Ein kompromissloses Land
Zum reformpolitischen Stillstand in Frankreich
Drei Faktoren tragen dazu bei, dass Frankreich derzeit von einer Krise in die nächste taumelt: zum einen die Schwierigkeit, das französische Gesellschaftsmodell an die Herausforderungen der Globalisierung anzupassen, zum zweiten die erheblichen Mängel des politischen Systems. Und drittens wird jetzt ein Jahr lang Wahlkampf in der Republik herrschen. Kein Wunder, dass die Fronten sich immer mehr verhärten.
Seit wann befindet sich Frankreich in der Krise? Seit den Massendemonstrationen vom März und April, die Hunderttausende Bürger gegen ein Gesetz zur Liberalisierung des Kündigungsschutzes auf die Straßen brachten? Seit den Unruhen im Herbst letzten Jahres, als junge Bewohner in den Vorstädten des ganzen Landes teilweise gewalttätig gegen soziale Ausgrenzung protestierten und auf ihre schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt aufmerksam machten? Oder seit der Niederlage von Staatspräsident und Regierung beim Referendum im Mai 2005 über den Europäischen Verfassungsvertrag? Seit den von der Regierungspartei UMP verlorenen Regional- und Europawahlen in den Jahren 2003 und 2004? Oder vielleicht doch schon seit den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2002, als der sozialistische Kandidat Lionel Jospin im ersten Wahlgang am rechtsextremen Demagogen Jean-Marie Le Pen scheiterte und sich mit Jacques Chirac der zweite Verlierer der ersten Runde zum Retter der französischen Demokratie aufschwingen konnte?
In der Tat liest sich die Bilanz von Chiracs zweiter Amtszeit wie eine Aneinanderreihung politischer Fehleinschätzungen und Niederlagen von Staatspräsident und Regierung. Während das Scheitern der Regierung beim Referendum über den EU-Verfassungsvertrag noch unterschiedlich interpretiert werden konnte, war die Botschaft bei den Unruhen in den Banlieues schon sehr viel deutlicher. Nach dem selbstverschuldeten Unfalltod zweier Jugendlicher aus Einwandererfamilien, die sich irrtümlicherweise von der Polizei verfolgt gefühlt, in eine Trafostation geflüchtet und dort umgekommen waren, lieferten sich randalierende Jugendliche wochenlang Straßenschlachten mit der Polizei. Die Proteste in Vierteln, in denen die Jugendarbeitslosenquote teilweise über 40 Prozent liegt, richteten sich gegen die soziale Diskriminierung der betroffenen Jugendlichen vor allem im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt sowie ihre Ghettoisierung in Vorstädten, die auf städteplanerische Verfehlungen der sechziger und siebziger Jahre zurückgehen und die über eine völlig unzureichende Infrastruktur verfügen. Während die Ordnungskräfte zurückhaltend reagierten und eine weitere Eskalation der Gewalt vermeiden konnten, ließ es sich Innenminister Nicolas Sarkozy selbst nicht nehmen, die Jugendlichen als „Gesindel“ zu diffamieren, das man mit dem „Hochdruckreiniger“ aus den betroffenen Vierteln vertreiben müsse.
Zugleich versuchte die Regierung, mit einem neuen Gesetz zur Chancengleichheit ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Im Januar 2006 legte sie ein Paket vor, das so unterschiedliche Maßnahmen wie die Schaffung eines freiwilligen Zivildiensts, die Errichtung einer Natio-nalen Agentur für sozialen Zusammenhalt oder die Möglichkeit eines „Vertrags der elterlichen Verantwortung“ enthielt, der finanzielle Sanktionen für den Fall vorsieht, dass die Eltern ihrer Aufsichtspflicht nicht in ausreichendem Maße nachkommen. Kern des Pakets war jedoch der so genannte „Ersteinstellungsvertrag“ (Contrat première embauche – CPE). Von dieser Maßnahme versprach sich die Regierung Erfolge bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, die in Frankreich im Schnitt bei 23 Prozent und damit deutlich über dem deutschen Wert (15 Prozent) liegt.
Durch den CPE sollte es Arbeitgebern in Betrieben mit mehr als 20 Angestellten ermöglicht werden, Arbeitnehmern unter 26 Jahren während der ersten zwei Jahre eines auf unbefristete Dauer abgeschlossenen Arbeitsvertrages ohne Angabe von Gründen zu kündigen. Bereits im Sommer 2005 war ein ähnliches Gesetz (Contrat nouvelle embauche – CNE) für kleine und mittlere Unternehmen mit bis zu 20 Angestellten in Kraft getreten, das dieselben Kündigungsbedingungen für alle Arbeitnehmer vorsieht. Nach ersten vorsichtigen Schätzungen des nationalen Statistikinstituts INSEE werden etwa zehn Prozent der Neueinstellungen seit Inkrafttreten dieses neuen Gesetzes auf den CNE zurückgeführt.
Handlungsfähigkeit – teuer erkauft
Die demonstrative Handlungsfähigkeit musste sich die Regierung im Fall des CPE allerdings teuer erkaufen. Um die Blockade der oppositionellen Sozialisten in der Nationalversammlung zu durchbrechen, griff sie auf den Artikel 49(3) der französischen Verfassung zurück, der es ihr erlaubt, ein Gesetz auch ohne Abstimmung im Parlament durchzusetzen. Der folgende Misstrauensantrag der Sozialisten blieb wie erwartet ohne Erfolg. Der Verfassungsrat bestätigte die Verfassungskonformität des Gesetzes, das daraufhin von Chirac Anfang April in Kraft gesetzt wurde.
Die Anwendung dieses Artikels brachte das Fass zum Überlaufen. Die Demonstrationen gegen das Gesetz nahmen Ausmaße an, die selbst für französische Verhältnisse außergewöhnlich waren. Ende März gingen erstmals landesweit mehr als eine Million Menschen auf die Straßen. Getragen wurden die Proteste allerdings nicht von der eigentlichen Zielgruppe des CPE, den Jugendlichen der unteren Bildungsschichten aus den Banlieues, sondern von den Universitätsstudenten. Mehr als die Hälfte der Universitäten wurde über Wochen hinweg bestreikt und musste geschlossen bleiben, wodurch zahlreiche Studenten ihre Examen aufs Spiel setzten. Autobahnen und Bahnhöfe wurden blockiert, Randalierer lieferten sich heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei und verwüsteten Universitätsgebäude. In derselben Rede, in der Chirac die Inkraftsetzung des Gesetzes verkündete, forderte er die Arbeitgeber auf, es nicht anzuwenden. Aus dem Streben nach demonstrativer Handlungsfähigkeit wurde ein Rückzugsgefecht, das nach langer Unnachgiebigkeit des Premierministers Dominique de Villepin und zunehmenden Auseinandersetzungen innerhalb des Regierungslagers in die vollständige Niederlage de Villepins mündete. Zwei Monate, nachdem er den CPE lanciert hatte, wurde die Reform wieder zurückgezogen.
Die gegenwärtige Krise des Landes, deren vorläufiger Höhepunkt die gescheiterte CPE-Initiative war, hat vielfältige Ursachen, die sich auf drei wesentliche Faktoren zurückführen lassen. Zum einen erweist sich das französische Gesellschaftsmodell als den Herausforderungen kaum gewachsen, die aus der fortschreitenden wirtschaftlichen Globalisierung und der demographischen Entwicklung in den europäischen Staaten resultieren. Zum zweiten offenbart das politische System Frankreichs erhebliche Mängel bei der rechtzeitigen Wahrnehmung, der gründlichen Analyse und dem effektiven Management der sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Konfliktpotenziale. Und schließlich erlebt Frankreich seit dem Wahljahr 2002 einen heftigen Machtkampf innerhalb des Regierungslagers mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2007, der über eine gesamte Legislaturperiode aus ernsthaften Problemen Wahlkampf-themen und aus Mandatsträgern Dauerwahlkämpfer werden ließ.
Protest für republikanische Ideale?
In der Folge der Vorstadtunruhen im Herbst 2005 wurde gelegentlich die These vertreten, die von den Jugendlichen ausgelösten Krawalle seien ein Protest, durch den die Jugendlichen elementare Werte wie Freiheit und vor allem Gleichheit einklagten, also die Grundwerte der französischen Republik. Sie hätten die republikanischen Ideale verinnerlicht und stellten keineswegs die Basis der französischen Gesellschaft in Frage.1 Den Demonstranten wurden damit konservative Beweggründe unterstellt. Und tatsächlich ging es den Jugendlichen der Banlieues letztlich genauso um die Bewahrung und Einlösung traditioneller Werte der französischen Revolution, wie es den Demonstranten, die gegen den CPE auf die Straße gingen, auf den Erhalt des französischen Sozialstaatsmodells ankam. In diesem Punkt unterscheiden sich die heutigen Proteste von den Zielen der 68er Generation, der es nicht um Systembewahrung, sondern um Systemveränderung ging.
Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Ist es überhaupt möglich, das „französische Modell“ ohne grundlegende Reformen zu erhalten? Im Rahmen dieses Modells verpflichtet sich der Staat ganz im Sinne des rousseauschen Gesellschaftsvertrags, für die Bereitstellung einer Reihe von Gütern unter der Voraussetzung zu sorgen, dass sich der Einzelne zu den Grundwerten der französischen Republik bekennt. Ohne Berücksichtigung der Religion des Einzelnen, seiner ethnischen Zugehörigkeit oder sozialen Herkunft sollen ihm die gleichen Bildungschancen, die gleichen Chancen am Arbeitsmarkt und die gleiche soziale Absicherung wie allen anderen Bürgern garantiert werden. In genau diesen zentralen gesellschaftspolitischen Bereichen hat der Staat jedoch größte Schwierigkeiten, seine Verpflichtungen aus dem Gesellschaftsvertrag einzulösen.
So gibt es aus Sicht von Politikern wie Chirac oder de Villepin in Frankreich auch kein Problem der gesellschaftlichen Integration von Familien mit Migrationshintergrund, sondern allenfalls ein allgemeines Problem der Chancengleichheit. Die im Gesetz zur Chancengleichheit beschlossenen Maßnahmen sprechen in diesem Zusammenhang eine deutliche Sprache: Der Staat setzt auf Wohnungsbauprogramme oder finanzielle Sanktionsmaßnahmen gegenüber Eltern, die ihre Sorgfaltspflicht verletzen. An der Frage, ob der schwierige Zugang algerischstämmiger französischer Jugendlicher zum Arbeitsmarkt auch etwas mit ihrer Abstammung zu tun haben könnte, wird kaum gerührt.
Eine öffentliche Debatte darüber, wie mit der offenkundigen Anziehungskraft religiöser und teilweise fundamentalistischer Strömungen auf Schüler oder arbeitslose Jugendliche in den problematischen Vorstadtvierteln umgegangen werden sollte, findet kaum statt. Allein der Innenminister und UMP-Vorsitzende Nicolas Sarkozy hat dieses Defizit der rechten wie linken bürgerlichen Parteien als Profilierungschance erkannt. Auf seine Initiative ging die Gründung des Muslimrats im Jahr 2003 zurück. Sarkozy war es auch, der die Unantastbarkeit des Laizitätsprinzips in Frage stellte. Zugleich begleitete er die von ihm durchgesetzte restriktive Reform des Einwanderungsgesetzes mit offensiv-aggressiver Rhetorik und versuchte – bislang allerdings erfolglos – ins Wählerreservoir der extremen Rechten vorzudringen. Indem die Regierung darauf verzichtet, durch eine umfassende und konstruktive Integrationspolitik jenseits republikanischer Dogmen und rechtsextremer Versuchungen eine langfristige Lösung des unübersehbaren Integrationsproblems in der französischen Gesellschaft zu suchen, lässt sie neue Lösungswege ungenutzt. Schlimmer noch: Durch politische Fehler wie das (inzwischen wieder abgeschaffte) Gesetz zur französischen Kolonialvergangenheit, durch das die „positive Rolle der französischen Überseepräsenz“ in den Schulbüchern festgeschrieben werden sollte, stellt sie den republikanischen Konsens auf eine harte Probe.
Auch das französische Sozialstaatsmodell befindet sich in einer existenziellen Krise. Wie in Deutschland und anderen europäischen Staaten auch sind die sozialen Sicherungssysteme in Frankreich durch steigenden Wettbewerbsdruck infolge der Globalisierung, konjunkturell bedingte Probleme und die demographische Entwicklung mit einer sich immer weiter öffnenden Schere zwischen steigenden Ausgaben und sinkenden Einnahmen konfrontiert. Doch anders als in vielen europäischen Nachbarstaaten versucht die französische Politik – statt mit verstärkter Liberalisierung und Privatisierung (zum Beispiel bei der Krankenversicherung) – die Finanzierungslücken mit zunehmender staatlicher Steuerung in den Griff zu bekommen. Das Defizit der staatlichen Sozialversicherungen stieg im Jahr 2004 sogar auf einen neuen Rekordwert von 11,9 Milliarden Euro, wovon allein 10,5 Milliarden Euro auf die Krankenversicherung entfielen.
Katastrophenmeldungen wie etwa die Veröffentlichung des Berichts der Pébereau-Kommission zur Lage der öffentlichen Finanzen im Dezember 2005 verstärken die Zukunftssorgen gerade der jungen Generation: Die von der Regierung eingesetzte Kommission kam zu dem Ergebnis, dass der Staat mit über 1,1 Billionen Euro (oder 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) verschuldet ist und der aufgeblähte Beamtenapparat zu langfristigen Verpflichtungen aus Pensionszahlungen im Umfang zwischen 450 und 900 Milliarden Euro führen wird. Seit Beginn der 80er Jahre sei es den französischen Regierungen zur Gewohnheit geworden, „die steigende Verschuldung als öffentliche Finanzressource anzusehen“.
Unabhängig davon, dass diese Feststellung auch auf andere europäische Länder zutreffen mag, trägt diese Situation – auch in Anbetracht der unverändert hohen Jugendarbeitslosigkeit – sicher nicht dazu bei, den Jugendlichen ihre Zukunftssorgen zu nehmen. 70 Prozent der Universitätsabsolventen finden erst drei Jahre nach ihrem Abschluss eine feste Stelle. Frankreich habe „eine Gesellschaft in Angst“, stellte der frühere Premierminister Michel Rocard fest. Doch weil die Regierung den Anschein erweckt, durch Justierungen innerhalb des bestehenden Systems dessen Gesundung herbeiführen zu können, fördert sie das Anspruchsdenken der betroffenen Jugendlichen auch noch. Getrieben wird sie dabei von den oppositionellen Sozialisten, die unter anderem für eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 1500 Euro eintreten. Und so ist es kaum verwunderlich, wenn die mit dem CPE anvisierte Liberalisierung des Kündigungsschutzes auf heftigsten Widerstand stieß. Der Vorsitzende der Studentengewerkschaft Unef, Bruno Julliard, zögerte nicht, zum Gegenangriff überzugehen und eine staatliche „Autonomiebeihilfe“ für alle Arbeitssuchenden zu fordern.
Wachsende Distanz zwischen Regierung und Bevölkerung
Tragfähige Kompromisse können vor diesem Hintergrund kaum gedeihen. Hierzu tragen allerdings auch Probleme bei, die in den handelnden Personen und dem politischen System des Landes selbst gründen. Besonders deutlich wurde am Beispiel des CPE, dass sich die ohnehin große Distanz zwischen der politischen Führung des Landes und der Bevölkerung im Verlauf der zweiten Amtszeit Chiracs noch vergrößert hat. Die Vorbereitung des Gesetzes, seine Verabschiedung in der Nationalversammlung und das anschließend völlig fehlgeschlagene Krisenmanagement des Premierministers zeigten, dass de Villepin das Protestpotenzial und das Beharrungsvermögen der Jugendlichen unterschätzt hatte. Allerdings hatte er aber bereits bei der Ausarbeitung des Gesetzes auch nichts unternommen, um sich die vorbehaltlose Unterstützung innerhalb der Regierung oder bei den Arbeitgebern zu sichern. Das Vorhaben wurde weder mit den Unternehmerverbänden, schon gar nicht mit den Gewerkschaften, aber auch nicht mit den zuständigen Ministern im Kabinett besprochen. Der CPE war von Beginn an Chefsache, was die Position des Premiers im Verlauf des Konflikts zusätzlich schwächte.
Die Politik de Villepins seit seiner Ernennung zum Premierminister nach dem gescheiterten EU-Referendum im Mai 2005 ist nur vor dem Hintergrund des kontinuierlichen Zweikampfs mit Nicolas Sarkozy um die Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2007 zu verstehen. Die Auseinandersetzung zwischen dem volksnahen Parteivorsitzenden und dem aristokratischen Karrierediplomaten ist der Konflikt zweier unterschiedlicher Politikentwürfe. Der nie in ein demokratisches Amt gewählte Premier vertritt die traditionellen Werte der französischen Republik und wehrt sich gegen jeden Versuch Sarkozys – sei es durch die Aufweichung des laizistischen Prinzips oder den Vorschlag positiver Diskriminierung zur verbesserten Integration von Minderheiten –, das französische Modell zu reformieren. Auf der anderen Seite haftet den zuweilen durchaus innovativen Vorschlägen des UMP-Vorsitzenden stets der Makel an, eines soliden und berechenbaren politischen Gesamtkonzepts zu entbehren und ausschließlich auf Punktgewinne auf dem Weg zur Präsidentschaftskandidatur zu zielen. Die oberste politische Maxime für beide Kontrahenten ist seit langem, schneller und besser zu sein als der innerparteiliche Konkurrent. Der politische Nutzen einzelner Maßnahmen bleibt dabei häufig auf der Strecke.
Gefördert wird diese Auseinandersetzung durch die Schwäche der im politischen System Frankreichs vorgesehenen Kontrollmechanismen gegenüber der Exekutive. Weder im parlamentarischen noch im außerparlamentarischen Bereich gibt es ausgeprägte „checks and balances“. In der im Vergleich etwa zum Bundestag ohnehin schwachen Nationalversammlung wird seit den Parlamentswahlen im Jahr 2002, die einen überwältigenden Sieg der Konservativen brachten, kaum noch nennenswerte Oppositionsarbeit geleistet. Der Ausgang des Europa-Referendums hat die Zusammenführung der zahlreichen Strömungen innerhalb des Parti socialiste und seines zerstrittenen Führungspersonals zusätzlich erschwert.
Auch außerhalb des Parlaments ist die Beteiligung der Parteien am politischen Willensbildungsprozess gering: Die häufig eher Wahlbündnissen gleichenden, kurzlebigen Zusammenschlüsse erlauben kaum die Identifikation der Bürger mit ihren Programmen. Ähnliches gilt für die völlig zersplitterten Gewerkschaften, die keineswegs in die Erarbeitung wichtiger politischer Reformvorhaben eingebunden werden und als Vermittler zwischen politischen Entscheidungsträgern und der Bevölkerung weitgehend ausfallen. Bietet sich ihnen nun, wie beim CPE geschehen, die Gelegenheit, sich bei ihrer Klientel zu profilieren, so nutzen sie diese ohne Zögern. Während der Demonstrationen gegen das Reformgesetz entstand ein regelrechter Wettlauf zwischen linken Parteien (und den zahlreichen potenziellen Präsidentschaftskandidaten der Sozialisten), Gewerkschaften und Studentenorganisationen darum, wer die Regierung am heftigsten attackiert.
Hinzu kommt schließlich das in der Bevölkerung und Teilen der politischen Klasse verbreitete Gefühl, in Europa zunehmend in die Isolation zu geraten. Allerdings ist dies eine überwiegend selbst gewählte Isolation. Als die Mitglieder des Europäischen Parlaments im Februar den überarbeiteten Kommissionsentwurf der Dienstleistungsrichtlinie verabschiedeten, waren es fast ausschließlich die französischen Abgeordneten, die gegen den zuvor zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten beziehungsweise Sozialisten ausgehandelten Kompromiss stimmten, obwohl das zuvor heftig umstrittene Herkunftslandprinzip entfernt worden war.
Frankreich, wo noch ein Jahr lang Wahlkampf herrschen wird, zieht sich in sich selbst zurück. Für Deutschland und die anderen Partner in der Europäischen Union bedeutet dies, dass zumindest in dieser Zeit auch die europäischen Kompromisse schwierig bleiben werden.
Dr. MARTIN KOOPMANN, geb. 1966, leitet das Programm Frankreich/ deutsch-französische Beziehungen in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.
- 1 Interview mit Emmanuel Todd: Rien ne sépare les enfants d’immigrés du reste de la société, Le Monde, 12.11.2005.
Internationale Politik 6, Juni 2006, S. 106‑111