Flüchtlinge und Finanzen
Italien wird durch die Balkan-Route entlastet, die Lage bleibt aber angespannt
Als 2011 die erste Flüchtlingswelle nach Europa schwappte, ließen die EU-Partner das hauptsächlich betroffene Italien allein. Auch heute, da kaum noch Syrer in Süditalien anlanden, operiert das krisengeschüttelte Land am Rande der Kapazitäten. Mehr Geld für die Flüchtlingskrise auszugeben ist, ohne Verstoß gegen den Stabilitätspakt kaum möglich.
Wie alt Gianluca ist, kann man nurschwer sagen: Haare und Vollbart sind schlohweiß, die Figur ist stämmig; manche tiefe Falte zeichnet das Gesicht. Trotzdem würde man ihn nicht älter als 60 schätzen. Seit Kurzem hat er sein Leben ganz den Flüchtlingen verschrieben; er wohnt nicht länger in seiner Wohnung, sondern in einem Wohnwagen ganz nahe am Mailänder Flüchtlingsaufnahmezentrum in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs Arca. Dort übernachtet er auch im Winter, obwohl es in Mailand nachts genauso kalt werden kann wie in Deutschland.
„In meinem Wohnwagen ist es heimelig warm, und die frische Luft in aller Herrgottsfrühe ist genau das Richtige, um mit Schwung in den neuen Tag zu starten“, erzählt der Chef der ehrenamtlichen Helfer, der mit vollem Namen Gianluca Oss Pinter heißt. Zusammen mit den Hilfsorganisationen „Save the Children“ und „Albero della Vita“ ist er für die neue Aufnahmestelle zuständig. „Vielleicht macht mir die Kälte auch deshalb nichts aus, weil ich aus der Valsugana unweit von Trient komme“, meint er lächelnd.
Registriert, nicht identifiziert
Seinen Schützlingen geht es da anders.Vier von ihnen betreten gerade die Aufnahmestelle, sichtlich verfroren. Drei von ihnen sind Afghanen, der vierte Pakistaner. Gianluca empfängt sie mit einem breiten Lächeln und einem „Welcome!“ im tiefsten Bariton. Zuerst werden sie registriert, „und das verscheucht schon den einen oder anderen“, sagt Gianluca. Dann werden sie ärztlich untersucht. Sie können sich duschen, erhalten frische Kleider und etwas zu essen. Am Abend werden sie dann in Kleinbussen zu den jeweils zugewiesenen Übernachtungsstätten gebracht. „Wohlgemerkt, sie werden registriert, nicht identifiziert“, erklärt Diana De Marchi, die Koordinatorin des Aufnahmezentrums, das 650 Quadratmeter misst und dank des Einsatzes des italienischen Militärs in Rekordzeit saniert und umgebaut wurde.
Im Frühsommer 2015 war Mailand in die Schlagzeilen geraten. Bis dahin waren Flüchtlinge im Zwischengeschoss des Bahnhofs betreut worden, viele verbrachten dort auch die Nacht. Irgendwann platzte das Mezzanine aus allen Nähten: Neuankömmlinge wurden in eigentlich für Pop-up-Shops vorgesehenen Plexi-glaskugeln im Erdgeschoss untergebracht, was weder die Not der bis zu 600 täglich per Zug aus Süditalien eintreffenden Flüchtlinge linderte noch sich als menschenwürdig bezeichnen ließ.
Die Bilder Hunderter Menschen, zusammengepfercht hinter Glaswänden, gingen um die Welt. Danach bemühten sich die Behörden um eine koordiniertere, humanere Hilfe: Die Migranten wurden besser versorgt und auf nächtliche Bleiben verteilt; zwischen Oktober 2013 und Oktober 2015 kamen insgesamt 84 500von ihnen in Mailand an. Der Großteil reiste nach wenigen Tagen weiter – Italiens Wirtschaftsmetropole war und ist für die meisten nur ein Zwischenstopp.
Verschwunden: die Syrer
Noch im Juni 2015 rechnete man im italienischen Innenministerium mit einem weitaus größeren Flüchtlingsstrom als im Vorjahr. Doch vor allem die Syrer setzen seit dem Sommer immer mehr auf die Balkan-Route, um sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen: Zwischen dem türkischen Festland und den griechischen Inseln Lesbos und Kos liegen knapp zehn Seemeilen, zwischen der libyschen oder tunesischen Küste und Sizilien dagegen 80 Seemeilen. Die Zahl der „carrette del mare“, wie die Italiener die meist seeuntüchtigen Bootenennen, die mit Migranten überladen von der nordafrikanischen Küste ins Meer stechen, nahm stetig ab. So waren es 2015 rund 140 000 Flüchtlinge und Migranten, die an süditalienischen Küsten EU-Boden betraten – 8 Prozent weniger als im Vorjahr. In Italien gestellte Asylanträge legten dagegen um 30 Prozent auf 61 000 zu.
Noch bemerkenswerter waren die Veränderungen bei den Herkunftsländern. Wie Giovanni Pinto, der Leiter des Einwanderungszentrums und der Grenzpolizei, in einer parlamentarischen Anhörung am 1. November 2015 erklärte, „sind mittlerweile die Syrer verschwunden“. Seit Ende Juli seien vornehmlich Eritreer (fast 37 000) in Italien angekommen, gefolgt von Nigerianern, Somaliern und Sudanesen, so Pinto. Erst an fünfter Stelle folgten die Syrer mit bislang 7000 Menschen; 2014 waren es noch über 42 000 gewesen.
In der Wirtschaftskrise
Fast 100 000 Flüchtlinge und Migranten hat Italien 2015 aufgenommen; damit liegt es in der EU, gemessen an der Zahl von Asylanträgen, hinter Deutschland und Schweden auf Rang drei – keine schwindelerregende Zahl, aber auch keine, die sich leicht bewältigen ließe in einem Land, das 2008 in die tiefste Wirtschaftskrise seit der Nachkriegszeit rutschte und eine dreijährige Rezession erlebte, die 5,8 Prozent der Wirtschaftskraft kostete. In sieben Krisenjahren büßte Italien 9 Prozent seines BIP ein, die Arbeitslosigkeit kletterte von 6,7 auf 13,7 Prozent, die unter Jugendlichen erreichte gar die astronomische Ziffer von 40 Prozent.
Zwar war es das kleine Griechenland, das die Euro-Zone seit 2010 immer wieder zu Rettungsaktionen zwang – doch wirklich Angst machte der EU Italien, die viertgrößte Volkswirtschaft der Union, deren Staatsschulden völlig außer Kontrolle geraten waren. Noch heute erzählt man sich in politischen Kreisen, dass das damalige Staatsoberhaupt Giorgio Napolitano im Einvernehmen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy Premierminister Silvio Berlusconi im November 2011 regelrecht zum Rücktritt gezwungen habe und die darauffolgende Technokratenregierung unter Mario Monti eine von Brüssel verordnete war. Die Rosskur, die Monti dem Land verpasste, haben ihm die Italiener bis heute nicht verziehen. In dieser Politik sehen sie den eigentlichen Grund für die Rezession.
Übermannt von der Arabellion
Zur gleichen Zeit erreichte Italien die erste große Flüchtlingswelle, ausgelöst von den Bürgeraufständen in Tunesien, Libyen und Ägypten 2011, dem so genannten Arabischen Frühling. Damals kamen mehr als 62 000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Sizilien. Der kleinen Insel Lampedusa, wo der Großteil anlandete, drohte der Kollaps. Nachdem die Zahlen in den folgenden beiden Jahren zurückgingen, schwollen sie 2014 auf den Höchststand von 170 000 an.
Rom sah sich überfordert und bat Brüssel immer eindringlicher um Hilfe. Der Hinweis, dass es sich nicht nur um ein italienisches Problem handle, stieß aber lange auf taube Ohren. Als im Oktober 2013 vor Lampedusa 366 Flüchtlinge ertranken, hörte man aus ganz Europa den Satz, so eine Tragödie dürfe sich nicht wiederholen. Es blieb aber bei diesem Lippenbekenntnis. Also rief Italien im Alleingang das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ ins Leben; die italienische Küstenwache rettete danach über 130 000 Migranten das Leben. Die Kosten von monatlich neun Millionen Euro trug Rom allein, erntete dafür jedoch kein Lob, sondern musste sich stattdessen noch Kritik anhören. „Mare Nostrum“ sei als Nothilfe gedacht gewesen und habe sich stattdessen als Brücke nach Europa erwiesen, erklärte beispielsweise Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière.
Die Italiener fühlten sich von der EU im Stich gelassen, während sich die Medien fast ausschließlich auf die katastrophale Lage in vielen Flüchtlingslagern konzentrierten. Für national-populistische Parteien wie der Lega Nord war es so ein Leichtes, der Bevölkerung zu suggerieren, es fände eine regelrechte Invasion statt und die Neuankömmlinge – zusammen mit den fünf Millionen Ausländern, die bereits in Italien lebten – nähmen Einheimischen die Arbeitsplätze weg.
Die Stiftung Fondazione Moressa,die sich der Migrationsforschung widmet, zeichnet dagegen ein anderes Bild: Von den fünf Millionen Ausländern seien 2,5 Millionen in Anstellungsverhältnissen, 3,5 Millionen zahlten Steuern. Wie die Tageszeitung La Repubblica formulierte, „verdanken 650 000 italienische Rentner ihre Pension mittlerweile dieser Bevölke-rungsgruppe. Diese erwirtschaftet nämlich heute 125 Milliarden Euro, also 8,6 Prozent des BIP. Und auch in der Kosten-Nutzen-Analyse (12,6 zu 16,5 Milliarden Euro) ergibt sich ein positives Saldo von 3,9 Milliarden“ – und das trotz Wirtschaftskrise, die Ausländer stärker getroffen hat als Einheimische: „Erstere erwiesen sich als anpassungs- und reaktionsfähiger als ihre italienischen Kollegen.“ Ein Großteil der Einwanderer, die arbeitslos wurden, machten sich selbständig . Laut Statistiken wuchs zwischen 2011 und 2015 die Zahl ausländischer Unternehmer um 15,6 Prozent, während die Zahl der italienischen Unternehmer um 7 Prozent schrumpfte.
Mangelnde Zukunftsperspektiven
Im August 2015 wurde das Asylgesetz- ovelliert, um Migranten schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Schon 60 Tage nach der Antragstellung dürfen sie jetzt arbeiten. Dochwas kann ihnen der italienische Arbeitsmarkt bieten? So überrasche Medienberichte nicht, denen zufolge sie von den italienischen Behörden regelrecht aufgefordert werden, manchmal auch mit einem großzügigen Taschengeld versehen, die Reise Richtung Norden fortzusetzen.
Auch die Eritreer, die jetzt wieder die größte Gruppe unter den Migranten stellen, wollen vornehmlich nach Schweden. Sie halten sich nicht am Mailänder Bahnhof auf, sondern im zentral gelegenen Stadtviertel Porta Venezia, wo sich seit über einem halben Jahrhundert eine eritreische Gemeinschaft angesiedelt hat. Dort warten sie auf Geld aus der Heimat, ruhen sich für ein paar Tage aus und machen sich dann wieder auf die Reise. Fragt man sie, warum sie nicht bleiben, erklären die meisten, zu Verwandten zu wollen; einige sagen jedoch: „In Italia niente lavoro“ (in Italien gibt es keine Arbeit).
„Vor der Krise kamen vor allem Wirtschaftsmigranten nach Italien. Die Zahl war durch gesetzlich festgelegte Kontingente bestimmt. Heute handelt es sich vorwiegend um Familienzusammenführung“, erklärt Anna Italia vom Forschungsinstitut Censis. Die Zahlen bestätigen es: Wurden bis 2010 jährlich an die 500 000 Aufenthaltsgenehmigungen erteilt, haben sich die Zahlen in den vergangenen zwei Jahren halbiert. Und in 45 Prozent der Fälle ging es um Familienzusammenführungen.
Anders als Deutschland braucht Italien zumindest derzeit keine qualifizierten Arbeitskräfte aus Drittstaaten, meint der Vorsitzende des Arbeitgeberverbands Confindustria, Sergio Squinzi: „In diesem Moment ist es nicht die Zuwanderung, die unsere Probleme lösen kann. Was jetzt bitter nötig ist: Italienern wieder einen Arbeitsplatz zu verschaffen.“ Das möge egoistisch klingen, so Squinzi weiter, doch angesichts der hohen Zahl an qualifizierten italienischen Jugendlichen, die arbeitslos sind, könne man nicht noch Arbeitssuchende aus Drittstaaten integrieren.
Ausländer füllen die Lücken
Farid und seine Frau Amina haben beide Ingenieurwissenschaft in Kairo studiert. Seit fünf Jahren betreiben sie nun in der Nähe der Ponte Milvio in Rom, der Brücke mit den Aberhunderten von Liebesschlössern, eine Konditorei. Alle Versuche, im erlernten Beruf eine Anstellung zu finden, blieben erfolglos. Immerhin haben sie es trotzdem geschafft, eine solide Existenz für sich und ihre beiden Kinder aufzubauen.
Mars aus Somalia hatte weniger Glück. Ein Landsmann, der sich in der Nähe von Pisa niedergelassen hat, hat den Verlag „Giovane Africa Edizioni“ gegründet. Und Mars verkauft wie viele andere nun die Bücher: am Sonntag vor dem Friedhof einer Mailänder Auslandsgemeinde, im Sommer an den Stränden Sardiniens. Er ist 45 Jahre alt, lebt seit über zehn Jahren in Italien und ernährt mit seiner Arbeit eine fünfköpfige Familie. Auf die Frage, wie lange er das noch machen wolle, antwortet er: „Bis meine zwei Söhne mit dem Studium fertig sind.“ Er besitzt eine Aufenthaltsgenehmigung und sagt, er hätte die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer niemals riskiert. „In Afrika glauben viele noch immer, dass hier Hollywood sei; so ist es aber nicht“.
Zahlen des Instituts Censis bestätigen, dass unterqualifizierte Beschäftigung unter Migranten ungleich häufiger vorkommt als unter Einheimischen. Sind im Durchschnitt 0,3 Prozent der Italiener unterqualifiziert beschäftigt, sind es bei Ausländern aus Nicht-EU-Staaten 14,8 Prozent (unter Frauen beträgt der Anteil sogar 19,6 Prozent). „Dies betrifft gerade Einwanderer aus ehemaligen Sowjetrepubliken, zum Beispiel aus der Ukraine“, erklärt Italia, „sie versorgen häufig Senioren, springen ein bei Familien mit alten Eltern – dort, wo der Sozialstaat versagt.“
Mittlerweile hat Italien ein ziemlich komplexes Aufnahmesystem auf die Beine gestellt, mit über 3000 Aufnahmezentren landesweit. 13 davon werden von der Regierung direkt verwaltet, sieben weitere dienen zur Rückführung jener Migranten, die kein Recht auf eine Aufenthaltsgenehmigung haben.
Dieses Netz soll nun von einer neuen Kooperation zwischen nati-onaler, regionaler und kommunaler Ebene ersetzt werden, aufgeteilt in 3090 Notaufnahmezentren. Für jeden Flüchtling oder Migranten, der einen Asyl- oder Aufenthaltsantrag gestellt hat, erhalten die Organisationen, die die Aufnahmestelle verwalten, 35 Euro am Tag. Mittlerweile melden sich jedoch auch immer häufiger Privatleute, die ein Zimmer zur Verfügung stellen oder für eine meist begrenzte Zeit auch eine leerstehende Wohnung oder ein Ferienhaus.
Triester Pilotprojekt
Die Stadt Triest hat ein entsprechendes Pilotprojekt gestartet. Nach nur wenigen Tagen in einem Notaufnahmelager werden Neuankömmlinge in privaten Wohnungen einquartiert. Dort leben sie dann zu sechst oder siebt und können sich so besser in das Stadtleben einfügen. Verwaltet werden die 50 Wohnungen von dem Consorzio Italiano Solidarietà, der sich um die Triest zugeteilten Migranten kümmert – eine Lösung, von der alle etwas haben. Denn der demografische Wandel bereitet der Stadtverwaltung schon seit Jahren große Sorgen, die Bevölkerung schrumpft und wird immer älter, und es stehen auch immer mehr Wohnungen leer.
In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der in Triest aufgenommenen Migranten von 70 auf 650 gestiegen, was 0,3 Prozent der Einwohnerzahl entspricht. Der Großteil der Triester scheint kein Problem mitihnen zu haben. Das Modell macht in anderen Landesteilen Schule, besonders in Mittel- und Norditalien. Manchmal bieten gerade ältere Menschen Zimmer an, in der Hoffnung auf etwas Gesellschaft und Hilfe im Haushalt.
In der Region Trient können die Migranten auch in der Landwirtschaftbei der Arbeit anpacken – was nicht nur für die Gastgeber ein Gewinn ist, sondern auch für die Migranten, die so nicht untätig wie in den Aufnahmelagern in den Tag hineinleben müssen. Warum dieses Modell von der Regierung nicht landesweit unterstützt wird, ist ein Rätsel – die Integration würde es sicherlich erleichtern.
Mit Ausgaben in Höhe von 1,6 Milliarden Euro rechnet das Innenministerium für 2015, um die Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen – was nur 0,14 Prozent der Staatsausgaben ausmacht, aber auch nur die Kosten für die Erstversorgung beziffert. Wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Lucrezia Reichlin Ende November in der Tageszeitung Corriere della Sera richtig schrieb, misst man „die Solidität einer Wirtschaft und der Institutionen, die sie regieren, auch anhand ihrer Fähigkeit, Ausnahmesituationen zu meistern.… Doch gleich, welche Antworten man finden wird: Es wird nicht gehen, ohne dass man mehr Geld auf den Tisch legt.“ Reichlin richtete eine Warnung an Italiens europäische Partner: „Diese Ressourcen können nicht mehr lange zur Verfügung gestellt werden, ohne gegen den Stabilitätspakt zu verstoßen.“
Andrea Affaticati arbeitet als freie Journalistin u.a. für Il Foglio in Mailand.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 62-67