Internationale Presse

01. Jan. 2020

Einsamer Retter

Unter Europas Regierungschefs hat allein Emmanuel Macron eine strategische Vision für die EU. Seine revolutionäre, mitunter als arrogant empfundene Rhetorik und seine taktischen Fehler stoßen nicht nur Nachbarländer vor den Kopf. Auch daheim regt sich Kritik an der Methode Macron, die Land und Kontinent zu spalten droht.

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„Revolution“ hatte Emmanuel Macron sein Wahlkampfbuch be-titelt. Zur Halbzeitbilanz des jungen französischen Präsidenten steht fest, dass der Titel nicht nur ein Slogan war. Macron hat sich mit radikalem Veränderungswillen daran gemacht, die bestehenden Zustände im Inneren Frankreichs wie in Europa umzustürzen. Das bringt ihm aufgebrachte bis feindselige Reaktionen derjenigen ein, die am liebsten den Status quo bewahren würden.



Auch in Deutschland hat sich sein Bild vom gefeierten Hoffnungsträger für Frankreich und europäischen Visionär gewandelt. „Emmanuel Macron – vom Heilsbringer zum Störenfried“ urteilte Die Welt, und die Süddeutsche Zeitung attestierte Macron gar eine „Trumpisierung“. Deutschland fällt es schwer, den europäischen Status quo zu überdenken, insbesondere im Bereich Verteidigung.



Der Reformprozess in Frankreich ist anders als erwartet durch die monatelangen Gelbwesten-Proteste nur verlangsamt, jedoch nicht abgebrochen worden. Macron hat erfolgreich das Arbeitsrecht gelockert, den Arbeitsmarkt liberalisiert sowie die Privilegien für Besserverdienende in der Arbeitslosenversicherung gekappt. Zu seinen weiteren Errungenschaften zählt die Abschaffung des Eisenbahnerstatuts, das den Beschäftigten der Staatsbahn Sonderkonditionen wie ein frühes Renteneintrittsalter garantierte. Aber auch im Bildungswesen hat Macron weitreichende Veränderungen wie ein vom deutschen Abitur inspiriertes neues Baccalauréat sowie generalisierte Förderklassen in der 1. und 2. Klasse für Kinder aus sozialen Brennpunktvierteln durchgesetzt.



Schon muss sich die Regierung an einer neuen Protestfront beweisen. Die Gewerkschaften laufen Sturm gegen die geplante Vereinheitlichung des Rentensystems, das bislang aus 42 konkurrierenden Rentenkassen besteht. Die „soziale Bewährungsprobe“ (Le Figaro) mit einem großen Streiktag am 5. Dezember beschäftigt soziale Netzwerke und traditionelle Medien gleichermaßen. Anders als die Gelbwesten-Bewegung handelt es sich um einen strukturierten, von den Gewerkschaften angeführten Widerstand gegen ein noch nicht in allen Details bekanntes Reformprojekt.



Die „große Malaise“ (Le Monde) vieler Französinnen und Franzosen, die im öffentlichen Sektor arbeiten, trägt zum Mobilisierungswillen bei. Für Beschäftigte der Staatsbahn SNCF und der Pariser Verkehrsbetriebe RATP, für Lehrer und Polizisten, für staatliches Krankenhauspersonal und Studierende sei der Streik eine willkommene Gelegenheit, ihre angestaute Wut über ihre Arbeits- und Studienbedingungen abzulassen, kommentierte das Nachrichtenmagazin Le Point.

Für den Intellektuellen Marcel Gauchet ist der Streik eine Folge der Krise der repräsentativen Demokratie. Die Bürgerinnen und Bürger hätten immer weniger das Gefühl, dass die Volksvertreter ihre Interessen auch vertreten – das führe zu immensem Frust, der sich von Zeit zu Zeit entlade. Zugleich beobachtet Gauchet ein typisch französisches Paradox. Die Regierenden würden kritisiert und teilweise verachtet, jedoch konzentrierten die Bürger ihre Erwartungen auf den Präsidenten, der wie der oberste Heilsbringer betrachtet werde.



Während sich die politische Landschaft in Frankreich um Macrons Partei La République En Marche (LREM) und Marine Le Pens Rassemblement National (RN) neu strukturiert, fallen die früheren Regierungsparteien Les Républicains (LR) und Parti Socialiste (PS) immer mehr zurück. Verglichen mit den Reaktionen, die Nicolas Sarkozy seinerzeit hervorrief, als er das höchste Parteiamt eroberte, war die Wahl des neuen LR-Chefs Christian Jacob ein Nicht-Ereignis. Jacob machte von Anfang an klar, dass er keine Präsidentschaftskandidatur anstrebt und den Vorsitz als Pflichterfüllung in schweren Zeiten ansieht.



Ähnlich unsicher sieht die Zukunft der Sozialisten aus, auch wenn der frühere Präsident FranÇois Hollande sowie die frühere Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal Kandidaturambitionen für 2022 geäußert haben.

Zweites Duell Macron–Le Pen

Umfragen belegen, dass alles auf ein zweites Duell zwischen Macron und Le Pen bei den Präsidentenwahlen 2022 hinausläuft. Anders als 2016/17 befördert der Präsident diese Perspektive, die seine Wiederwahlchancen erhöht. Vom „Retter“ Frankreichs vor der „braunen Gefahr“ hat er sich in den heimlichen Verbündeten Le Pens verwandelt, die er als Gegnerin braucht, um die eigenen Reihen zu schließen.



Eine am 3. November 2019 veröffentlichte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop sagt voraus, dass der Präsident in der entscheidenden Stichwahl 2022 mit 55 Prozent der Stimmen gegen Le Pen mit 45 Prozent gewinnen würde. 2017 hatte er sich mit 66 Prozent der Stimmen gegen die Rechtspopulistin durchgesetzt. Schon warnen Politiker wie der frühere LR-Parteichef Jean-FranÇois Copé davor, dass ein „Szenario der dreißiger Jahre“ nicht ausgeschlossen sei und Le Pen „aus Versehen“ einen Sieg davontragen könnte. Der Abgeordnete Jean-Louis Bourlanges von Macrons Bündnispartei Modem analysiert, dass die Erosion der bürgerlichen Parteien die Gefahr eines demokratischen „Unfalls“ erhöhe. „Das Risiko darf nicht unterschätzt werden“, schrieb Bourlanges. Der Intellektuelle Nicolas Baverez spricht von einer De-facto-Allianz zwischen Le Pen-Anhängern und Sympathisanten der Linkspartei La France Insoumise (LFI), die während der Gelbwesten-Proteste zu beobachten gewesen sei. Dieser „Bündnisschluss von unten“ werde durch gegenteilige Beteuerungen der Parteiapparate nicht aufgelöst.



Bemerkenswert ist, dass Marine Le Pen sich resolut als Verteidigerin des Status quo positioniert und damit ihre Popularitätswerte gesteigert hat. Sie hat das Projekt aufgegeben, den Franc wiedereinzuführen, und will auch keinen „Frexit“ mehr. Stattdessen sammelt sie ihre Wähler mit dem Versprechen um sich, das Land nicht den Anpassungszwängen der Globalisierung zu unterwerfen und den Wohlfahrtsstaat nicht zurückzubauen.

Fruchtbare Konfrontation?

Derweil hat die „Revolution“ Macrons ihre volle Sprengkraft innerhalb der EU entfaltet. Das liegt auch an einer taktischen Kehrtwende des jungen Präsidenten. Nach langem, geduldigem Werben um Unterstützung durch die Bundesregierung ist er, wie bei einer Pressekonferenz im Elysée-Palast angekündigt, zu einer Politik der „fruchtbaren Konfrontation“ mit Deutschland übergegangen.



Frankreich entwickelt sich unter seiner Führung mehr und mehr zur Antriebskraft für eine alle Bereiche betreffende Infragestellung des europäischen Status quo. Das bringt ihm den bislang stärksten Widerstand aus Deutschland ein, das im vergangenen Jahrzehnt mit den herrschenden Verhältnissen am besten klargekommen ist.



Macron aber rüttelt gleich an zwei Pfeilern deutschen Selbstverständnisses. Der Fortbestand einer regelbasierten Freihandelsordnung mit dem Gegenstück regelbasierter Haushaltsstabilität in der Eurozone ist aus seiner Sicht nicht garantiert. Ebenso verlangt er Deutschland ab, sich auf eine Welt ohne die amerikanische Sicherheitsgarantie vorzubereiten. In seinem Interview mit dem britischen Nachrichtenmagazin The Economist nannte er die Diskussion über die Einhaltung der Drei-Prozent-Defizitregel „eine Debatte des vergangenen Jahrhunderts“.



Damit meinte er, dass die Länder der Eurozone viel stärker in die Zukunft blicken und nicht in Schuldenängsten gefangen bleiben dürften. Die multilaterale Freihandelsordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter amerikanischer Federführung aufgebaut wurde, werde durch zwei Faktoren infrage gestellt: durch die umwelt- und klimapolitischen Herausforderungen sowie durch die Tatsache, dass die USA nicht länger als Garanten dieser Ordnung auftreten. Die Hoffnung, dass zumindest letzteres Phänomen ein vorübergehendes sei und mit der Wahl eines neuen Präsidenten in Washington verschwinde, teilt Macron nicht.

Mehr Souveränität für Europa

In seiner Sorbonne-Rede im September 2017 hatte der Präsident diese Argumente schon in der freundlichen Form „eines Europas, das schützt“ präsentiert. Doch erst jetzt wird vielen klar, warum er so vehement „europäische Souveränität“ einfordert. Am weitesten gehen seine Forderungen in dieser Hinsicht im Bereich der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Macron klingt dabei „mehr wie ein Thinktanker als wie ein Präsident, der über ein Nukleararsenal bestimmt und über einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verfügt“, wie es Fabrice Pothier vom International Institute for Strategic Studies (IISS) anmerkte. Seine drastische Wortwahl zum „Hirntod“ der NATO habe leider der „schonungslosen Logik“ geschadet, die sich hinter seinen Ausführungen verberge, bedauerte der LR-Europaabgeordnete Arnaud Danjean in Le Figaro.



Macron stelle aber die richtige Frage, die Europa endlich beantworten müsse: „Wollen die Europäer ihre Sicherheit selbst in die Hand nehmen?“ Dabei tritt auch die Ungeduld zutage, dass der Ankündigung Angela Merkels vom Mai 2017 in Trudering so gut wie keine Taten gefolgt seien. „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen“, sagte die Bundeskanzlerin damals in einem bayerischen Bierzelt.



Macron sieht sich gezwungen, allein vorzupreschen, und hat beispielsweise die Initiative für eine militärische Überwachungsmission in der Straße von Hormus ergriffen, eine der wichtigsten Handelsrouten für den europäischen Binnenmarkt. Deutschland unterstützt das Vorhaben politisch, aber nicht militärisch. Passivität beklagte Macron bei der Bundesregierung auch nach Auslaufen des INF-Vertrags im August, der seit Ende 1987 Rüstungskontrollen für landgestützte atomare Mittelstreckenraketen garantierte. Dies ist der Grund, warum Macron den russischen Vorschlag eines Moratoriums nicht von vornherein ausgeschlagen hat, sondern ihn als Grundlage für Verhandlungen zur künftigen Rüstungskontrolle prüfen lassen will. Einen Gegenvorschlag der Bundesregierung gibt es nicht.



Es herrscht allerdings auch Bewusstsein in Frankreich dafür, wie schwer es Deutschland fällt, sich vom jahrzehntelang bewährten Vorgehen zu verabschieden, Amerika in Sicherheitsbelangen entscheiden zu lassen. Beim INF-Vertrag wie bei den anderen Rüstungskontrollverträgen waren die Europäer keine Vertragsparteien. Als Nuklearmacht war Frankreich jedoch in die Verhandlungen eingebunden, während Deutschland nicht mitredete.

„Wenn wir unsere Verbündeten von unserem Ansatz überzeugen wollen, dann müssen wir ihre Situation verstehen. Frankreich muss überzeugend auftreten, nicht arrogant oder schroff“, mahnte der EU-Abgeordnete Danjean.

Überzeugen – ohne Arroganz

Vor „den Gefahren von Arroganz in der Diplomatie“ warnte auch Dominique Moisi vom Institut Montaigne. „Wer in Europa hat eine strategische Vision für die Welt?“, fragte Moisi. „In dieser Kategorie findet sich nur Emmanuel Macron.“ Dennoch habe er Formfehler begangen. „Alle Wahrheiten müssen ausgesprochen werden, aber nicht zur selben Zeit“, erklärte Moisi.



Während ein Dialogangebot an Russland versucht werde, dürfe man nicht die NATO mit einem „Hirntod“-Urteil anzweifeln. „Paris hat sich nicht für Moskau und gegen Washington entschieden“, stellte Moisi klar. Dass dieser Eindruck entstehen konnte, sei auf Kommunikationsirrtümer zurückzuführen. Auch gegenüber den europäischen Partnern gelte diese Regel. Wer die Europäer verbal „verletze“, könne nicht Gefolgschaft für ein vereinendes Projekt von ihnen erwarten.



„Macrons frontale Führerschaft läuft zu oft darauf hinaus, alleine zu führen“, kritisierte auch Fabrice Pothier. Dies könne sich letztendlich als kontraproduktiv erweisen. So seien die französischen Einwände gegen den bürokratisch organisierten Prozess der EU-Erweiterungsverhandlungen durchaus berechtigt. Aber die Blockade der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien befördere in erster Linie den Eindruck, dass Frankreich die geostrategische Perspektive für den Westbalkan aus den Augen verloren habe.



Für Natacha Polony vom Nachrichtenmagazin Marianne verdient Macron den Titel des „Chefspalters“. Sein oftmals brutaler Stil führe dazu, einzelne Gruppen gegeneinander aufzustacheln. Auch der deutsche Außenminister Heiko Maas warnte, dass Macron mit seinen Vorstößen zur NATO und zur EU-Erweiterung Europa spalte.



„Die kohärente strategische Vision des französischen Präsidenten ist willkommen. Aber sie darf (…) nicht dazu führen, dass sich der Präsident auf exzessive Art isoliert. Die Europäer wachzurütteln, ist eine Sache, aber sich Amerika und England zu entfremden, ist eine andere“, schrieb Dominique Moisi. Es sei gefährlich, die Spaltung unter den Europäern zu beschleunigen.

Michaela Wiegel ist Frankreichkorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020, S. 116-119

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