Weltspiegel

24. Febr. 2025

Erdoğans lange Wunschliste in Syrien

Auf dem Weg zur Führungsmacht im  Nahen Osten will die Türkei ihr Nachbarland nach eigenen Vorstellungen umbauen – und droht sich dabei zu verheben.

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Bild: Al-Scharaa auf Staatsbesuch in der Türkei beim Handshake mit Erdogan
Ankaras Avancen: Der türkische Präsident Erdoğan will Syrien nach seinen Wünschen formen – und davon auch Syriens neuen Machthaber Al-Scharaa überzeugen, hier bei dessen Antrittsbesuch im Februar 2025.
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Der Sturz des Regimes in Damaskus hat in der Türkei einen wahren Siegestaumel ausgelöst. Syrische Flüchtlinge, die sich nach pogromartigen Überfällen nationalistischer Türken in den vorhergegangenen Monaten nicht mehr auf die Straße getraut hatten, konnten den Sturz Baschar al-Assads ausgelassen feiern. Regierungsnahe Zeitungen füllten ihre Titelseiten mit Bildern jubelnder Syrer im ganzen Land. Wegen der hohen Flüchtlingszahlen hatte die türkische Opposition die Syrien-Politik der Regierung jahrelang scharf kritisiert. Nun kanzelt Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Oppositionspolitiker ab: „Begreift ihr jetzt, weshalb wir in Syrien sind?“ 

Doch nicht nur Erdoğan schreibt seinem Land eine zentrale Rolle im syrischen Machtwechsel zu. Der Chef des türkischen Geheimdiensts, İbrahim Kalın, besuchte als erster hoher Vertreter einer ausländischen Regierung Damaskus. Syriens neuer Machthaber Ahmad al-Scharaa chauffierte ihn persönlich zur historischen Umayyaden-Moschee, damit er dort sein Gebet verrichten konnte. 

In Ankara rechtfertigte Erdoğan indes nicht nur das türkische Engagement in Syrien, sondern auch das in Libyen und Somalia. „So wie in Syrien verweist alles, was in letzter Zeit in unserer Region passiert, auf uns“, verkündete er nach dem Fall Assads in seinem Palast. Es sei das Schicksal der Türkei, Führungsnation zu werden. „Die (wahre) Türkei ist größer als die (heutige) Türkei“, sagte Erdoğan und forderte seine Nation auf, über die eigenen Landesgrenzen hinauszudenken.

Aus dieser Position der gefühlten Stärke heraus betrachtet die Türkei den Sturz Assads nur als Zwischenschritt, denn: Ankaras politische und wirtschaftliche Ziele gehen weit darüber hinaus – nicht nur in Syrien, sondern in der gesamten Region. Die Wunschliste ist denkbar lang. Sie enthält auch Punkte, die sich gegenseitig widersprechen. Zudem birgt die Fülle an Zielen die Gefahr, dass sich die Türkei einmal mehr ordentlich verhebt. 


Priorität: Kurdenfrage in Nordsyrien

Ganz oben auf der Liste Ankaras steht der Wunsch, die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien auszulöschen. Dort ist die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) die bestimmende Kraft. Ihre Miliz, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), bildet das Rückgrat der sogenannten Syrian Democratic Forces (SDF). Zu den SDF gehören auch arabische sowie christliche Truppen assyrischer und armenischer Konfession. 2014 sind die USA den syrischen Kurden bei der Verteidigung der Stadt Kobane gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beigesprungen. Seitdem baut Washington die SDF durch Ausbildung und Bewaffnung zu Bodentruppen der internationalen Koalition gegen den IS aus.

Geburtshelfer von PYD und YPG war Anfang der 2000er Jahre jedoch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die seit über 40 Jahren einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat und für eine Autonomie der türkischen Kurden führt. Wie die Türkei haben die EU und die USA die PKK auf die Terrorliste gesetzt – nicht jedoch die PYD, die YPG oder die SDF. Das tat nur die Türkei. Seit Jahren bombardiert sie die Stellungen der YPG sowie die gesamte zivile und wirtschaftliche Struktur der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien. Zwar sind die syrischen Kurden für Ankara keine Gefahr, doch Ankara fürchtet, dass ein kurdischer Erfolg in Syrien den eigenen Kurden zu viel Mut macht.

Ganz oben auf der Prioritätenliste Ankaras steht der Wunsch, die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien auszulöschen

Wie sehr die türkische Regierung die Zerstörung der kurdischen Selbstverwaltung über all ihre anderen Anliegen in Syrien stellt, zeigte das Vorgehen der sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA) kurz vor dem Fall von Damaskus. Die SNA ist ein Kind der Türkei: 2017 brachte Ankara eine Reihe islamischer und islamistischer Milizen dazu, sich unter ein gemeinsames Kommando zu stellen. In der Folge unterstützte die SNA die Invasion der türkischen Armee in Syrien. Teile ihrer Kämpfer ließen sich von der türkischen Regierung in den Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien und in den Bürgerkrieg nach Libyen schicken. Noch vor dem Fall von Damaskus trennten sich SNA-Einheiten vom Gros der Rebellenkräfte, die in Richtung der syrischen Hauptstadt zogen. Auf Anweisung Ankaras und mit Unterstützung der türkischen Luftwaffe griffen sie die kurdische Selbstverwaltung an und zwangen ihre Truppen, sich auf das östliche Ufer des Euphrat zurückzuziehen. 

Noch ist nicht ausgemacht, dass Ankara der Selbstverwaltung den Garaus machen kann. Marco Rubio, Außenminister in der Trump-Administration, hält bisher an der Kooperation mit den Kurden fest. Laut US-Angaben bewachen die Kurden in mehreren Gefangenenlagern in Nordsyrien immer noch rund 9000 IS-Kämpfer und deren knapp 40 000 Familienangehörigen.

Die USA und europäische Staaten fürchten die Rückkehr dieser Terroristen, weshalb sich in den vergangenen Wochen hochrangige Diplomaten aus Deutschland, Frankreich und Italien mit Mazlum Abdi, dem SDF-Oberkommandierenden, getroffen haben. Mitte Januar wurde Abdi auch von Masud Barzani empfangen. Barzani ist der mächtigste Mann der kurdischen Regionalregierung im Nordirak. Zwar kooperiert er mit der Türkei, doch für die Kurden Syriens verlangt auch er Autonomie.

Das gestiegene internationale Interesse an der kurdischen Selbstverwaltung erschwert es dem türkischen Präsidenten, seiner Armee den Befehl für eine neue Invasion zu geben. Erdoğan wartet dafür auf einen Wink aus Washington. Gleichzeitig erhöht Ankara den Druck auf Ahmad al-Scharaa, den Chef der islamistischen Front zur Befreiung Syriens (HTS), die ausschlaggebende Kraft für den Sturz Assads. Doch Al-Scharaa, der sich Ende Januar zum Übergangspräsidenten hat ernennen lassen, will nicht gleich wieder eine neue Front eröffnen und hat stattdessen Verhandlungen mit den SDF begonnen. 


Wiederaufbau oder wieder Krieg?

Ein weiteres zentrales Interesse Ankaras ist es, die Flüchtlinge aus Syrien so schnell wie möglich in ihr Land zurückzuführen. In der seit Jahren andauernden Wirtschaftskrise empfindet die Mehrheit der türkischen Bevölkerung die über drei Millionen Syrer als wirtschaftliche Belastung und drängt auf ihre Rückkehr. Dass Erdoğans Partei, die AKP, im März 2024 nach 22 Jahren erstmals weniger Stimmen erhielt als ihre Konkurrentin, die säkulare CHP, lag maßgeblich daran, dass Erdoğan den Flüchtlingszustrom zuließ und anfangs gar beförderte. Unmittelbar nach dem Sturz Assads hat die türkische Regierung daher Programme zur Förderung der Rückkehr aufgelegt. 

In der Türkei stellen bisher nur Migrationsexperten und einzelne Journalisten die Frage, wie sich das Drängen der türkischen Regierung auf einen neuen Feldzug gegen die Kurden mit den Notwendigkeiten verträgt, Frieden zu schaffen, Wohlstand zu fördern und so die Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen. Die hohe Politik ist damit bisher nicht befasst. Sie blendet aus, dass eine solche Militäraktion Infrastruktur zerstört – die Kurden halten die Erdölförderregion Syriens – und eine neue Massenflucht auslösen würde.

Wer finanziert der Türkei den Wiederaufbau Syriens, wenn Ankara gleichzeitig Krieg im Land führt?

Auch das Ziel der türkischen Regierung, der heimischen Bauwirtschaft den Löwenanteil der Aufträge für die Sanierung des kriegszerstörten Landes zu sichern, würde durch einen neuen Waffengang erschwert. Wiederholt hat Erdoğan in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten dafür geworben, dass die EU den Wiederaufbau Syriens finanziert und die Türkei diesen durchführt. Nach dem Sturz Assads richten sich seine Hoffnungen in dieser Angelegenheit nun auch auf die Staaten am Persischen Golf.

Zweifelsohne: Die großen türkischen Bauunternehmen sind aufgrund ihrer geografischen Nähe, ihrer internationalen Erfahrung und ihrer Kapazitäten prädestiniert, eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau Syriens zu spielen. Doch wer wird der Türkei den Wiederaufbau Syriens finanzieren, wenn Ankara gleichzeitig wieder Krieg im Land führt?


Türkisches Großmachtdenken

Dass sich die türkische Regierung mit diesen Fragen bislang nicht weiter aufhält, liegt wahrscheinlich auch daran, dass sie glaubt, ihr Land habe Größeres vor sich. Nur wenn man das in Rechnung stellt, werden die Worte Erdoğans verständlich, wonach in der Region nichts ohne und nichts gegen die Türkei geht. 

Noch vor Beginn des Bürgerkriegs in Syrien schrieb Ahmet Davutoğlu, der spätere Außenminister Erdoğans, sein Buch von der „strategischen Tiefe“ der Türkei. Das Land, so Davutoğlu, sei dazu bestimmt, die zentrale Macht in der Region zu sein. Seine strategische Lage zwischen drei Kontinenten, die lange Staatstradition der Türken, das Erbe des Osmanenreichs und das Gewicht der islamischen Zivilisation ließen den Türken keine andere Wahl als Führungsmacht zu werden.

Im kurzen Arabischen Frühling stärkte die türkische Regierung der islamischen Opposition in Syrien, Ägypten und Tunesien den Rücken. So wie die religiös-konservativen Türken unter Erdoğan die säkulare Minderheit von der Macht verdrängt haben, so glaubte man, würden auch in diesen Ländern die gläubigen Muslime das Ruder übernehmen. Die Türken wären dann der Primus inter pares der Region und nicht mehr dazu verdammt, erfolglos an die Tür der EU zu klopfen. Schon damals spielte Syrien als Tor der Türkei zur arabischen Welt eine zentrale Rolle im Denken Ankaras.

Die Vision von der historischen Aufgabe der Türkei lebt auch heute noch un-
gebrochen weiter

Der Staatsstreich von Abd al-Fattah al-Sisi in Ägypten und der syrische Bürgerkrieg begruben alle Hoffnungen auf eine friedliche Revolution im Nahen Osten. Doch die Vision von der historischen Aufgabe der Türkei lebt ungebrochen weiter. Ankara schwenkte von Soft ­Power auf Hard Power um und war damit in Libyen, im Kaukasus und im Kampf gegen PKK-Stellungen im Irak erfolgreich. Der Fall Assads soll Syrien endgültig zu einem Anhängsel der Türkei machen. 

Wie sicher man sich seiner Sache in Ankara nach dem Sturz Assads war, zeigte sich an dem Vorstoß des türkischen Transportministers Abdulkadir Uraloğlu, der schon im Dezember verkündete, die Türkei werde schon bald mit der neuen syrischen Regierung ein Abkommen über die Festlegung der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) beider Länder im östlichen Mittelmeer abschließen. Aus Damaskus war davon nichts zu hören; schließlich fehlt dem neuen Regime in dieser Angelegenheit sowohl Erfahrung als auch Expertise. 


Umworbener Machthaber Al-Scharaa

Auch Ankaras neuer Geschäftsträger in Syrien, Burhan Köroğlu, ist überzeugt, dass die Türkei in Zukunft die Politik in ­Syrien prägt. Er gehe davon aus, so Köroğlu vor seinem Amtsantritt, dass die Türkei und Syrien in Zukunft so zueinander stehen würden wie früher die osmanische Regierung zu ihrem Statthalter in Damaskus. 

So weit ist es noch nicht. Der neue Herrscher in Damaskus, Al-Scharaa, hat seine Unterhändler nicht sofort nach Ankara gesandt, sondern erst nach Riad und Abu Dhabi. Er selbst besuchte den starken Mann Saudi-Arabiens, Kronprinz Mohammed bin Salman, bevor er einer Einladung des türkischen Staatspräsidenten nach Ankara gefolgt ist. Zwar hat die Türkei Al-Scharaas Rebellengruppe über Jahre hinweg vor Angriffen der Assad-Truppen, iranischer Milizen und russischer Söldner geschützt. Doch heute kann Al-Scharaa aus einer Reihe von Angeboten zur Zu­sammenarbeit wählen.

Nicht nur die Türkei, auch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Katar bieten ihm Unterstützung an. Sie alle wissen um die strategische Bedeutung Syriens – und das nicht nur mit Blick auf den Iran. Saudi-Arabien und die VAE wollen vermeiden, dass Syrien zu einem Werkzeug Erdoğans und der Türkei wird. Sie haben nicht vergessen, dass Ankara noch vor einem Jahrzehnt die Muslimbrüder unterstützt hat, die Nemesis der Golf-Monarchien. Wenn man die Herrschaft der Islamisten in Damaskus schon nicht verhindern kann, dann lockt man sie ins eigene Lager – so lautet die Strategie Saudi-Arabiens und der VAE.

Der lang erwartete Besuch Al-Scharaas in Ankara Anfang Februar brachte nicht den von der Türkei erhofften Durchbruch. Obwohl Erdoğan sein Präsidentenflugzeug nach Damaskus sandte, um Al-Scharaa nach Ankara zu bringen – eine präzedenzlose Geste –, vermied es der Gast, der Türkei konkrete Zugeständnisse zu machen. Zwar betonte er seine Bereitschaft zu einer engen Zusammenarbeit mit der Türkei; dass Ankara die Ausbildung der syrischen Armee übernehmen und weitere Militärstützpunkte in Syrien errichten könnte, erwähnte er jedoch nicht. 

Als es um den Kampf gegen den Terrorismus ging, nannte Al-Scharaa die SDF nicht beim Namen. Nachfragen von Journalisten waren nicht erlaubt. Der neue Herrscher in Damaskus scheint ein feines Gespür für Machtverhältnisse zu haben: Weder darf er es sich mit der Türkei verscherzen, noch darf er Ankara die alleinige Verantwortung für Syrien übertragen und sich damit von Saudi-Arabien sowie von den VAE und ihren Petrodollars isolieren.

Der türkische Außenminister und ehemalige Chef des türkischen Geheimdiensts, Hakan Fidan, zeichnete nach dem Besuch Al-Scharaas ein rosarotes Bild von der nun aufblühenden türkisch-syrischen Freundschaft, wohl um die eigene Wählerschaft zu beruhigen. Laut Fidan habe sich Al-Scharaa in den Unterredungen deutlich dafür ausgesprochen, dass Syrien eine einheitliche Nation hervorbringen müsse, dass es einen starken Zentralstaat brauche, dass keine ethnische Gruppe Privilegien genießen dürfe und dass jede Art von Autonomie und Dezentralisierung ausgeschlossen sei. Hat sich der ehemalige Rebellenführer tatsächlich so geäußert oder hat Fidan ihm diese Worte in den Mund gelegt? Auf jeden Fall entsprechen sie exakt den eigenen Staatsvorstellungen der Republik Türkei. Ankara möchte ­Syrien nach seinem eigenen Bild formen. Doch ist das realistisch?

Noch besteht das Land aus vier verschiedenen Zonen: In den Regionen von Aleppo, Hama, Homs und Damaskus lebt die sunnitisch-arabische Bevölkerung. Ganz im Süden stellen die Drusen die Mehrheit der Bevölkerung. Die Küste des Mittelmeers ist alewitisches Siedlungs­gebiet und im Nordosten liegt die kurdische Selbstverwaltung. Nur unter den Sunniten blickt eine Mehrheit hoffnungsvoll in die Zukunft. Drusen, Kurden und Alewiten schwanken zwischen Schicksalsergebenheit und Angst. Ob bei der Ernennung von Ministern, der Bestellung von Offizieren für die neue Armee oder der Besetzung von Verwaltungsstellen: Nicht-Sunniten fühlen sich schon jetzt übergangen. Ist da das türkische Modell von einem alles bestimmenden Zentralstaat wirklich die beste Lösung?


Zweifel an Erdoğans Größenfantasien

Wahrscheinlich tut Al-Scharaa der Türkei sogar einen Gefallen, indem er sich ihr nicht völlig unterwirft. Denn Erdoğans ­Politik könnte in Syrien nur Schiffbruch erleiden. Wirtschaftlich, weil Ankara nicht die Mittel hat, die es zum Wiederaufbau Syriens braucht. Innenpolitisch, weil sich die verschiedenen Gruppen Syriens nicht in ein arabisch-islamistisches Korsett zwängen lassen werden, weil die Welt­ansicht der neuen Herrscher politische und rechtliche Egalität ausschließt und weil die staatlichen Kapazitäten ungenügend sind. Wenn die Türkei die Zügel übernimmt, wird man sie auch für das Scheitern des Übergangs verantwortlich machen.

Fast scheint es, als misstrauten auch einige von Erdoğans Weggefährten und Verbündeten dem Narrativ, dass sich der Türkei nach dem Machtwechsel in Syrien große Chancen böten. Devlet Bahçeli etwa, Vorsitzender der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), lehnte bis vor Kurzem noch jede Forderung der Kurden nach Anerkennung einer eigenen Identität kategorisch ab. Er forderte unter anderem ein Verbot der legalen kurdischen Partei in der Türkei und die Hinrichtung des seit 2009 in der Türkei inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan. Doch im Oktober letzten Jahres änderte Bahçeli von heute auf morgen seinen Kurs. Plötzlich waren ihm Türken und Kurden Schicksalsbrüder; Öcalan solle freikommen, wenn er die PKK auflöse. 

Der Grund für Bahçelis Sinneswandel ist das Machtvakuum im Nahen Osten, das infolge der Niederlage der Hisbollah im Libanon und der damit verbundenen Schwächung des Iran entstanden ist und durch den Fall Assads noch verstärkt wurde. Bahçeli befürchtet, dass die Kurden im Nahen Osten, die im Irak, in der Türkei und in Syrien leben, von diesem Vakuum profitieren werden. Der Sturz Saddam Husseins hat im Irak zur Etablierung der kurdischen Regionalregierung im Nordirak geführt. Und jetzt ist Teheran geschwächt, das wie Ankara jegliche kurdische Bewegung fürchtet. Bahçeli glaubt daher, dass die Türkei die Kurden heute genauso braucht, wie sie sie im türkischen „Befreiungskampf“ vor der Gründung der Republik Türkei gebraucht hat. Die Größenfantasien der Türkei sind eng mit ­Überlebensängsten verbunden.    

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 85-90

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Dr. Günter Seufert ist Wissenschaftler, freier Journalist und Buchautor. Zuvor hat er u.a. für die SWP, das Orient-Institut Istanbul und als Autor für die ZEIT gearbeitet.