Porträt

26. Juni 2023

Europa in den Genen

Sie steht für Toleranz, soziale Gerechtigkeit und europäische Solidarität: Italiens neue Oppositionsführerin Elly Schlein ist in jeder Hinsicht ein Gegenentwurf zur Regierungschefin Giorgia Meloni. Und das hat viel mit ihrer Familiengeschichte zu tun.

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Bild: Porträt von Elly Schlein
Heldin der Basis: Dass es Elly Schlein gelungen ist, als Außenseiterin den Vorsitz des Partito Democratico zu erobern, hat auch mit ihrem jugendlichen Charme zu tun.
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Als sie am Abend des 26. Februar in Rom vor ihre Anhänger trat, freute sich Elly Schlein wie ein Teenager. Mit knapp 54 Prozent der Stimmen hatte sie die Basisabstimmung des Partito Democratico gewonnen und war damit die designierte Vorsitzende ihrer Partei.



Dass sie siegen würde, war eigentlich nicht vorgesehen. Bei der Mitgliederabstimmung Wochen zuvor hatte ihr Mitbeweber, der Präsident der norditalienischen Region Emilia-Romagna Stefano Bonaccini, mit knapp 53 Prozent das Rennen gemacht.



Da stand sie also nun, ein bisschen linkisch, aber breit grinsend, und sagte: „Und wieder hat man uns nicht kommen sehen.“



Juvenile Altkommunistin

Das Jugendliche gehört zum Markenzeichen der 38-Jährigen. Privat trägt sie mit Vorliebe Jeans ohne Gürtel, weswegen ihre bunten Hemden immer wieder aus der Hose rutschen. Hinzu kommen Sneakers und im Winter der Parka, einst Symbol der 68er-­Studentenbewegung.  



In ihrem Element ist Elly Schlein, wenn es darum geht, Menschen für ihre Themen zu begeistern, gerade bei Demonstra­tionen. Ein Politikverständnis, das man ebenfalls als jugendlich bezeichnen könnte und das an die Studentenbewegung gemahnt. Kein Wunder, dass diejenigen, die der Politikerin nicht ganz so wohlgesonnenen sind, sie als „vetero comunista“ bezeichnen, als Altkommunistin.



In die Politik ist Schlein eher zufällig gekommen, wie sie in einem Interview mit der New York Times erzählt hat: Bevor sie sich für das Jurastudium entschloss, hatte sie die Kunsthochschule DAMS in Bologna besucht und an einem später preisgekrönten Dokumentarfilm über Albanien mitgearbeitet. Zu ihren Leidenschaften gehören Musik, Fußball und Videospiele. Noch heute setzt sich Elly Schlein nach eigener Aussage zuweilen nachts vor den Computer und spielt Assassin’s Creed Valhalla, um „runterzukommen“.



Rhetorisch ist Italiens Oppositionsführerin nicht unbedingt ein Naturtalent. Was vor allem die Jüngeren an ihr schätzen, ist eher die Tatsache, dass sie sich mit Leib und Seele engagiert. Es heißt, ihre jungen Wählerinnen würden ihr mehr vertrauen als ihrer Partei. 2008 und 2012 flog Schlein nach Chicago, um Barack Obamas Wahlkampf zu unterstützen. Auch als EU-Abgeordnete für die Demokraten und danach als Bonaccinis Vizepräsidentin der Region Emilia-­Romagna ging es ihr stets darum, sich vor Ort ein Bild von den Dingen zu machen, gleich ob es um einen Arbeiterstreik ging, die Einführung des Mindestlohns oder um eine Demonstration für die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transgeschlechtlichen und queeren Menschen – Elly Schlein selbst ist mit einer Frau liiert.



Zu den Herzensthemen der Politikerin zählt die Migration. Während ihrer Studienzeit in Bologna gründete Elly Schlein den Flüchtlingsverband Progrè. Als EU-Abgeordnete arbeitete sie an der Reform des Dublin-Abkommens und besuchte Aufnahmelager in Europa und Afrika. In ihrem 2022 erschienenen Buch „La nostra parte“, einem Plädoyer für soziale und ökologische Gerechtigkeit, schildert sie eine Begegnung mit dem Leiter eines Flüchtlingslagers in Uganda. Der habe ihr erklärt, für ihn sei es eine Selbstverständlichkeit, sich um seine „Brüder und Schwestern“ zu kümmern und sie dazu zu befähigen, selbstständig zu werden, „damit sie eines Tages, wenn sie es wünschen, zurück nach Hause gehen können. Und zwar nicht als Bettler, sondern in Würde.“



Ein Satz, der Elly Schlein tief beeindruckt hat, denn um Würde geht es auch ihr: bei Arbeitsbedingungen, Wohnen, Bildung oder Gleichberechtigung. Und dieses Engagement liegt der Politikerin gleichsam in den Genen.



Amerikanischer Europäer

Am 4. Mai 1985 wurde Elly Schlein im schweizerischen Lugano geboren, als Tochter eines amerikanischen Politologen und einer italienischen Juraprofessorin. Die Familie nennt sie Elly, mit vollem Namen heißt sie aber Elena Ethel. Das sind die Vornamen ihrer Großmütter, „und ich bin sehr stolz, sie zu tragen“, sagt sie.



Die Familie ihrer Großmutter Ethel stammt aus Litauen und war 1907 in die USA ausgewandert. Dort lernte Ethel ihren zukünftigen Mann Herschel Schleyen kennen, der aus Polen stammte. Weil antisemitische Schikanen schon damals zum Alltag gehörten, war Herschel ausgewandert, um sich eine sichere Zukunft in Amerika aufzubauen.



Agostino Viviani wiederum, Elly Schleins Großvater mütterlicherseits, war Sozialist, Antifaschist und ein angesehener Rechtsanwalt; eine Zeit lang war er auch Senator. In dieser Funktion arbeitete er unter anderem an Gesetzen zum Mutterschutz, zur Abtreibung und zur Gleichberechtigung von Ehepartnern.



„Mein Vater ist Amerikaner“, schreibt Schlein in ihrem Buch, „und gleichzeitig einer der überzeugtesten Europäer, die ich kenne. Wahrscheinlich, weil die Geschichte unserer Familie daran erinnert, warum die Europäische Union entstanden ist.“



Elly Schlein bekennt sich mit Nachdruck zu einer föderalen Europäischen Union. Sie betrachtet es rückblickend als einen Kardinalfehler der EU, darauf vertraut zu haben, dass die Währungsunion und der Binnenmarkt zur politischen Integration führen würden – die Finanz- und Wirtschaftskrise habe das Gegenteil bewiesen. Das Europa, das sie sich wünscht, zeigte sich in der Corona-Pandemie, als man nicht nur den Stabilitätspakt zeitweilig aufgehoben hatte, sondern auch in wenigen Wochen Instrumente für den Wiederaufbau und zur Unterstützung der Arbeitslosen geschaffen und den Zugriff auf die Gelder des Kohäsionsfonds erleichtert hatte.



Ginge es nach Elly Schlein, dann müsste das EU-Parlament mehr Macht erhalten, sei es doch die einzige von den Bürgern direkt gewählte europäische Institution. Zwar plädiert die Politikerin dafür, dass sich die EU bei wichtigen Abstimmungen vom Prinzip der Einstimmigkeit verabschiede, wirbt aber ansonsten für mehr Kooperation, sei es beim Thema Fiskalunion – „es kann nicht sein, dass die EU-Staaten untereinander im Wettbewerb stehen“ – oder in der Sicherheitspolitik – „denn nur zusammen sind wir stark“. Elly Schlein ist eine bekennende, aber keine naive Pazifistin: Sie unterstützt Waffenlieferungen an die Ukraine, fordert aber gleichzeitig ein stärkeres diplomatisches Engagement seitens Brüssel.



Frau ist nicht gleich Feministin

Giorgia Meloni, Ministerpräsidentin und Vorsitzende der rechtspopulistischen Fratelli d’Italia, stellte sich einst mit den Worten vor: „Ich bin eine Frau, eine Mutter, eine Christin.“ Schlein setzt dem entgegen, dabei das charakteristische Meloni-Stakkato imitierend: „Ich bin eine Frau, liebe eine andere Frau und bin deswegen nicht weniger Frau.“ Dass in Italien jetzt zwei Frauen an der Spitze von Regierung und Opposition stehen, ist für die Medien ein großes Thema. Schlein sieht es ein wenig differenzierter: Eine Frau zu sein, bedeute noch nicht, dass man ­feministische Politik betreibe.



 Ob Elly Schlein den Erwartungen, die sie geweckt hat, entsprechen kann, muss sich naturgemäß noch zeigen. Ihr wichtigstes Ziel sieht sie darin, aus dem orientierungslosen, für den Geschmack einiger zu sehr in die Mitte und Richtung Neo­liberalismus abgedrifteten Partito Democratico wieder eine Partei zu machen, die für Sozia­lismus und Chancengleichheit steht. Ein Teil der Demokraten befürchtet unter Schleins Führung genau das: eine radikale Linkswende.



Andere Beobachter bemängeln wiederum, die Politikerin habe bis jetzt nicht erklärt, wie sie die sozialdemokratischen Grundwerte mit den heutigen Herausforderungen zu einer neuen gesellschaftlichen Vision verbinden will, auf italienischer, aber auch auf europäischer Ebene. Denn auch in der EU wird bald wieder gewählt: im Mai 2024.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 9-11

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Andrea Affaticati ist Italien-Korrespondentin des Kurier und freie Mitarbeiterin für ZEIT Online und ntv.de.

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