Gegen den Strich

02. Jan. 2024

Gegen den Strich: Flucht und Migration

Die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen weltweit steigt, gleichzeitig können viele Industriestaaten ihren Arbeitskräftebedarf nicht mehr aus eigener Kraft decken. Wenn es darum geht, die Chancen der Zuwanderung zu nutzen und ihre Probleme zu meistern, beherrschen gefühlte Wahrheiten statt belegbare Fakten die Debatte, auch in Deutschland. Zeit, einige gängige Behauptungen zu hinterfragen.

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Bild: Schild in den Farben der Ukrainischen Flagge bietet eine Unterkunft für Flüchtlinge an
Aufnahmebereit: Es ist höchste Zeit, die Gastfamilien ukrainischer Flüchtlinge ­stärker als bisher zu würdigen und besser zu unterstützen.
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„Die Bundesregierung hat die Kontrolle über die Zuwanderung verloren“

Nein, das stimmt so nicht. Der Eindruck eines Kontrollverlusts in Deutschland entsteht vor allem, weil sich zwei Fluchtbewegungen überlappen: die Flucht aus der Ukraine und die aus anderen Ländern. Quantitativ fällt vor allem die Flucht aus der Ukrai­ne ins Gewicht, weil Deutschland von Februar 202 bis Ende Oktober 2023 etwa eine Million Flüchtlinge von dort aufgenommen hat. Im gleichen Zeitraum kamen 417 000 Asyl-Erstantra­gsteller aus anderen Ländern nach Deutschland.



Die Aufnahme all dieser Menschen lässt sich schon deshalb nicht als Kontrollverlust bezeichnen, weil sie auf bewussten Entscheidungen fußt. Bei der Flucht aus der Ukraine haben sich die Regierungen Deutschlands und der anderen EU-Staaten im Februar 2022 entschlossen, erstmals die bereits 2001 verabschiedete „EU-Massenzustrom-Richtlinie“ anzuwenden und den Flüchtlingen einen temporären Schutz anzubieten. Es war frühzeitig abzusehen, dass ein Großteil der Flüchtlinge in Deutschland Schutz suchen würde.



Bei der Aufnahme der nicht­ukrainischen Flüchtlinge gilt Ähnliches: Die Bundesregierung erfüllt dabei ihre völker-, europa- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen, wie zuvor schon die Vorgängerregierungen. Deutschlands hohe Flüchtlingszahlen ergeben sich schlicht daraus, dass viele andere EU-Staaten ihren Verpflichtungen aus dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) nicht nachkommen, insbesondere im Hinblick auf die Registrierung der Flüchtlinge und die Durchführung der Asylverfahren. Die Menschen stellen ihre Anträge dann in Deutschland.



Hinzu kommt, dass auch die Rücküberstellung an diejenigen EU-Staaten, die nach Rechtslage für das jeweilige Asylverfahren zuständig wären, nur noch in Ausnahmefällen funktioniert. Das dafür eingerichtete Dublin-System ist in seiner gegenwärtigen Form dysfunktional.



Statt den angeblichen Kon­trollverlust zu beklagen, sollten die Kritikerinnen und Kritiker die Bundesregierung unterstützen, sich mit aller Kraft für die jüngst beschlossene GEAS-Reform einzusetzen. Der Europäische Rat hat sich im September 2023 auf die letzten noch umstrittenen Reformpunkte geeinigt; über diese wird nun abschließend zwischen Rat, Kommission und Parlament diskutiert. In diesen Verhandlungen gibt es noch Spielräume, die genutzt werden müssen, wenn man eine wirksame, faire und menschenrechtlich orientierte Verantwortungsteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten erreichen will.



Spielräume dieser Art bestehen auch innerhalb der sogenannten „Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen von höherer Gewalt“, kurz: Krisen-Verordnung vom Oktober 2023. Der Entwurf sieht Maßnahmen wie Grenzschließungen und weitere Einschränkungen bei den Asylverfahren vor, wenn Fluchtbewegungen die Kapazitäten eines Mitgliedstaats überfordern.



Hier wäre noch genauer zu klären, wann ein Mitgliedstaat eine solche Krisensituation ausrufen darf. Außerdem fehlen klare Vorgaben für die ­Kontrolle des Grenzschutzes an den Außengrenzen, unter anderem zur Frage der illegalen Zurückweisungen an den Grenzen, den sogenannten Pushbacks.

Selbst wenn die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden können, bleibt ungewiss, ob die Mitgliedstaaten sich an die gemeinsamen Beschlüsse halten werden. Diese Ungewissheit ist der Kern des Problems: Gemeinsam könnten die EU-Mitgliedstaaten die derzeitigen Flüchtlingszahlen nämlich durchaus bewältigen. Nur wenn die Europäer bereit sind, hier zu kooperieren, kann der internationale Flüchtlingsschutz auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gestärkt werden – und daran haben gerade die von Fluchtbewegungen besonders betroffenen EU-Staaten ein massives Eigeninteresse.



Die auch in Deutschland immer wieder erhobenen Forderungen nach einer Abschaffung des individuellen Asylrechts, dessen Ersetzen durch Kontingentlösungen oder gar die Auslagerung der Verantwortung für den Flüchtlingsschutz auf Drittstaaten zeugen von einem erstaunlichen Mangel an juristischem Wissen oder an Urteilsfähigkeit im Hinblick auf die internationalen Konsequenzen. Eine wirksame europäische Politik wäre der beste Weg, um dem Gerede vom Kontrollverlust die Grundlage zu entziehen.

 

„Aber die Zuwanderung übersteigt unsere Kapazitäten“

Das ist leider richtig – zum Teil. Zweifellos hat Deutschland im europäischen und internationalen Vergleich sehr viele Flüchtlinge aufgenommen – in absoluten Zahlen, nicht unbedingt im Pro-Kopf-Vergleich. Viele Städte haben in den vergangenen Monaten Alarm geschlagen, dass ihre Aufnahmekapazitäten erschöpft seien – auch wenn einige Kommunen noch Handlungsspielräume sehen. Es mangelt vielerorts an Wohnraum für die Flüchtlinge, aber auch an Kapazitäten für die Versorgung, Betreuung und Eingliederung. Das gilt für Infrastrukturen wie für die Verwaltung. Doch auch hier ist ein genauerer Blick auf die Gründe und die Auswirkungen nötig.



Erstens sind viele Ausländerbehörden auch durch neue Aufgaben überlastet, die sie im Zuge der jüngeren Reformen übernommen haben, insbesondere aus dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2019 und dessen im August 2023 in Kraft getretener Novellierung. Hinzu kommen Reformen im Einbürgerungsrecht und andere Aufgaben.



Die Ausländerbehörden spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung einer wirksamen und nachhaltigen Asyl- und Migrationspolitik. Sie dürfen nicht länger vernachlässigt werden, sondern müssen für ihre Aufgaben konzeptionell, personell und finanziell besser ausgestattet werden. Die Einrichtung von zentralen Ausländerbehörden in den Bundesländern wäre ein wichtiger Schritt. Diese Behörden müssten dann aber auch über die Kompetenzen verfügen, die Einreise von Arbeitskräften aus dem Ausland zu begleiten.



Zweitens ergeben sich die derzeitigen Kapazitätsprobleme auch daraus, dass ein Teil der Infrastrukturen, die im Zuge der starken Flüchtlingszuwanderung 2015/16 geschaffen wurden, inzwischen wieder abgebaut worden sind. Dieser Abbau war richtig und notwendig, weil größere Überkapazitäten politisch und haushaltsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind. Nun müssen die Kapazitäten aber wieder ausgeweitet werden, um die Kommunen, aber auch die Landes- und Bundesbehörden handlungsfähig zu machen. Das sollte sich nicht nur auf die personelle und finanzielle Ausstattung der für die Umsetzung der Asyl- und Migrationspolitik zuständigen Behörden beschränken. Der aktuelle Handlungsdruck bietet auch eine Chance, die Digitalisierung und die Behördenkooperation in der Asyl- und Migrationspolitik voranzubringen.



Drittens sind alle Flüchtlinge – ukrainische wie nichtukrainische – nach wie vor höchst ungleich auf die Bundesländer und Kommunen verteilt. Die Probleme stellen sich allerdings für die beiden Gruppen unterschiedlich dar: Für die Asylbewerber wären Verteilungsverfahren hilfreich, mit deren Hilfe sich die Kapazitäten vor Ort besser erfassen und mit den Kenntnissen und Fähigkeiten der Flüchtlinge in Deckung bringen ließen. Ein erster Schritt hierfür wäre eine frühzeitige Erfassung dieser Kenntnisse, Fähigkeiten und Wünsche.



An einer solchen Erfassung ist auch die Bundesregierung interessiert, wie aus den Vereinbarungen zwischen dem Bundeskanzler und den Länderchefs von Anfang November 2023 hervorgeht. Vorschläge aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft für Unterstützungs- und Anreizsysteme und Verteilungsverfahren liegen vor.



Die ukrainischen Flüchtlinge dagegen werden überhaupt nur dann verteilt, wenn sie eine staatliche Unterbringung in Anspruch nehmen wollen. Ein Großteil von ihnen hat seinen Wohnort selbst bestimmt und ist – laut der jüngsten Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – immer noch zu 74 Prozent privat untergebracht.



Mittlerweile wirkt sich die Belastung auf viele der Gastfamilien merklich aus. Es ist höchste Zeit, die Leistung dieser Gastfamilien nicht nur stärker anzuerkennen, sondern die Familien auch in größerem Umfang als bisher zu unterstützen. Ansonsten könnten die Unterbringungsprobleme in den Kommunen Überhand nehmen.



Dass es bei größeren Fluchtbewegungen immer wieder zu Verwaltungsengpässen kommt, liegt in der Natur der Sache – schon allein deshalb, weil Fluchtbewegungen nie präzise vorhergesagt werden können. Mit dieser Unsicherheit müssen alle Beteiligten leben.



Die entscheidende Frage ist aber, wie schnell sich die Kapazitäten anpassen lassen und wie die Kommunen unterstützt werden können, die letztlich die Aufnahme- und Integrationsleistungen erbringen müssen. In der aktuellen Situation hat die Bundespolitik erst spät auf die Sorgen der Städte und Kommunen reagiert. Bei einer früheren Einigung zwischen Bund und Ländern hätten wahrscheinlich einige Notlagen verhindert werden können.



Die Anfang November 2023 verhandelten Maßnahmen zur Flüchtlingspolitik (Pro-Kopf-­Pauschale in Höhe von 7500 Euro für Asyl-Erstanträge, Einschränkungen der Leistungen für Asylbewerber und Geduldete) werden die Länder im Jahr 2024 um rund 3,5 Milliarden Euro entlasten und die Handlungsspielräume vor Ort erhöhen. Mit diesen Vereinbarungen, insbesondere dem „atmenden System“ einer Unterstützung pro Asylantrag, werden Wege aufgezeigt, wie sich Überlastungen nicht nur der Kommunen vermeiden lassen.

 

„Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz wird den Fachkräftebedarf stillen“

Ein Gesetz allein kann es nicht richten. Dass es in Deutschland an Fachkräften mangelt, ist ein nicht ganz neues, aber größer werdendes Problem. Es betrifft vor allem das Erziehungs- und Sozialwesen, Gesundheit und Pflege, Bau und Handwerk, Informationstechnologie und die sogenannten MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Gleichzeitig wächst der Bedarf an geringer qualifizierten Arbeitskräften, etwa bei Helfertätigkeiten und haushaltsnahen Dienstleistungen.



Zwar machen Zuzügler aus EU-Staaten nach wie vor den größten Teil der Arbeitsmigranten aus, doch dieses Zuwanderungspotenzial stößt an seine Grenzen, weil die Gesellschaften dieser Länder unter ähnlichen demografischen Problemen (Alterung, Schrumpfung) leiden wie Deutschland. Die Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittstaaten, darunter auch Partnerländer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, wird so zu einer strategischen Zukunftsfrage.



Das Mitte August 2023 in Kraft getretene „Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung“ soll den wachsenden Arbeitskräftebedarf in Deutschland zumindest teilweise lindern. Die Bundesagentur für Arbeit schätzt diesen Bedarf auf jährlich 400 000 Personen (netto). Dazu hatte die Bundesregierung bereits im Juni 2022 ein erstes Migrationspaket verabschiedet, mit dem sie unter anderem Kettenduldungen beenden, den Familiennachzug erleichtern und Asylbewerberinnen und -bewerbern einen besseren Zugang zu Sprach- und Integrationskursen bieten will.

Mit der Novelle von 2023 sind weitere Vereinfachungen zur Anwerbung und Einreise von Arbeitskräften aus Drittstaaten hinzugekommen. So dürfen Fachkräfte nun unabhängig von ihrer Berufsausbildung jede qualifizierte Beschäftigung in nichtreglementierten Berufen ausüben – die „Fachkräftesäule“.



Diesen Kräften wird die Einreise unter bestimmten Bedingungen auch ohne die formale Anerkennung ihrer ausländischen Berufsabschlüsse ermöglicht („Erfahrungssäule“), und es wird eine „Chancenkarte“ zur Arbeitsplatzsuche auf Grundlage eines Punktesystems mit Kriterien wie Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter eingeführt – die „Potenzialsäule“.



Erleichtert wird zudem die vorübergehende oder ­dauerhafte Zuwanderung geringer qualifizierter Arbeitskräfte für die Beschäftigung in bestimmten Branchen, wenn dort ein Arbeitsmarktbedarf festgestellt wird.



Durch die Chancenkarte hat die Bundesregierung dem bisher überwiegend nachfrageorientierten System der Arbeitsmigration eine angebotsorientierte Säule hinzugefügt. Zudem wird die „Blaue Karte EU“, der Aufen­t­haltstitel für akademische Fachkräfte von außerhalb der EU, auch Menschen mit nichtakademischen Berufen zugänglich gemacht; zeitliche Begrenzungen in den geltenden Arbeitsmigrationsregelungen werden aufgehoben. Generelles Ziel ist es, die Hürden für die Anerkennung von Qualifikationen zu senken, die Bürokratie abzubauen sowie Visa- und andere Verfahren zu beschleunigen.



Diese rechtlichen Änderungen allein werden die Probleme bei der Anwerbung von Arbeitskräften nicht beheben. Entscheidend wird sein, ob es für die Umsetzung dieser Reformvorhaben auch die erforderliche Unterstützung von Seiten der Behörden gibt. Das lässt sich derzeit noch nicht abschätzen.

Besonders problematisch sind nach wie vor die langen Wartezeiten für die Erteilung von Visa, aber auch die Verwaltungs- und Infrastrukturen in Deutschland, vor allem die chronisch überlasteten Ausländerbehörden. Weitere Reformen und Aufgaben werden sich nur dann sinnvoll umsetzen lassen, wenn diese Engpässe beseitigt sind.



Die Bundesregierung hat unter anderem angekündigt, noch in dieser Legislaturperiode den Papierversand von Antragsunterlagen für die Fachkräftezuwanderung durch ein vollständig digitales Visumverfahren zu ersetzen. Dazu müssen allerdings auch die Ausländerbehörden in den Bundesländern am gleichen Strang ziehen. Das hat in der Vergangenheit nicht immer ganz ­reibungslos funktioniert.

 

„Für Migrationsabkommen sind wir in Deutschland gut aufgestellt“

Leider nur ansatzweise. Migrationsabkommen stehen bei vielen Regierungen ganz oben auf der flucht- und migrationspolitischen Wunschliste. Dabei kann es leicht zu Missverständnissen und falschen Erwartungen kommen, denn die Bandbreite solcher Abkommen ist hoch: Sie reichen von Rückkehrabkommen bis zu umfassenden Mobilitätspartnerschaften, die dann auch jeweils eine entsprechende politische, finanzielle und organisatorische Unterstützung brauchen.



In Deutschland hatten die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 vereinbart, einen Sonderbevollmächtigten für die Gestaltung solcher Abkommen einzusetzen. Seit Februar 2023 hat Joachim Stamp dieses Amt inne, ehemaliger Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration sowie stellvertretender Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Von ihm wird erwartet, Vereinbarungen mit Herkunftsländern zu gestalten, die umfassend und praxistauglich sind und partnerschaftliche wie menschenrecht­liche Standards erfüllen.



Dazu sollen Vereinbarungen gehören, die etwa die Rückkehr abgelehnter Asylsuchender, den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, Technologietransfer, Visa-Erleichterungen, Qualifizierungsmaßnahmen für den deutschen Arbeitsmarkt oder die Einrichtung von Job­börsen betreffen.

Hinter dem großen Interesse an Migrationsabkommen steht in Deutschland und anderen Ländern die Einsicht, dass Flucht und Migration politische Querschnittsthemen sind, die sich nur in internationaler Kooperation und durch bilaterale und regionale Zusammenarbeit bewältigen lassen.



Wenn es aber darum geht, solche Abkommen zu konzipieren, zu verhandeln und umzusetzen, dann ist eine ganze Reihe von Voraussetzungen zu beachten: Angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragilität in vielen Weltregionen beobachten wir immer mehr und größere Fluchtbewegungen; durch die Folgen des Klima­wandels wird das noch verstärkt. Die Gefahr zwischenstaatlicher Konflikte steigt.



Hinzu kommt die Frage, wie man damit umgeht, wenn autoritäre Herrscher Migrationsbewegungen instrumentalisieren, um Zugeständnisse in anderen Sektoren zu erzwingen.



Zu den immer dringlicheren migrationspolitischen Aufgaben gehört außerdem die Notwendigkeit, die in allen Industriestaaten aus demografischen Gründen dringend benötigte Arbeitsmigration zu ermöglichen und die weltweite Mobilität sicherzustellen. Dabei fordern die Herkunftsländer immer selbstbewusster faire Arbeits- und Lebensbedingungen für ihre Staatsangehörigen.



Migrationsaußenpolitik ist ein extrem anspruchsvolles Politikfeld, das ein ernsthaftes und nachhaltiges Engagement, eine gute institutionelle Verankerung und ausreichende personelle und finanzielle Mittel erfordert; das gilt auch für Deutschland.



Im Inneren ist dafür eine ressortübergreifende Kooperation in Gestalt eines ganzheitlichen ­Regierungsansatzes sowie eine Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft notwendig, im Äußeren eine partnerschaftliche und faire Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern sowie ein kontinuierliches Engagement in internationalen Prozessen und Gremien. Der Sonderbeauftragte wird sein Amt nur dann wirkungsvoll ausüben können, wenn es hinreichend ausgestaltet wird und er die nötige politische Unterstützung erhält.



Die Aufgaben der Migrationsaußenpolitik dürften künftig noch komplexer werden. Wie schwierig die Aushandlung von wirkungsvollen Migrationsabkommen ist, zeigen die Erfahrungen der seit 2008 von der EU verfolgten Mobilitäts- und Migrationspartnerschaften. Diese bieten einige Lehren für die Gestaltung von künftigen deutschen Migrationspartnerschaften.



Die europäischen Partnerschaften gelten als zentrale Vorhaben der EU-Migrationspolitik, haben aber in der Praxis kaum greifbare Resultate erzielt. Das hat viel damit zu tun, dass die Abkommen vor allem auf die Reduzierung irregulärer Wanderung ausgerichtet waren – die Förderung geregelter Migration und Mobilität spielte dagegen praktisch keine Rolle.



Auch entwicklungspolitische Aspekte kamen regelmäßig zu kurz: Die Partnerschaften waren und sind einseitig auf die Interessen der EU-Staaten ausgerichtet. Sie bieten den Herkunftsländern keine ausreichenden Anreize zur migrationspolitischen Koopera­tion, weil vor allem Angebote für legale Migrationsmöglichkeiten fehlen. Damit sind die Partnerschaften weit hinter den politischen Erwartungen und ihrem Potenzial zurückgeblieben.



Für künftige deutsche Migrationspartnerschaften sind vor allem zwei Punkte zu berücksichtigen: Zum einen gibt es keine generelle Blaupause für solche Abkommen. Die bilateralen Migrationsabkommen werden jeweils spezifische Ziele und Instrumente haben müssen, da die Interessen und Gegebenheiten in den Partnerländern höchst unterschiedlich sind und maßgeschneiderte Abkommen erfordern.



So ließe sich auch das 2022 vereinbarte Migrationsabkommen mit Indien nicht auf andere mögliche Partnerländer übertragen – und schon gar nicht auf Kooperationen, bei denen es aus deutscher Sicht primär um die Rückübernahme von Ausreisepflichtigen geht. Denn das Abkommen ist nicht nur sehr umfangreich und im Hinblick auf die praktischen Wirkungen noch nicht bewertbar – es soll auch vor allem der Arbeitskräfteanwerbung und -mobilität dienen.



Zum anderen sollten wir nicht erwarten, dass Migrationsabkommen schnelle Ergebnisse liefern. Die Aushandlung solcher Abkommen erfordert ausgesprochen viel Zeit, die Verhandlungen können immer wieder ins Stocken geraten oder Rückschläge erleiden, und die praktische Umsetzung wird häufig eine eigene Herausforderung darstellen. Migrationsabkommen brauchen einen langen Atem.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 104-109

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Dr. Steffen Angenendt ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

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