Weltspiegel

26. Juni 2023

Beweise der Zugewandtheit

Emmanuel Macron kommt zum Staatsbesuch nach Deutschland – als erster französischer Präsident seit 2000: eine Chance für Berlin, seine Wertschätzung zu zeigen.

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Bild: Scholz und Macron in Potsdam
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Wie steht es um das deutsch-französische Verhältnis kurz vor dem Staatsbesuch Präsident Emmanuel Macrons in Deutschland, dem ersten seit 23 Jahren? Bundeskanzler Olaf Scholz hat den deutsch-französischen Motor mit einer „Kompromissmaschine“ verglichen, die „gut geölt, aber zuweilen eben auch laut und gezeichnet von harter Arbeit“ laufe. Den Vergleich zog er am 22. Januar 2023 beim deutsch-französischen Ministerrat in Paris, der eigentlich schon Ende Oktober 2022 hätte stattfinden sollen. Unstimmigkeiten hatten zu der aufsehenerregenden Terminverschiebung geführt.



Wenn es mal laut wird zwischen Paris und Berlin, wenn beispielsweise um Kompromisse in der Energiepolitik gerungen oder über die Zukunft des Stabilitätspakts gestritten wird, horcht ganz Europa auf. Die Geräuschkulisse übertönt (beinahe) den außerordentlichen deutsch-französischen Gleichklang angesichts der schwersten geopolitischen Umwälzung seit dem Berliner Mauerfall von 1989. Anders als während der Balkan-Kriege hat der Überfall Russlands auf die Ukraine nicht dazu geführt, dass Deutschland und Frankreich in gegensätzliche historische Reflexe verfallen. Stattdessen herrschte und herrscht ein spontanes Einvernehmen, den Angriff auf die internationale Ordnung nicht hinzunehmen, die Ukraine „so lange wie nötig“ zu unterstützen und Europas Sicherheit angesichts des russischen Imperialismus neu zu organisieren. Der deutsch-französische Schulterschluss bei Sanktionen, Waffenlieferungen und NATO- sowie EU-Erweiterung ist beachtlich, weil er alles andere als selbstverständlich ist.



Alte Zerreißproben

Vor gut drei Jahrzehnten geriet der Zerfall Jugoslawiens zur deutsch-französischen Zerreißprobe. Deutschland preschte mit der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens vor und hielt das Selbstbestimmungsrecht der Völker hoch, während Frankreich zunächst auf die Rettung des Vielvölkerstaats setzte und serbischen Plänen entgegenkam. Erst im Verlauf der Kriege und nach schweren Verwerfungen näherten sich die Positionen zwischen Frankreich und Deutschland an. Der Kosovo-Krieg vom März bis Juni 1999 mit NATO-Luftschlägen auf Ziele in Serbien markierte eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Aber auch für Frankreich mit seiner ungebrochenen Tradition militärischer Einsätze kam der NATO-Einsatz einer Kehrtwende gleich.  Außenminister Hubert Védrine hatte lange die serbische Sicht des Kosovo als die „Wiege ihres Landes, die Wiege ihrer Geschichte“ geteilt. Die französische Regierung organisierte die Konferenzen von Rambouillet und Paris im Februar 1999 und hoffte auf eine Verhandlungslösung.

Erst nach dem Scheitern der Verhandlungen schwenkte Paris um und beteiligte sich aktiv an dem NATO-Einsatz unter amerikanischer Führung. Die Erfahrung sollte den Ausschlag geben für das Bestreben Frankreichs, in die integrierten Militärstrukturen der NATO zurückzukehren, ein Prozess, der 2009 abgeschlossen war.

Der Rückblick auf die Balkan-Kriege lässt ermessen, wie weit Berlin und Paris sich in entscheidenden außen- und sicherheitspolitischen Fragen angenähert haben. Das zweite Kapitel des Aachener Vertrags, „gemeinsame Standpunkte bei allen wichtigen Entscheidungen festzulegen“, wird respektiert. Das ist umso bemerkenswerter, da die Ampelkoalition in Berlin eine gewisse Zeit brauchte, sich der Bedeutung des 2019 unterzeichneten Vertragswerks bewusst zu werden.

Außenministerin Annalena Baerbock nahm am 9. Mai 2023 als erstes Mitglied der Regierung Scholz an einer französischen Kabinettssitzung teil, bei der Russlands Krieg gegen die Ukraine im Mittelpunkt stand. Symbolkräftig ist weiter, dass der Bundeskanzler und der französische Präsident ihre erste Reise nach Kiew zwar spät, aber gemeinsam (mit dem damaligen italienischen Regierungschef Mario Draghi und dem rumänischen Präsidenten Klaus Johannis) unternahmen.

Der russische Angriff auf die Ukraine markiert das Scheitern der wohl bedeutendsten deutsch-französischen diplomatischen Initiative ohne amerikanische Beteiligung auf dem europäischen Kontinent. Das Normandie-Format entstand am D-Day 2014 und bildete einen beachtlichen deutsch-französischen Versuch, das Schicksal Europas „ein Stück weit“ (wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel später formulieren sollte) selbst in die Hand zu nehmen.



Bewegung auf beiden Seiten

Daher erscheint es verständlich, dass es Berlin und Paris waren, die über den 24. Februar 2022 hinaus das Gespräch mit Wladimir Putin suchten. Doch in beiden Hauptstädten ist die Ernüchterung über Putins Lügen groß. Mit der Zeitenwende-Rede über die geistig-materielle Wiederbewaffnung Deutschlands, der Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart an die Ukraine und dem pragmatischen Ende von Exportbeschränkungen in Kriegsgebiete legte Scholz die Grundlagen für einen dauerhaften Konsens mit Paris. Spiegelbildlich revidierte Macron seine „Hirntod“-Äußerung zur NATO und erklärte sich bereit, zur Abschreckung Russlands einen Heereskampfverband der NATO in Rumänien zu stationieren, der von Frankreich geführt wird.

In seiner Rede in Bratislava Ende Mai öffnete Macron zudem weit die Tür für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, als er robuste Sicherheitsgarantien gegen Russland forderte. Das war eine späte Richtigstellung, hatte er noch im Dezember 2022 im Fernsehsender TF1 vor heimischem Publikum Sicherheitsgarantien für Russland verlangt. Zudem legte er bei der GLOBSEC-Konferenz die französische Zurückhaltung zur EU-Erweiterung endgültig zu den Akten. Stattdessen befördert Macron fortan die Erweiterungsdynamik, nicht nur mit Blick auf die Ukraine und die Republik Moldau, sondern auch auf dem Westlichen Balkan.

Die Europäische Politische Gemeinschaft ist entgegen zunächst gehegter Skepsis in Berlin nicht als „Wartehalle“ für EU-Beitrittswillige konzipiert, sondern hat sich beim zweiten Gipfel in Moldau als schlüssiges, gegen den russischen Imperialismus gerichtetes Gesprächsformat etabliert. Langjährige deutsch-französische Dissonanzen in der Erweiterungsfrage sind damit überwunden, was gegensätzliche Ansprüche an den Beitrittsprozess nicht ausschließt. Aber das deutsch-französische Gefährt steuert in die gleiche Richtung.

Auf einem anderen Blatt steht, ob Macrons Bekehrung zur erweiterten, „geopolitischen“ EU im eigenen Land mehrheitsfähig ist. Verfassungsartikel 88.5 erfordert Dreifünftel-Mehrheiten in beiden Parlamentskammern oder ein positives Referendumsergebnis vor der Ratifizierung eines Beitrittsabkommens (für Kandidaten ab 2004).

Aufhorchen ließ auch Macrons Loblied auf das Ukraine-Engagement des amerikanischen Präsidenten Joe Biden, das in starkem Kontrast zu seiner auf dem innerchinesischen Flug geäußerten Sorge vor einem „Vasallen“-Status für Europa stand. Der Franzose verband die Wertschätzung für Biden mit dem Hinweis, Europa müsse für den Fall eines Machtwechsels 2024 in Washington gerüstet sein. „Wir können unsere kollektive Sicherheit nicht an die Entscheidungen der amerikanischen Wähler delegieren“, sagte er. Es bleibt fraglich, ob Scholz sich auf diese Weise äußern würde.



Ende einer stillen Übereinkunft?

Hier scheint bis heute die eigentliche deutsch-französische Trennlinie zu verlaufen, die bereits 1963 den Bundestag dazu brachte, den Élysée-Vertrag mit einer proatlantischen Präambel zu versehen. Das NATO-Gründungsmitglied Frankreich muss sich dabei vorhalten lassen, mit dem Nein der Nationalversammlung zur europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 selbst den Weg zu einer genuin europäischen Armee versperrt zu haben.

Die nukleare Teilhabe, die Deutschland an Amerika bindet, bildet bis heute eine nicht versiegende Quelle des Anstoßes in Paris, wie die Reaktionen nach der Entscheidung für amerikanische F-35-Kampfjets zeigten. Die „Kompromissmaschine“ muss auch deshalb bei den gemeinsamen Rüstungsprojekten wie dem Kampfflugzeugsystem FCAS und dem Panzersystem MGCS auf Hochtouren laufen. Die große außenpolitische Übereinstimmung bildet dabei die Voraussetzung für die fortgesetzten Anstrengungen, sich zu einigen.

Das gilt auch für den Streit um die Luftverteidigung. Die Irritationen über die von Berlin ergriffene Initiative über einen European Sky Shield sollen bei einer Konferenz am 19. Juni in Le Bourget ausgeräumt werden. Während es vordergründig um die industriellen Aufträge geht, dreht sich die Debatte eigentlich darum, ob Berlin den französischen Führungsanspruch in strategischen Fragen für Europa weiterhin akzeptiert. Die französischen Befindlichkeiten sind darauf zurückzuführen, dass man in Paris fürchtet, Berlin habe die stille Übereinkunft aufgekündigt, wonach Deutschland die wirtschaftliche Führungsmacht sei, Frankreich als Atommacht und Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat jedoch die strategische.



Vortritt für Paris

Als Jacques Chirac vor 23 Jahren zum Staatsbesuch nach Berlin reiste und vor dem Bundestag eine Rede hielt, spielte die EU-Erweiterung, seinerzeit nach Osten, die entscheidende Rolle. Damals deutete Chirac erstmals an, einen europäischen Verfassungsvertrag unterstützen zu wollen. Macrons Staatsbesuch erfolgt wiederum während einer intensiven Erweiterungsdebatte. Mit der Bratislava-Rede ist Macron in Vorleistung gegangen. Gastgeber Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fällt die Aufgabe zu, über das politische Tagesgeschäft hinaus positive Signale mit Breitenwirkung auszusenden.

Worum es geht, hat der 2015 verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt in seinem Spätwerk „Außer Dienst“ niedergeschrieben. Er wünsche sich, dass die Erfahrung der von Frankreich ausgehenden Versöhnung uns Deutschen nicht verloren gehe, formulierte der Hanseat, der zeitlebens seine Freundschaft zum ehemaligen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing pflegte. Die Versöhnungsgesten von Robert Schuman und Charles de Gaulle an Deutschland nannte Schmidt „unverdiente Glücksfälle“. Allein Frankreich habe die Möglichkeit, eine Führungsrolle in Europa zu spielen, mahnte der Altbundeskanzler, den Scholz als Vorbild bezeichnet.

Schmidt schrieb dies wohlgemerkt knapp zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung. Frankreich sei es, das Richtung und Tempo in der erweiterten EU vorgeben werde. Für ihn sei es selbstverständlich, auf der Weltbühne den Franzosen den Vortritt zu lassen.

Dieses Vermächtnis Schmidts, so wird es zumindest im Élysée-Palast wahrgenommen, gerät immer mehr in Vergessenheit. Macrons Staatsbesuch bietet die Möglichkeit, Frankreich die Wertschätzung zuteilwerden zu lassen, nach der es auch aufgrund nicht verarbeiteter Niederlagen wie in Mali dürstet.

„Denken Sie daran, dass Frankreich Sie liebt!“, sagte Macron im November 2018 an die Deutschen gerichtet in einer Rede vor dem Bundestag. Der Bundeskanzler hat eine Beziehung „ohne süßen Schmus“ versprochen. Aber vielleicht braucht es doch gewisse Beweise der Zugewandtheit, weil aus der Partnerschaft sonst schnell ein ­Rivalitätsverhältnis wird.

Im Argen liegt das Interesse an der Sprache des Nachbarn. Immer weniger junge Franzosen lernen Deutsch, umgekehrt ist es genauso. Interesse kann man nicht erzwingen; aber wenn es geweckt werden soll, dann wäre der Staatsbesuch eine gute Gelegenheit.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 62-65

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