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01. Jan. 2016

Ein Problem aus der Hölle

Der Bürgerkrieg in Syrien wird uns noch viele Jahre beschäftigen

Hunderttausende Tote, Millionen Flüchtlinge, ein völlig zerstörtes Land, das zum geopolitischen Schlachtfeld geworden ist: Den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden und eine Strategie für den Wiederaufbau zu entwickeln, ist eine politische, diplomatische und militärische Mammutaufgabe, der sich vor allem die EU stellen sollte. Der Wiener Prozess ist ein Anfang.

Eine Zukunftsaufgabe für die EU

Ist ein Militäreinsatz in Syrien die richtige Antwort auf den Terror?

Wir haben den Militäreinsatz in Syrien auch in Solidarität zu Frankreich beschlossen. Was mir aber eigentlich Sorge bereitet, ist folgende Frage: Wie soll man den Bürgerkrieg in Syrien beenden, nachdem wir dieser Aufgabe seit nunmehr über vier Jahren nicht wirklich nachgekommen sind? Das gilt für die ganze internationale Gemeinschaft, aber ganz besonders für den Westen. Abgesehen von den bisher wenigen Sitzungen der Syrien-Konferenz in Wien ist es noch nicht gelungen, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln, das politische, finanzielle, militärische und regionalpolitische Elemente für eine Beendigung dieses Krieges verbinden würde.

Auch der Einsatz der Bundeswehr findet im Rahmen der schon bestehenden Anti-Terror-Allianz statt, die ja eine Allianz zur Bekämpfung des Islamischen Staates, aber nicht zur Beendigung des Bürgerkriegs ist. Die Bekämpfung des Islamischen Staates müsste aber als wichtiges Teilelement in eine Gesamtstrategie zur Beendigung des Krieges und für eine Nachkriegsordnung in Syrien eingebettet werden. Letzteres kann nur schrittweise geschehen. Und am Ende dürfte Baschar al-Assad nicht mehr an der Spitze des syrischen Staates stehen. Ohne eine Strategie für einen Wiederaufbau und eine Stabilisierung ­Syriens wird Terrorbekämpfung jedenfalls ein Kampf gegen Windmühlen bleiben, denn solange wir kein überzeugendes Konzept haben – und Syrien ist ja nicht der einzige Failed State der Region –, werden sich Terror und islamischer Fundamentalismus immer wieder neu aus den bestehenden Konflikten speisen. Die gegenwärtige militärische Aktivität ist aus diesem Grund wohl nicht sinnlos. Sie wird aber nur dann mittel- und langfristig zu einer sicht­baren Beruhigung und einer Eindämmung des Terrorismus in der Region und in Europa führen, wenn diese Terrorbekämpfung in eine regionale Friedens- und Rehabilitierungsstrategie eingebunden wird.

Müssten nicht wesentlich mehr Ressourcen für eine Stabilisierung ­Syriens aufgebracht werden?

Ja, und das kostet sicherlich auch sehr viel Geld. Syrien ist ein beinahe komplett zerstörtes Land. Das lässt sich nicht mit Kleinigkeiten wieder aufbauen, hier sind große Ressourcen gefordert. Nur haben wir nicht den Luxus, entscheiden zu können, ob wir uns nach Afghanistan einem weiteren Peace­making- oder Nationbuilding-Projekt zuwenden wollen. Ich glaube schlicht nicht, dass es zu einem solchen Projekt eine Alternative gibt. Neben den Pro­blemen, die durch das russische Vorgehen in der Ukraine erzeugt worden sind, scheint mir der Krieg in Syrien eine fundamentale, fast historische Bedrohung für die Existenzgrundlage der gesamten Europäischen Union zu sein. In der ersten Sicherheitsstrategie, die die Europäische Union im Jahr 2003 veröffentlicht hat, heißt es sinngemäß, dass die EU einen „ring of well-governed states to the east and to the south“ anstrebt.

Wir haben einen solchen „Ring gut regierter Staaten“, so weit es sich um jetzige oder künftige Mitglieder der EU handelt. Und selbst da haben wir die Zielgerade noch nicht ganz erreicht. Außerhalb dieses engeren Ringes aber, der durch die konkrete Erweiterungspolitik abgedeckt wurde und wird, hat unsere Politik vollkommen versagt. Man muss schonungslos feststellen: Die vor zwölf Jahren so richtige Vision einer Europäischen Union, die sich mit einem cordon sanitaire der Stabilität, des wachsenden Wohlstands und der Zusammenarbeit sowohl südlich des Mittelmeers als auch in Osteuropa umgeben kann, ist jetzt, im Jahr 2016, in der Realität massiv gescheitert. Und deshalb wäre es längst überfällig, diese europäische Sicherheitsstrategie einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen, eine Neufassung zu erstellen und sich dabei auch mit der Frage zu befassen: Was genau ist schief gelaufen und warum?

Wie kann die EU für mehr Sicherheit in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft sorgen?

In der Spitzenzeit der Griechenland-Euro-Krise haben die europäischen Staats- und Regierungschefs die Zeit gefunden, sich quasi im Wochenrhythmus mit der Bewältigung dieser in der Tat wichtigen finanziellen Krise zu befassen. Ich warte darauf, dass die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union diese Großkrise, die sich in unserem Süden und Südosten ausgebreitet hat, endlich zur Chefsache machen. Schon jetzt sind eine Mil­lion Flüchtlinge bei uns angekommen, im nächsten Jahr könnten es zwei Millionen werden. Das führt hierzulande zu einer gewissen Instabilität – und diese Großkrise gefährdet die Stabilität ganzer, von der Flüchtlingskrise massiv betroffener Nachbarländer Europas wie dem Libanon, Jordanien und natürlich auch der Türkei. Wenn die EU den Anspruch erhebt, eine gemeinsame Außenpolitik zu haben, dann kann sich das nicht in einer punktuellen Antwort auf einen sicherlich grauenhaften Terroranschlag in Paris erschöpfen. Hier sehe ich die große historische Aufgabe der EU für die nächsten Jahre und hier bedarf es einer langfristigen Strategie, für die weit mehr Mittel und Engagement aufgewandt werden müssen – neben einem in der Tat durchaus auch notwendigen militärischen Engagement.

Durch den relativen Rückzug der USA ist in der Region ein Machtvakuum entstanden, das von Russland und dem sich wieder stärker in Position bringenden Iran ausgefüllt wird. Das führt nicht zur Beruhigung der Region, sondern zu neuen Rivalitäten. So weit andere Akteure nicht imstande sind, diese Rolle zu spielen – und ich sehe diese anderen Akteure nicht – kann und muss die EU versuchen, die Aufgabe des Stabilitätsankers zu übernehmen und eine Sicherheitsarchitektur für die nahöstliche Region zu schaffen. Wir haben es jetzt mit Problemen zu tun, die unsere ureigensten sicherheitspolitischen Interessen direkt berühren. Und deswegen sind eine umfassende europäische Strategie unter Einsatz aller finanziellen und entwicklungspolitischen Mittel und ein umfassendes Angebot an militärischer Zusammenarbeit notwendig. Das muss mit der Fähigkeit der Europäischen Union gekoppelt werden, in bestimmten Fragestellungen gemeinsam mit anderen abschreckend zu wirken und dadurch Stabilität zu fördern.

Wie kann die EU die finanziellen und politischen Mittel für eine Stabilisierung Syriens und der Region aufbringen?

Man kann vielleicht einige Elemente beschreiben. Ein Element, wenn auch nicht das einzige und vielleicht auch nicht das bestimmendste ist: Die Europäische Union hat sich im Dezember 2013 auf Chefebene zu einem Gipfel getroffen, in dessen Zentrum die Frage der sicherheits- und verteidigungspolitischen Identität der EU stehen sollte. Das Schlusspapier dieses Gipfels trug die Überschrift „Defense matters“. Den Rest des Papiers muss man aber gar nicht lesen, weil es keinerlei konkrete Festlegungen enthält, die diese Proklamation in irgendeiner sichtbaren Weise untermauern würden. Die Europäische Union hat es bis zum heutigen Tag nicht für existenziell notwendig gehalten, ihre eigenen Zielsetzungen zu verfolgen, als da sind: Ausbau einer gemeinsamen Handlungsfähigkeit, auch einer militärischen Handlungsfähigkeit. Und Ausbau und Vollendung einer gemeinsamen Außenpolitik, für den der Vertrag von Lissabon zumindest in der Theorie Organe geschaffen hat. Der Ratspräsident ist ja formal gesehen der oberste außenpolitische Repräsentant der Europäischen Union, daneben gibt es die Hohe Beauftragte Federica Mogherini, die gleichzeitig auch Vizepräsidentin der Kommission ist. Die vertraglichen Festlegungen geben durchaus die Voraussetzungen her, um die Organe der EU stärker in den Vordergrund treten zu lassen.

Was wir allerdings nicht nur in der Finanz- und Euro-Krise, sondern auch in der außenpolitischen Auseinandersetzung mit Russland und in den viel­fachen Krisen im Nahen und Mittleren Osten erleben, sind intergouvernementale Ansätze. Ich sehe nur sehr selten eine Neigung, diese Aufgabe den Organen zu übertragen.

Wenn nun sowohl in als auch außerhalb Deutschlands darüber nachgedacht wird, dass Berlin eine führende Rolle einnehmen solle, dann kann sie ja nicht darin bestehen, dass wir die Richtung vorgeben und die anderen uns folgen sollen. Es gäbe intelligentere Methoden, dieser Erwartung an deutsche Führung zu genügen: wenn die Bundesrepublik ihr ganzes außenpolitisches Gewicht investieren würde, um die Sichtbarkeit, die Glaubwürdigkeit, die Handlungsfähigkeit, das Fähigkeitsprofil der Europäischen Union insgesamt zu stärken. Wir können jetzt nicht mehr weitermachen wie bisher, wir brauchen die gemeinsame Handlungsfähigkeit. Es kann nicht sein, dass die Konferenz in Wien nach vierjährigem Versagen und mehreren Hunderttausend Toten nun von den USA und Russland einberufen wird. Wieso sind der EU-Ratspräsident und der Präsident der EU-Kommission nicht schon vor Monaten ermächtigt worden, im Namen von 500 Millionen Europäern alle Beteiligten zu einer solchen Konferenz einzuladen? Wieso muss das wieder durch die so genannten Großmächte geschehen? Wobei man ja nicht vergessen darf, dass die Bevölkerungszahl der Russischen Föderation nicht einmal einem Drittel der Bevölkerungszahl der Europäischen Union entspricht. Großmacht ist Russland eben nur auf einem, auf bestimmte militärische Fähigkeiten beschränkten Gebiet.

Es ist ein geradezu beschämendes Armutszeugnis, dass die Europäische Union ihrem selbst gesetzten Anspruch nicht gerecht geworden ist, weil es zu viele nationale Eitelkeiten gibt. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesrepublik Deutschland ihr ganzes Gewicht, ihre Glaubwürdigkeit als Nicht-Ex-Kolonialmacht, ihre Glaubwürdigkeit als Nicht-Nuklearmacht, ihre Glaubwürdigkeit als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats in den Versuch investiert, außenpolitisch mehr Europa zu schaffen und nicht einen intergouvernementalen Kurs zu steuern. Jedenfalls dann nicht, wenn ein Gemeinschaftskurs möglich erscheint. Das halte ich für die große Zukunftschance und ich glaube auch, dass die Bürger bei einem solchen Kurs durchaus erkennen würden, dass dies ein Bereich ist, in dem die Europäische Union nicht einfach wieder mehr Geld kostet. Im Gegenteil, auf diese Weise könnte man in vernünftiger Weise effektiv handeln, verwalten und managen und sogar Geld sparen, weil man die vielen Duplizierungen und Triplizierungen im Bereich der Verteidigung, der Rüstungsbeschaffung und in vielen anderen Bereichen in viel dramatischerer Weise vermeiden würde. Das bedeutet noch nicht den ganz großen Schritt in Richtung einer europäischen Armee. Das ist eine durchaus interessante Langzeitvision, verstellt aber den Blick auf das heute Machbare, wie ein umfassendes Pooling and Sharing und ein Verzicht auf Doppelungen. Der Beitrag von 28 Mitgliedstaaten für militärische Zwecke umfasst beinahe die Hälfte dessen, was die USA ausgeben. Aber Europa bringt nur 10 Prozent der amerikanischen Kampfkraft auf. Diese Europäische Union muss sich doch fragen lassen, ob sie ernst genommen werden möchte, wenn sie jedes Jahr von Neuem ihre Ressourcen derartig vergeudet.

Schaffen andere Mächte mit ihren Bodentruppen nicht Tatsachen, die eine von der EU mitgetragene Lösung erschweren?

Der Grundgedanke der Wiener Konferenz geht in die richtige Richtung, weil man nicht nur einen Waffenstillstand anstrebt, sondern eine Übergangsregierung in Syrien schaffen möchte und darüber hinaus sämtliche regional direkt oder indirekt an diesem Konflikt beteiligten Mächte an einen Tisch geholt hat. Meine Kritik richtet sich auf ein bisheriges Versäumnis, auf die Tatsache, dass man in den vergangenen Jahren nicht ernsthaft versucht hat, eine solche Konferenz zustande zu bringen. Dabei möchte ich ausdrücklich die Reise­diplomatie würdigen, die der deutsche Außenminister entwickelt hat, um für solche Ideen zu werben. Jetzt wäre es angemessen, wenn sich die EU auf der Basis der Entscheidungen von Staats- und Regierungschefs bereit erklären würde, im Rahmen dieses Wiener Prozesses eine tragende und führende Rolle zu übernehmen.

Für einen so komplexen Prozess sind strategische Geduld und langer Atem gefordert und hier wird man sich auch nicht auf einen US-Präsidenten verlassen können, der gerade noch zwölf Monate im Amt ist. Vielmehr muss die EU deutlich machen, dass sie sich eine Stabilität in der Region zum Ziel setzt – zu der ein Ausgleich zwischen Saudi-Arabien und dem Iran und eine strategische Ordnung in der Region gehören – und dass sie dieses Ziel durchaus unter Einbeziehung Russlands anstrebt. Selbstverständlich hat Russland in seinem Engagement auch eigene Interessen. Wobei die Kritik nicht darauf abzielen sollte, dass Moskau Interessen hegt, sondern darauf, mit welchen Mitteln es sie durchsetzen will. Das russische Interesse, an einer Nachkriegsordnung in ­Syrien aktiv beteiligt zu sein, und nicht, wie im Fall des Irak oder Libyens, ausgeschlossen zu werden, ist jedenfalls nachvollziehbar. Meines Erachtens bietet dieser Wiener Prozess eine große Chance, den Boden nicht nur für einen konkreten Frieden in Syrien zu bereiten, sondern auf dieser Basis auch allmählich ein gemeinsames Verständnis über die Art und Weise zu entwickeln, wie die Akteure in der Region miteinander umgehen wollen.

Langfristig gedacht, braucht diese Region eine Art Helsinki-Prozess, der vielleicht nicht ganz so anspruchsvoll ist wie das Original mit seinen berühmten Körben I und II. Die Kernthemen sicherheitspolitischer, politischer und territorialer Interessen, die Frage von Einflusssphären, der Verzicht auf Intervention, die Wahrung territorialer Integrität aber müssen behandelt werden. Das alles sind Prinzipien, die in Europa auch nicht immer unumstritten waren, die wir aber immerhin seit 1975 kodifizieren konnten. Das ist natürlich noch keine Garantie, dass diese Kernprinzipien nicht eines Tages wieder verletzt werden. Auch das haben wir in Europa erlebt. Aber Verkehrsregeln werden auch nicht dadurch irrelevant, dass sie verletzt und übertreten werden.

Die Entwicklung eines Regelwerks in dieser Region scheint mir die große, langfristige Architekturaufgabe zu sein. Angesichts des andauernden Bombardements und des Mordens in Syrien, in Libyen, im Jemen und an anderen Orten klingt das natürlich nach Zukunftsmusik. Aber das sollte das Ziel eines Prozesses sein, der jetzt in Wien begonnen hat.

Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz.

Stabilität gibt es nur ohne Assad

Ist der Syrien-Einsatz die richtige Entscheidung Deutschlands?

Nein, es ist ein Fehler, sich zum jetzigen Zeitpunkt nur auf den Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat zu konzentrieren. Ich bin ausdrücklich für mehr Engagement in Syrien, aber in anderer Form. Wir müssen den Schutz von Zivilisten ins Zentrum unseres Engagements stellen, denn nur dann können wir politisch und auch militärisch gegen den IS erfolgreich sein.

Vor allem Deutschland hat ein großes Interesse daran, dass die Syrer in Syrien bleiben können und nicht als Flüchtlinge in die Nachbarländer gehen und dann irgendwann bei uns in Europa landen. Deshalb sollte sich gerade Deutschland dafür einsetzen, die Menschen in Syrien vor den Bombardements des Assad-Regimes zu schützen, das durch russische Kampfjets unterstützt wird. Diese Luftangriffe sind der Hauptgrund für die Menschen, das Land zu verlassen. Und erst, wenn die Menschen vor den Bomben sicher sind, können sie unsere Partner werden im Kampf gegen den IS. Daneben ist der Schutz von Zivilisten auch eine Voraussetzung, um politische Verhandlungen voranzubringen, denn solange Menschen durch Fassbomben sterben, interessiert es sie überhaupt nicht, was anderswo verhandelt wird. Baschar al-Assad hat keinerlei Motivation, am Verhandlungstisch ernsthaft über einen politischen Übergang zu diskutieren, solange er militärisch machen kann, was er will – und dabei noch von Russland und vom Iran unterstützt wird.

Was heißt das für den Westen konkret?

Die Forderung der syrischen Zivilgesellschaft ist ja seit Jahren die Einrichtung von Flugverbotszonen oder Schutzzonen. Das Problem ist, dass bei einer Schutzzone in der Regel Bodentruppen entsandt werden, die die Sicherheit der Menschen garantieren sollen. Das ist unrealistisch, weil kein westliches Land Bodentruppen schicken will. Und auch Flugverbotszonen sind schwierig geworden, seit Russland dort seine eigene Flugabwehr installiert hat. Denn bei einer Flugverbotszone müsste man zunächst die feindliche Flugabwehr ausschalten, was zu einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland führen würde.

Deshalb gibt es jetzt eine neue Forderung nach Bombenverbotszonen, die relativ einfach umgesetzt werden könnte. Dafür müssten sich alle ausländischen Akteure, deren Kampfjets über Syrien fliegen, darauf einigen, was und wo sie in Syrien gemeinsam bombardieren wollen: nämlich den IS. Wir sollten gemeinsame militärische Ziele definieren und im Rest des Landes das Bombardieren verbieten. Das heißt, jeder darf in Syrien fliegen, wo er will – auch Assads Armee und die Russen –, aber man darf keine Bomben mehr werfen auf Gebiete, die man zu einer solchen Bombenverbotszone erklärt hat. Noch immer schickt Assad jeden Tag Helikopter mit Fassbomben in die Provinzen Idlib, Aleppo, Hama, Homs, in die Vororte von Damaskus und nach Daraa im Süden des Landes. Würden diese Gebiete zu Bombenverbotszonen erklärt, müsste jeder bestraft werden, der sich nicht daran hält. Dann müssten diese Helikopter also abgeschossen oder die Militärflughäfen angegriffen werden, von denen aus diese Flugzeuge starten. Das wären einzelne, ganz gezielte Militäraktionen, die Assad davon abhalten würden, Zivilisten anzugreifen. Es geht dabei nur um den Schutz von Zivilisten, nicht um einen Regimewechsel von außen.

Russland muss natürlich an der Entscheidung beteiligt werden, wo bombardiert werden darf und wo nicht. Wenn wir uns auf die vom IS kontrollierten Gebiete einigen, dann müsste Putin aufhören, in anderen Regionen zu bombardieren. Sonst wäre er unglaubwürdig. Wir müssen Russland einbeziehen, auch um im Sicherheitsrat möglichst ein UN-Mandat für eine solche Bombenverbotszone zu bekommen. Dann wäre es nur noch das Assad-Regime, das Zivilisten angreift, und das könnte man gezielt abstrafen. Das Entscheidende bei dieser militärischen Sanktionierung wäre, dass sie nicht durch Kampfjets erfolgt, weil diese ja Gefahr laufen, durch die Flugabwehr abgeschossen zu werden, sondern von Schiffen im Mittelmeer aus.

Russland muss mit ins Boot geholt werden. Denn der Einfluss auf Assad erfolgt über Russland und den Iran. Ohne deren Unterstützung wäre Assad nicht mehr an der Macht, er ist komplett abhängig von Teheran und Moskau. Deshalb führt der Weg zu einer Verhandlungslösung über diese beiden Länder, die Assad dazu bringen müssen. Bislang tun sie das nicht, deshalb muss man sie überzeugen, dass Syrien als Staat nur ohne Assad erhalten werden kann, da dieser das Land weder stabilisieren noch befrieden kann. Wir brauchen eine andere Regierung, die die Syrer selbst bestimmen. Aber zunächst müsste man zu einem politischen Dialog kommen, an dem Assad aber bislang gar kein Interesse hat. Erst wenn er militärisch spürbar unter Druck gerät, ist Assad bereit einzulenken – das war schon bei den Chemiewaffen so.

Führt der deutsche Einsatz zum Schutz von Zivilisten?

Überhaupt nicht, deshalb ist er ja auch nicht mehr als eine Solidaritätsgeste in Richtung Frankreich. Erstens stärkt der deutsche Einsatz indirekt den IS, weil dieser sich über jede westliche Macht freut, die beim Kampf gegen ihn mitmacht; dann fühlt er sich nämlich noch mächtiger und wird noch attraktiver für seine Anhänger. Und zweitens sind unsere veralteten Tornados ungeeignet für einen asymmetrischen Krieg gegen eine nichtstaatliche Terrorgruppe, die sich in Städten verschanzt. Sie können höchstens Bilder der Gesamtlage liefern, die Detailaufnahmen kommen schon jetzt von Drohnen. Also ob die Deutschen dort nun mitfliegen oder nicht, ändert, glaube ich, nicht viel. Wir geben 134 Millionen Euro für einen Einsatz aus, der nichts bewirkt, womöglich sogar kontraproduktiv ist, weil er den IS stärkt, während er die Syrer weiter verprellt. Denn diese fordern seit drei Jahren etwas anderes: einen Einsatz, der sie schützt. Bundestagsabgeordnete und Vertreter des Auswärtigen Amtes haben mir immer wieder gesagt: Einen Militäreinsatz in Syrien wird es nicht geben, das kriegen wir nie durch den Bundestag. Aber was zum Schutz von Zivilisten jahrelang undenkbar war, geht dann auf einmal doch innerhalb von nur drei Wochen: 130 Tote in Paris, und zack, wir sind mit unseren Tornados über Syrien. Das ist aus syrischer Sicht zynisch, und wir tun uns keinen Gefallen damit, weil wir so die Syrer verlieren, die vor allem unter Assads Bomben leiden, obwohl wir sie ja dringend als Verbündete brauchen.

Syrien ist in vier Einflusssphären geteilt – wie sieht es dort aus?

In den Gebieten, die vom Assad-Regime kontrolliert werden (an der Küste, in den westlichen Teilen der Provinzen Homs und Hama sowie im Zentrum von Damaskus) gibt es viele junge Männer, die nicht mehr für Assads Armee kämpfen wollen. Sie verlassen das Land in Richtung Europa, und dort wundert man sich, weil man denkt, dass sie aus relativ sicherem Assad-Gebiet kommen, das nicht bombardiert wird. Aber sie wollen nicht als Kanonenfutter für Assads Machterhalt zwangsrekrutiert werden, deshalb flüchten sie.

Die Unterstützung durch den Iran und jetzt vor allem durch Russland mag auf die Menschen in den Assad-Gebieten auf den ersten Blick positiv wirken, nach dem Motto: Wir haben starke Partner. Aber in Wirklichkeit lässt sie Assad als Marionette in den Händen ausländischer Unterstützer erscheinen. Das gilt besonders für die Alawiten, denn alawitische Familien haben viele Söhne im Kampf verloren. Im Grunde muss man diese Menschen so schnell wie möglich vor dem Assad-Regime retten, weil er sie durch diese Geiselhaft in eine gefährliche Situation gebracht hat und weil er sie für seinen Überlebenskampf benutzt.

In den Gebieten, die vom IS kontrolliert werden – das ist vor allem der Osten des Landes – haben die Menschen natürlich Angst vor den Bombenangriffen der Anti-IS-Koalition, weil sie genau wissen, dass der IS seine Waffenschmieden auch in Wohngebieten betreibt und deshalb kaum militärische Ziele bietet. Egal wie präzise die Raketen sind, sie treffen immer auch Zivilisten. Die Menschen fühlen sich in Geiselhaft genommen durch den IS. Raqqa ist keine „Hochburg“ des IS, wie es immer heißt, es ist seine inoffizielle Hauptstadt. Nicht alle Menschen dort sind Anhänger des IS, die Syrer empfinden den IS überwiegend als ausländische Terrormacht, die sie wieder loswerden wollen. Aber als Sunnit kann man sich mit dem IS arrangieren und überleben, indem man sich an dessen furchtbare Regeln hält. Dann hat man einen stabilen Brotpreis und eine gewisse staatliche Ordnung inmitten des syrischen Kriegschaos.

Aber womit man sich nicht arrangieren kann, sind die täglichen Bombardierungen in den Gebieten, die von der Opposition gehalten werden, also Teile der Provinzen Idlib, Latakia, Aleppo, Hama, Homs, Daraa und in den Vor­orten von Damaskus. Hier fallen täglich Fassbomben, gezielt werden Raketen auf Krankenhäuser, Marktplätze und Schulen abgeschossen; die Zivilisten können nur hoffen, dass es sie nicht trifft – oder eben flüchten.

Das Eingreifen Russlands hat dort viel verändert: Die Menschen haben jede Hoffnung verloren, weil sie nicht mehr nur durch die mäßig ausgestattete syrische Luftwaffe bedroht werden, bei der man immerhin hörte, wenn ein Kampfjet kam und an deren Angriffe sie sich bis zu einem gewissen Grad gewöhnt hatten. Jetzt erzählen Aktivisten, dass sie die modernen russischen Kampfjets vorher gar nicht hören, sodass sie von den wahnsinnig heftigen Einschlägen komplett überrascht werden. Das russische Eingreifen zugunsten Assads treibt die Menschen deshalb in die Flucht, mehr als 100 000 haben sich laut UN-­Angaben in den vergangenen zwei Monaten auf den Weg zur türkischen Grenze gemacht. Russland hat allein im Oktober und November 522 Zivilisten getötet, die Anti-IS-Koalition in diesem Zeitraum 14 Menschen.

In der kurdisch kontrollierten Region im Nordosten des Landes regiert die Schwesterpartei der PKK, die PYD, die in der Kritik steht, weil sie dort ein Ein-Parteien-System installiert, in dem Öcalan als Übervater gilt. Die kurdischen Kämpfer bekriegen den IS durchaus effektiv und werden dabei auch von den USA unterstützt. In dieser Region gibt es eine neue militärische Allianz, die sich die „Demokratischen Kräfte Syriens“ nennt. Das sind vorwiegend kurdische Kämpfer, ein paar arabische Rebellengruppen und assyrische Milizen. Mit diesen Kräften plant Washington einen Vormarsch auf Raqqa. Sie sind derzeit die Hoffnungsträger am Boden im Kampf gegen den IS.

Es sollen Gespräche zwischen Regime und Opposition stattfinden, die aber als zerstritten gilt. Was müsste bis dahin passieren?

Es ist richtig, dass die politische Opposition – sowohl die im Ausland ansässige Nationale Koalition als auch das Komitee für einen Demokratischen Wandel und die Bewegung Building the Syrian State – überwiegend aus alten Männern besteht, die von der jahrzehntelangen Assad-Diktatur geprägt wurden. Diesen Leuten fällt es schwer, auf demokratischem Wege Kompromisse auszuhandeln, effektiv zusammenzuarbeiten oder Aufgaben zu delegieren. Trotzdem sind sich die verschiedenen Oppositionsgruppen darin einig, dass man mit dem ­Assad-Regime verhandeln muss, aber nur über eine geregelte Macht­übergabe und eine Zukunft ohne Assad. Es gibt durchaus Kandidaten oder Integrationsfiguren für einen Neuanfang, aber über sie sollte lieber hinter verschlossenen Türen gesprochen werden. Viel schwieriger ist die Einbeziehung der bewaffneten Gruppen – welche Rebellen sind gemäßigt, welche islamistisch, wer will lediglich das Assad-Regime stürzen und wer führt einen internationalen Dschihad? Darüber müssen sich alle ausländischen Akteure verständigen, denn ohne die Beteiligung großer und mächtiger Rebellenverbände sind Einigungen am Verhandlungstisch wertlos, weil sie vor Ort nicht umgesetzt werden.

Was ist das Wichtigste für die kommende Zeit?

In Syrien muss vieles gleichzeitig passieren. Wir dürfen nicht denken, jetzt bombardieren wir erst einmal den IS und alles Weitere kommt später. So treiben wir die Syrer scharenweise in die Arme des IS. Denn der hätte Recht mit seiner Behauptung, dem Westen seien Assads Bombenopfer egal – und das sind mehr als sieben Mal mehr getötete Zivilisten als beim IS –, weil er in Wahrheit einen Krieg gegen den Islam führe. Wir müssen den Konflikt in Syrien als Ganzes betrachten und auf verschiedenen Ebenen parallel angehen, also auf diplomatischer Ebene politische Verhandlungen voranbringen, Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergreifen und den IS bekämpfen, auch indem man ihn militärisch eindämmt. Das Wichtigste ist, dass wir uns nicht auf einzelne Maßnahmen beschränken und den Rest bleiben lassen. Wer meint, man könne den IS bekämpfen, ohne den Syrien-Konflikt zu lösen, hat diesen Krieg schon verloren.

Deshalb müssen wir immer das Gesamtbild im Auge behalten und berücksichtigen, wie es den Menschen vor Ort geht und wie sich das, was wir tun, auf die Syrer auswirkt. Das haben wir bislang viel zu wenig beachtet. Nur ein Beispiel: Die Amerikaner haben in den vergangenen Jahren Millionen Dollar ausgegeben, um gemäßigte Rebellen für den Kampf gegen den IS auszubilden. Sie sind damit grandios gescheitert, weil sie nicht bedacht haben, wie das im Land ankommt: Rebellen, die zu einer US-Eliteeinheit gegen den IS ausgebildet werden und dafür den Massenmord des Regimes an ihren Landsleuten ignorieren sollen, sind in den Augen der Bevölkerung Vasallen des Westens und Verräter. Sie hatten deshalb weder die Unterstützung der Bevölkerung noch die Rückendeckung anderer Rebellen. Damit war ihr Scheitern vorprogrammiert.

Der Übergang in Syrien wird schwer sein. Es wird Jahre dauern, es wird Racheaktionen geben. Wir können aber nicht aus Angst vor dem, was kommt, den Status quo erhalten, schließlich machen das derzeitige Massensterben und das Leid eine zukünftige Befriedung und Aussöhnung nur noch schwieriger. Das Ende des Assad-Regimes ist der Beginn für etwas Neues, das notwendig ist, auch wenn es nicht von heute auf morgen Demokratie und Freiheit bringt. Staatliche Strukturen müssen erhalten werden, die Verantwortlichen für systematische Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen oder mindestens davongejagt werden. Eine Lösung kann erst beginnen, wenn Assad und seine Mafia weg sind.

Kristin Helberg arbeitet als freie Journalistin und Nahost-Expertin in Berlin.

Der IS ist eine Sekte

Man hat das Gefühl, Berlin handle vor allem aus Solidarität gegenüber Paris gegen den IS. Hat der Westen überhaupt strategische Ziele?

Das Problem des Islamischen Staates hat ja zwei Dimensionen. In Deutschland ist man sehr auf den Terrorismusaspekt fokussiert, aber der IS ist ja nicht nur eine Terrororganisation, und man darf nicht den Fehler begehen, an Al-­Kaida oder die Baader-Meinhof-Gruppe und die RAF zu denken. Der Islamische Staat hat acht Millionen Menschen unter seiner Kontrolle und verfügt über 40 000 Kämpfer. Die Antwort braucht eine europäische, aber auch eine regionale Dimension – um die geht es beispielsweise in der Diskussion um die Effektivität von Luftangriffen. Es ist völlig richtig, dass Deutschland sich an Frankreichs Seite gestellt hat, denn wer glaubt, es handle sich allein um ein französisches Problem, kennt schlicht die Fakten nicht: Von den 5000 westlichen IS-Kämpfern kommen 500 oder 600 aus Deutschland und vielleicht 700 oder 800 aus Frankreich. Die terroristische Bedrohung durch den IS ist für Deutschland im Grunde ebenso groß wie für Frankreich, sie ist ein europäisches Problem.

Zur regionalen Dimension: Auf rein militärischer Ebene sind Luftangriffe nicht das schnellste Mittel, um taktische Fortschritte zu erzielen. Aber die europäischen Bevölkerungen möchten ja auch nicht, dass Bodentruppen ins Land geschickt oder mehr Soldaten eingesetzt werden.

In Deutschland folgt dann der Verweis auf die Kurden …

… und natürlich gibt es noch weitere fremde Kräfte am Boden: die iranischen Al-Quds-Brigaden, die Hisbollah, Russland, die alle versuchen werden, die Nachkriegsordnung mitzubestimmen. Aber man muss auch sagen: Nicht nur der Westen hat keine Post-Konflikt-Strategie, keiner hat sie, vielleicht in Ansätzen am ehesten noch die Vereinten Nationen. Wie schon im Fall Libyen wurde und wird zu wenig an die Post-Konflikt-Zeit gedacht. Andererseits kann man auch nicht abwarten, bis man eine Strategie ausgearbeitet hat – wobei ich denke, dass genau das gerade passiert. Und wenn der IS vernichtet ist, gibt es ein Sicherheitsvakuum in Syrien und im Irak, und das wird sich von selbst füllen, wenn wir es nicht tun – durch Milizen, durch russische Truppen, aber vielleicht auch durch Ahrar Al-Scham, der ja kein terroristischer, aber doch ein stark islamistischer Verband ist, immerhin der zweistärkste nach der Freien Syrischen Armee. Deshalb gilt: Wenn man keine Truppen in den Kampf schicken will, sollte man aber doch schon jetzt darüber nachdenken, ob man sich das für die Post-Konflikt-Zeit vorstellen kann.

Sind die unter dem Dach der UN in Wien stattfindenden Verhandlungen der richtige Weg, um Strategien für die Post-Konflikt-Zeit zu entwickeln?

Die Wiener Verhandlungen gehen in die richtige Richtung. Es geht ja vor allem darum, dass die Syrer sich selbst einig werden, dass der Krieg zu Ende geht und wie es danach weitergehen soll. Aber bedenklich ist, dass sehr bald – schon nach 18 Monaten, wie zuletzt zu hören war – nach einem Waffenstillstand Wahlen abgehalten werden sollen. Das ist zu früh für eine so stark polarisierte Gesellschaft. Dazu braucht man nicht groß die Geschichtsbücher zu wälzen; es ist hinlänglich belegt, dass schnelle Wahlen in einer polarisierten Gesellschaft nur zu weiterer Polarisierung und zu neuen Konflikten führen. Schon wieder wird dieser Fehler gemacht. Schon wieder wird Dingen zu wenig Zeit eingeräumt, die sehr lange brauchen.

Zumal der IS ja auch den Charakter eines Kults oder einer Sekte hat.

Dieses Sektenartige am IS bedeutet für die Rückkehrer und die Staaten vor Ort, dass die Kämpfer, die aus dem IS kommen, wesentlich schwerer zu re­integrieren sein werden – in Gesellschaften oder in staatliche Strukturen in der Region. Sie sind einer Gehirnwäsche unterzogen worden und ideologisch so eingenordet, dass man mit ihnen über politische Fragen, die es zu lösen gälte, überhaupt nicht reden kann. Das ist also ganz anders als beispielsweise bei der IRA in Nordirland: Dort wollten die Terroristen, dass der britische Norden zur Republik Irland gehören solle, und man hat am Ende Lösungen gefunden wie eine offene Grenze, Autonomie und so weiter. Der IS dagegen spielt ein politisches Nullsummenspiel, es gibt keine politische Lösung für die Frage: Wie kann man mit diesen Männern verfahren – 80 Prozent der IS-Anhänger sind männlich –, wenn der Konflikt vorbei ist? Wir werden es mit einem riesigen Inte­grationsproblem und einem riesigen Gewaltpotenzial zu tun haben, wenn der IS zerschlagen ist.

Was macht den IS, in Deutschland ja oft „Terrormiliz“ genannt, denn aus – und wie packt man das Problem auf europäischer Ebene an?

Der IS ist eine Sekte oder ein Kult – eine Organisation, die sich religiöser Rhetorik bedient, um sich Anhänger zu verschaffen, die aber nach innen völlig autoritär und totalitär gegenüber ihren Mitgliedern auftritt. Dazu bedient sich die Sekte verschiedener Mechanismen wie psychologischer Abtrennung, Isolation der Mitglieder von ihren Familien und Freunden, aber auch, indem ihnen ein Gefühl der Auserwähltheit vermittelt wird, ein gewisser Elitismus gepflegt wird. Hinzu kommt die Gehirnwäsche. Und der Zugang zu allem, was dem Menschen zum Leben wichtig ist, das wird alles über die Organisation geliefert – Essen, Trinken, Sex, Schlaf. Die alte Identität wird zerbrochen und eine neue aufgebaut. Und Menschen, die aus Sekten ausscheiden, sei es Scientology, der Bhagwan-Kult oder eben der IS, schaffen es ganz selten, sich vollständig davon zu lösen.

Hinzu kommt im Fall des IS die geradezu sozio-pathologische Gewalt­erfahrung.

Die Gewalt hat vor allem die Funktion, noch mehr Distanz zu schaffen zu der Herkunftsgesellschaft. Wer gerade jemanden geköpft hat, kann nicht einfach zurück nach Düsseldorf gehen, denn er weiß, wenn seine Familie und Freunde das erfahren, wird er sozial nicht mehr akzeptiert werden. Das heißt: IS-­Anhänger können praktisch nirgendwo mehr hin. Hinzu kommen diese apokalyptischen Vorstellungen, dass das Ende der Welt bevorstehe, dass man sich hier und jetzt entscheiden müsse, denn sonst stünde man womöglich auf der falschen Seite, wenn das Jüngste Gericht kommt. Das nutzt der IS, das nutzen aber viele andere Sekten auch. Es geht also nicht nur darum, ein Territorium zu erobern, in dem alle Muslime leben, sondern auch um ein Endzeitdenken, bei dem es darauf ankommt, auf der richtigen Seite zu stehen und alle Mittel der Sache zur Verfügung zu stellen. Selbst wenn der IS aus einem politischen Kontext erwachsen ist, so hat er sich weiterentwickelt und ist heute so totalitär und endzeitlich, dass es für das Kernproblem IS keine politische Lösung gibt.

Stimmt es, dass damit der ideologische Frontverlauf auch durch viele muslimische Wohnzimmer in Europa führt?

Ja. Man muss sich davor hüten, den IS mit Al-Kaida zu verwechseln: Langfristig hatte Al-Kaida das gleiche Ziel, aber kurz- und mittelfristig ging es darum, westliche Truppen aus dem Mittleren Osten zu vertreiben. Deshalb gab es die Terrorangriffe auf New York und anderswo. Aber der IS hat viel größere Ambitionen als Al-Kaida und eine ganz andere Form angenommen. Und die ­Terrorattacke auf Paris hat eine andere Qualität: Die meisten der 5000 westlichen Kämpfer stammen aus Europa, und 20 bis 30 Prozent sind ja auch schon ­wieder zurück – ob gezielt entsandt oder nicht, mit Auftrag oder ohne, das ist die Frage: Auf Desertion steht beim IS die Todesstrafe, aber Männer werden zum Beispiel auf Fronturlaub geschickt, und manche nutzen den, um sich abzusetzen. In anderer Richtung aber geht der Strom ja zugleich weiter in einem ewigen Rundumlauf. Das Gefühl, das Ganze sei abgeschlossen, ist völlig trügerisch. Auf strategischer Ebene will der IS eine Polarisierung der europäischen Gesellschaften gegen Muslime und Flüchtlinge erreichen. Er will, dass sie sich hier so unwohl fühlen, dass sie sich dem IS anschließen, vor allem in der Region. Das erreicht man mit solchen Tricks wie den Pässen am Tatort von Attentätern, die über Griechenland eingereist sein sollen. Das macht Stimmung und erhöht die Gefahr, dass es immer mehr rechte Parteien gibt, die Muslime und Flüchtlinge zu Feindbildern erklären. Ob dies umgekehrt IS-Anhänger motiviert, sei dahingestellt: Deren Frustration wird wohl von einem Gefühl des politischen Ausschlusses gespeist, von einer islamophoben Tendenz in Europa. Darüber hinaus gibt es eine große Vielfalt: Ein Viertel sind Konvertiten, die also keine muslimischen Eltern haben, das Durchschnittsalter liegt zwischen 24 und 27 Jahren. Aber wenn sie sich dem IS anschließen, ist der Zug schon abgefahren. Das Schlagwort muss also künftig nicht so sehr De-Radikalisierung, sondern Prä-Radikalisierung sein, d.h. es geht um Prävention. Das hat letztlich nichts mit Syrien und dem Irak zu tun, das ist ein rein europäisches Problem.

Wie lange werden wir den IS bekämpfen müssen?

Das hängt davon ab, welche Mittel für den Kampf zur Verfügung gestellt werden. Wenn es bei Luftangriffen bleibt, wird es fünf bis zehn Jahre dauern, beim Einsatz anderer Mittel geht es womöglich etwas schneller. Und dann haben wir noch das Post-Konflikt-Problem, das nochmals fünf bis zehn Jahre braucht. Wir sollten uns darauf einstellen, dass der Kampf gegen den IS Teil der politischen Landschaft bleibt. Tatsache ist, dass große politische Erfolge meist 20 Jahre dauern, sie werden nur mit viel Geduld und Spucke erzielt, ob es darum geht, Arbeitslosigkeit zu reduzieren oder eine Terrororganisation auszulöschen. In unserer kurzlebigen Zeit mit Twitter & Co. wird das nicht gern gehört.

Werden die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens in ihrer bisherigen Form erhalten bleiben?

Insgesamt ja. Kurdistan im Nordirak verfolgt weiterhin sein Interesse an einem unabhängigen Staat, viele kurdische Politiker machen daraus auch kein Geheimnis und sagen, es sei nur noch eine Frage der Zeit. Syrien wird aber bestehen bleiben, denke ich, schon deshalb, weil alle syrischen Rebellengruppen – mit Ausnahme des IS – den syrischen Staat erhalten wollen. Die Frage, ob die Sykes-Picot-Ordnung Bestand haben wird, wird eher von westlichen Beobachtern gestellt, nicht so sehr in der Region. Jordanien und Israel sind ja auch gewissermaßen Ergebnis des Sykes-Picot-Abkommens von 1916, und niemand erwartet deren Auflösung. Kurz: Die Instabilität in Syrien wird weitergehen, aber ich erwarte derzeit nicht, dass Syrien als Einheit komplett auseinanderfällt.

Dr. Florence Gaub ist Senior Analyst am EU Institute for Security Studies, Paris.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 28-41

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