. Und System bzw. Teil eines Systems kann, je nach gewählter Beschreibung, alles sein. Alles, was ist, lässt sich damit unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit in den Blick nehmen. Und da es nach bestem Wissen und Gewissen kein irdisches System mehr gibt, das sich den Wirkungen menschlichen Handelns vollends entzogen wüsste, wird unser gesamtes Handeln der Nachhaltigkeit zugänglich.
Welche Handlungen folgen daraus?
Gute Frage. Lässt die einleuchtende Erdnähe des Begriffs doch leicht vergessen, welche nur noch kosmisch zu nennenden Entgrenzungen und Zumutungen für das Individuum tatsächlich mit dem Postulat der Nachhaltigkeit verbunden sind. Zunächst übergeht der Begriff bestehende Systemdifferenzierungen und bindet sie so zu einem Verantwortungsbereich – besonders prominent im Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit (Natur+Gesellschaft+Wirtschaft). Vor allem aber sprengt die aus der Interaktion des Menschen mit der Natur entsprungene Nachhaltigkeitsdiktion die traditionelle ethische Sphäre des Zwischenmenschlichen und öffnet den Ver-antwortungsbereich auf die gesamte Biosphäre hin. Selbst Prozesse, die wir von je dem gestaltenden Wirken des Menschen entzogen wähnten, insbesondere das Klima, liegen nun in unserer Verantwortung und verlangen bis in die dünnsten atmosphärischen Schichten nach nachhaltiger Steuerung. Solch eine Totalität des Topos hat es im Westen seit den Kosmologien des Mittelalters nicht mehr gegeben.
Der eigentliche Entgrenzungsschritt aber vollzieht sich im Zeitlichen, da in sämtlichen handlungsrelevanten Definitionen von Nachhaltigkeit die Interessen, Bedürfnisse und Wünsche zukünftiger Generationen explizit einbezogen werden. Die ethische Forderung nach der Einbeziehung des Anderen greift damit weit über traditionelle Grenzen von Familie, Sippe, Gemeinschaft, Nation oder gar real existierende Menschheit hinaus. Beim gegenwärtigen Stand unserer Entwicklung öffnet die Verpflichtung auf und für die Interessen der Zukunft Verantwortungshorizonte von Jahrhunderttausenden, mindestens aber Jahrhunderten – und strapaziert damit das Maß vernünftiger Einschätzbarkeit beträchtlich.
Was nachhaltiges Handeln konkret bedeutet, können im Einzelfall, wenn überhaupt, deshalb nur Spezialisten entscheiden. Einerseits wird so das zeittypische Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Grundlage des eigenen Handelns befriedigt (die Ethik, keine so leichte Sache, gleichsam empirisch fundiert), andererseits aber eine kritische Dynamik von Verantwortungszuwachs und personaler Entmündigung in Gang gesetzt. Im Zeichen der Nachhaltigkeit wird richtiges Handeln zu einer Frage wissenschaftlichen Berechnens und Autorität. Gläubiger Gehorsam weicht verständigem Nachvollzug – von autonomer Selbstbestimmung keine Spur. Aufklärung ist das nicht.
Ist Nachhaltigkeit demokratiekompatibel?
Wollen wir es mal hoffen. Doch gibt es gute Gründe, daran zu zweifeln. Seinen letzten und entscheidenden Anstoß erhält der Wille zur Nachhaltigkeit schließlich aus der – empirisch gesättigten – Gewissheit einer zunehmend kritischen Verknappung, Verheerung und Verödung eben jener Ressourcen, die als notwendige Grundlage unserer derzeitigen Lebensform sowie weiter Teile von Fauna und Flora dienen (Öl, Wasser, Luft, Wärme). Der Wille zur Nachhaltigkeit wird daher in der öffentlichen Wahrnehmung bedeutungsgleich mit dem Willen zum (Über-)Leben selbst und vermag in dieser bedingenden Vorlage jeglichen Ideologie- und Relativitätsverdacht wirksam zu unterlaufen. Vor allem aber versteht es der Nachhaltigkeitsbegriff, ohne politisch positionierbar zu sein, jenen progressiv-emanzipatorischen Schwung zu vermitteln, der bislang noch jede große menschliche Bewegung in Gang hielt und der insbesondere dem Projekt der Linken nach dem Fall der Mauer abhanden gekommen ist. Im Erleben des Einzelnen bewirkt diese apokalyptische Dringlichkeit einen merklichen Intensitätszuwachs. Es soll nicht zynisch klingen, aber endlich, so teilt man den Eindruck, geht es wieder wirklich um etwas. Um etwas? Nein: Um alles!
Nachhaltigkeitserwägungen dringen so bis in die kleinsten Ritzen unserer Existenz vor und führen – wie sich in alltäglichsten Vollzügen und Gesprächen ja auch beobachten lässt – zu einer vollständigen Einebnung der einst demokratietragenden Differenz von Öffentlichem und Privatem. Das Nachhaltigkeits-paradigma enthält damit das Potenzial, wenn nicht die manifeste Tendenz zur totalen Mobilmachung. Jeder kann an jedem Ort und zu jeder Zeit seinen Beitrag leisten! Derartige Slogans hat man schon mal gehört.
Steht Nachhaltigkeit für einen neuen, umweltbewussten Weltethos?
Leider nein. Betrachten wir nur die für den Begriffskern bis heute politisch bestimmende Formulierung des Brundtland-Berichts (Bericht der UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung) von 1987, in dem das Leitideal nachhaltiger Entwicklung folgendermaßen gefasst wird: „Entwicklung zukunftsfähig zu machen, heißt, dass die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generation zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können.“
Was bewahrt werden soll, ist ganz explizit die Fähigkeit zur individualisierenden Bedürfnisbefriedigung – und zwar augenscheinlich eine Form der Bedürfnisbefriedigung, die qualitativ nicht hinter das bestehende Niveau zurückfällt. Das ist nun mitnichten eine Abkehr vom jetzigen Weltverhältnis, sondern vielmehr seine erhoffte Fortschreibung bis in alle Ewigkeit. Was klug geschützt werden soll, sind die zur Perpetuierung notwendigen Ressourcen. Und zwar explizit in ihrer Eigenschaft als Ressourcen, d.h. als Mittel zum Zweck.
Angewandt auf unser Weltverhältnis des letzten Menschen bedeutet Nachhaltigkeit damit in aller wünschbaren Klarheit: Bewahrung der Natur als Ressource, Bewahrung des Menschen als munterem Konsumenten, implizit wohl auch Bewahrung der Gesellschaft als marktliberaler Demokratie. Der Gedanke, Systeme der Natur seien etwas anderes als Mittel zum Zwecke unserer Bedürfnisbefriedigung, d.h. etwas anderes als möglichst effizient zu nutzende Ressourcen, bleibt dem Nachhaltigkeitsparadigma vollständig verschlossen.
Und das soll dann ein neues Denken sein?
Wem nutzt Nachhaltigkeit?
Gewiss nicht der so genannten Natur. Insofern der Schwung der Nachhaltigkeitsrhetorik gerade in den chronisch besorgten Mittelschichten der westlichen Gesellschaften die Illusion nährt, eine Erhaltung des konsumatorischen Status quo sei ökologisch denkbar, ja, bei smarteren Nutzungsverfahren selbst für einen Globus von zehn Milliarden Menschen ein realistisches Entwicklungsziel, darf man den Begriff in seiner grundlegenden Systemaffirmation gar für konkret lebensgefährlich halten. Vollends kritische Geister schließlich mögen mit einem spitzen Lächeln darauf hinweisen, gerade in der wirkungsvollen Erzeugung dieser Bestandsillusion liege das eigentliche Geheimnis seines Erfolgs. Nachhaltigkeit erschiene nach dieser (gewiss zu extremen!) Sichtweise als marketingtauglicher Verdeckungsbegriff mit kollektiver Wohlfühlgarantie – als Ideologie im unheilvollen Letztsinn.
Dr. WOLFRAM EILENBERGER ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt, lehrt und schreibt in Toronto, Kanada.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2010, S. 64 - 67