Ehrliches Provinztheater
Jenseits der großen Bühne des Kremls ist selbst das "Einige Russland" uneinig
Junge Oppositionelle wollen die Demokratie abschaffen, obwohl die Wahlen beinahe fair verlaufen. Die Älteren stimmen für jeden, der an der Macht ist, solange kein Krieg ausbricht. Und der Bürgermeister gewinnt mit 70 Prozent, muss aber vielleicht wegen Korruption hinter Gitter. Eine politische Beschreibung der russischen Gebietshauptstadt Twer.
Mussorskij-Straße, Twer, 170 Kilometer nordwestlich von Moskau. Im Bierkiosk flackert ein TV-Bildschirm. Und Abend für Abend hängt ein unfreundliches Pappschild vor dem verriegelten Verkaufsfenster: „Nicht klopfen. Wegen Inventur geschlossen.“ Seit über einem Jahr macht die Verkäuferin jeden Abend Inventur, um fernzusehen, statt zu verkaufen. Obwohl in Twer gerade abends Bier, Erdnüsse oder Trockenfisch gefragt sind.
Nur zögerlich nutzt die Stadt mit knapp 450 000 Einwohnern ihre marktwirtschaftlichen Möglichkeiten. Auch die zwei Meter hohen Fenster am Platz des Friedens, 100 Meter weiter, sind mit Brettern vernagelt. Und seit den Olympischen Spielen 1980 thront am Ende der Sowjetstraße jenseits des Stadtzentrums der betongraue Rohbau eines nie vollendeten Hotelhochhauses. Die Hauptstadt der gleichnamigen Region mit gut 1 400 000 Einwohnern ist ein viel russischerer Ort als Moskau. Die Ära Putin hat hier eine andere Richtung genommen als jene, die der Kreml auf der großen politischen Bühne einschlägt. Dort herrschen Wirtschaftswunder und politisches Machtmonopol, in der Twerer Provinz aber streikt die Warmwasserversorgung, bekriegen sich Politiker und Zeitungsschreiber. Sogar Wahlsieger von der Staatspartei „Einiges Russland“ müssen um ihre Zukunft bangen.
Anfang Dezember fanden in Twer die landesweiten Wahlen zur Staatsduma und parallel Bürgermeisterwahlen statt. Aber im Treppenhaus unseres Vieretagenhauses an der Mussorskij-Straße reden die Menschen weder über diese Wahlen noch über die im März bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. In unserem Treppenhaus liegen morgens oft leere Plastikspritzen mit langen Metallstacheln. Nachts hat sich hier jemand Heroin gedrückt. Die Nachbarn fürchten sich und wollen Geld für ein neues Türschloss mit Gegensprechanlage sammeln. 1600 Rubel, umgerechnet keine 50 Euro, würde das für jede der zwölf Wohnparteien kosten. Aber bisher kriegen wir das Geld nicht zusammen, denn hier wohnen viele Pensionäre. Sie bekommen Renten von umgerechnet 120 Euro, ein neues Türschloss ist für sie zu teuer.
Sicher stimuliert das gesamtrussische Wirtschaftswachstum auch Twer. Der Stadthaushalt hat sich in den letzten drei Jahren verfünffacht, die Schlaglöcher auf den Straßen, in denen 2004 oft noch Infanteristen hätten Deckung finden können, sind zum größten Teil geebnet. Die Twerer Waggonfabrik, die zu Sowjetzeiten vor allem Panzerkarosserien hergestellt haben soll, liefert jetzt die Personenzüge für die Olympiade in Sotschi. Das Rolltreppenwerk profitiert von den in ganz Russland wuchernden Einkaufszentren. Und in der Brauereifabrik „Afanassij“ will demnächst Coca-Cola produzieren. 2007 betrug das Wirtschaftswachstum nach Angaben der Stadt zehn Prozent. Allerdings betrug die Inflation schon in den ersten neun Monaten des Jahres 8,1 Prozent, so das regionale Statistikamt. Stieg der Durchschnittsverdienst von Januar bis August um 15,7 Prozent, so wuchsen die Ausgaben für Verbrauchsgüter im gleichen Zeitraum um 17,4 Prozent.
Gegen Putin und gegen Demokratie
Ich sitze mit Michail und Dmitrij im Cafe „Town“. Michail trinkt Kaffee mit Schlagsahne, Dmitrij Espresso, ich Mate. Das „Town“ wirkt europäischer als Moskaus Coffee-Shops. Hier gibt sich Twer jung und optimistisch, Lächeln ist der übliche Gesichtsausdruck, auch die Opposition hat gute Laune. Michail und Dmitrij tragen Rollkragenpullover und kluge Kadettengesichter. Dmitrij ist Politologe der Twerer Staatsunversität, Michail Journalist. Beide wollen Russland verändern. „Unser Ziel ist die Entmachtung der Kremloligarchie.“ Bei den Dumawahlen hätte Dmitrij für das „Andere Russland“ kandidiert, die bunte Antiputinkoalition, die Exschachweltmeister Garri Kasparow und der nationalbolschewistische Literat Eduard Limonow auf die Beine gestellt haben. Die aber zu den Wahlen erst gar nicht zugelassen wurde.
Dmitrij sagt, er werde von der Miliz beschattet. Oft laden ihn Kriminalbeamte vom Antiterrordezernat oder Beamte des Inlandsgeheimdiensts FSB zu Spazierfahrten ein. „Sie sagen, wenn ich so weiter mache, könne ich meine wissenschaftliche Karriere vergessen.“ Seine Professoren zeigten dennoch Verständnis für seine Ansichten, an der Uni habe er noch keine Probleme. Die Opposition in Twer wird nicht nur verbal unter Druck gesetzt. Vor drei Jahren zündeten Unbekannte das Holzhaus von Roman Korschunow an, des lokalen Führers der Nationalbolschewisten. Seine Großmutter kam in den Flammen um, er stieg geschockt aus der Politik aus. Michail und Dmitrij aber machen weiter. Nächste Woche wollen sie gemeinsam mit den Kommunisten vor der Gebietsverwaltung eine Demo gegen Manipulationen bei den Dumawahlen organisieren. Und sie planen Filmvorführungen: „Wir möchten in der Stadt mehr europäisches Kino zeigen, zuerst eine Filmreihe von Lars von Trier.“
Einerseits engagieren sich die beiden gegen die neue Dreivierteldiktatur in Russland, andererseits sind sie gegen die parlamentarische Demokratie. Sie gehören der internationalen Bewegung ARES an, einer in Italien gegründeten rechtselitären Jugendbewegung. „Unser Ziel ist die Wiedergeburt der Aristokratie als Herrschaft der Besten“, sagt Dmitrij. „Wir sind für die Abschaffung der allgemeinen Wahlen.“ Michail freut sich sichtlich über mein verdutztes Gesicht. Und Dmitrij erzählt von seinen Erfahrungen als Wahlbeobachter: „Da kommen Arbeiter und Verkäuferinnen, denen man ansieht, dass sie keine fünf Minuten darüber nachgedacht haben, für wen sie stimmen werden. Warum sollen Universitätsprofessoren mit ihnen über einen Kamm geschoren werden?“
Meine Einwände kontert Mischa lächelnd: Als Europäer sei ich im Rahmen jener Demokratie aufgewachsen, die keine Alternative jenseits ihrer Grenzen zuließe. „Erst kürzlich ist in Deutschland ein Historiker verhaftet worden“, verkündet er. „Er wollte den Holocaust gar nicht leugnen, sondern nur kritisch diskutieren.“ Je länger wir reden, umso mehr rutscht unser Streit in die Richtung jener Debatten, die ich auch aus Petersburger Schwitzbädern oder Moskauer Redaktionscafés kenne: „Bei euch entscheiden doch keine Politiker und keine Partei, sondern das Großkapital.“ „Europa ist alt und müde, die Türken und Araber überrennen euch!“ „Napoleon hat den Krieg in Russland wegen unserer Partisanen verloren.“ Ob in Twer oder in den Metropolen: Die politische Philosophie der jungen russischen Intelligenzija wirkt unfertig, sucht sich ihre Wahrheiten oft im vorletzten Jahrhundert, misstraut der eigenen Staatsbürokratie genauso wie dem Westen. „Ich bezweifle, dass du in Deutschland einen Artikel veröffentlichen kannst“, erklärt Michail, „in dem du ARES und unser Programm erwähnst.“
ARES hat in Twer über 50 Mitglieder, aber kaum ein Twerer kennt die Organisation. Und kaum einer kennt das „Andere Russland“, für das sich die Aristokraten der Zukunft engagieren. Die Dumawahlen fanden auch hier praktisch unter Ausschluss der Opposition statt. Es gab fast nur Wahlplakate der Kremlpartei „Einiges Russland“ (ER). Die liberale Konkurrenz der „Union der rechten Kräfte“ (russisch abgekürzt SPS) fiel nur auf, weil ihr feindlich gesonnene Wahlkämpfer mitten in der Nacht die Bürger aus dem Schlaf klingelten, um sie aufzufordern, für die SPS zu stimmen. Weder SPS noch die sozialliberale „Jabloko“-Partei gewannen in den Twerer Wahlkreisen auch nur ein Prozent. Die Wahlen in Twer endeten wie in ganz Russland mit einem klaren Sieg der ER. Allerdings ergatterten die Einheitsrussen in der Stadt nur 53 Prozent der Stimmen, glatte zehn Prozent weniger als im gesamten Russland.
Wahlbetrug ist nicht unbedingt nötig
„Es ist auch bei uns manipuliert worden“, sagt Georgij Globin. Wir haben uns im „Mokka“, einem Café neben der Gorkij-Bibliothek getroffen. Im Stadtzentrum gibt es wenig Restaurants, aber sehr viele Cafés. Das liegt entweder daran, dass die Twerer begeistert Kaffee trinken, oder daran, dass ihr Geld eher für einen Milchkaffee als für ein Mittagessen reicht. Globin jedenfalls, ein hagerer Rentner, will nicht mal Kaffee. Er gilt als die Autorität in der Stadt, was Wahlstatistik angeht. In einem blassgrünen Schulheft, voll geschrieben mit säuberlich tabellierten Zahlen, sammelt er Fakten. „Nehmen wir das städtische Untersuchungsgefängnis, Wahlkreis Nr. 12. Bei den Dumawahlen 2003 hat ER dort elf Prozent bekommen. Die Kommunisten aber 18 Prozent. Und dieses Jahr“, er zieht ein anderes Schulheft aus seiner Aktentasche, schlägt es auf, „hatten die Kommunisten noch zwei Prozent. Und ER plötzlich 80,3 Prozent. In letzter Zeit werden wohl nur noch Putinanhänger verhaftet.“ Der pensionierte Radiophysiker lächelt nicht einmal. „Aber solche Manipulationen sind die Ausnahme. 48 Prozent für ER sind absolut realistisch. Es musste gar nicht mehr manipuliert werden. Erstens gibt es in unserer Stadt wie überall in Russland immer 15 Prozent Leute, die die Partei der Staatsmacht wählen. Zweitens ist Putin wirklich populär. Und drittens haben auch in Twer alle Fernsehsender permanent Positivpropaganda für Putin und die ER gemacht.“
In Twer herrschen zivile Sitten. Seit die Bar „Fabrika Blues“ im Mai 2005 aufgemacht hat, bechern hier allabendlich Rocker, Fernfahrer und Rechtsanwälte um die Wette, aber es hat bisher keine ernsthafte Schlägerei gegeben. In der Stadt studieren viele Inder und Afrikaner, ohne sich vor rechten Schlägern fürchten zu müssen. Im Gegensatz zu Moskau oder Petersburg riskieren Halbstarke mit Glatzen oder Gesten der Neonazis in Twer, dass die Miliz sie schnell und unsanft hinter Gitter befördert. Es wäre pathetisch, von allgemeineuropäischen humanistischen Werten zu reden, die in Provinzrussland lebendiger sind als im molochalen Moskau. Aber es gab in Twer offenbar auch zahlreiche Wahlvorstände, die Skrupel hatten, Dokumente und Wahllisten zu fälschen. Offiziell beteiligten sich 56,6 Prozent der wahlberechtigten Twerer an der Wahl, 53 Prozent davon stimmten für ER, unter dem Strich also knapp 30 Prozent. Die Jubelpropaganda des Kremls ließ also 70 Prozent der Twerer kalt.
Twer im Kampf gegen Korruption
Als der eigentliche Sieger der Dezemberwahlen in Twer gilt Bürgermeister Oleg Lebedew. Am gleichen Sonntag, als die Dumawahlen stattfanden, verteidigte er sein Amt mit souveränen 70,3 Prozent. Er freute sich so, dass er versprach, Twer nach Moskau und St. Petersburg zur dritten Hauptstadt Russlands zu machen. Während sich der Teil der Lokalpresse, der gegen Lebedew ist, offen über Wahlbetrug erboste: „Am Abend der Stimmenauszählung fiel in verschiedenen Stadtbezirken der Strom aus“ – der Moskowskij Komsomolez v Tweri unterstellt, Lebedews Leute hätten im Dunkeln heftig Wahlzettel gefälscht. Twer hat seine eigene, geradezu jelzinsche Pressefreiheit. Es gibt ein gutes Dutzend Lokalzeitungen, die sehr heftig sehr unterschiedliche Meinungen verbreiten. Meist die Meinung derer, die sie bezahlen. So feiert der Goroschanin (zu deutsch: „Der Städter“) alles was der Bürgermeister tut, schließlich wird das Blatt von Lebedews Stadtverwaltung herausgegeben. Andere Blätter lassen kein gutes Haar an ihm.
Trotz seines Rekordsiegs gilt der Bürgermeister keineswegs als Lichtgestalt. Sowohl in der „Fabrika Blues“ als auch im „Town“ erzählt man, er sei Besitzer des Nachtklubs „Laguna“, des einzigen Bordells in der Stadt. Lebedew ist auch kein perfekter Organisator. Voriges Jahr verbrachten 40 Prozent der Twerer Bürger drei Monate ohne warmes Wasser. Aber Wahlexperte Globin ist überzeugt, auch er habe den Großteil seiner 70 Prozent redlich gewonnen. „Gerade die älteren Leute bei uns stimmen nach dem Motto ,Hauptsache, es ist kein Krieg‘ für jeden, der einmal im Amt ist. Denen müssen Sie schon für ein Jahr die Heizungen abschalten, damit sie den Bürgermeister abwählen.“
Aber Lebedew hat das Pech, dass sein Wahlsieg nicht das entscheidende politische Ereignis der Twerer Politik im Jahr 2007 war. Zwei Tage vor den Wahlen verkündete das Twerer Gebietsgericht ein Urteil, dessen Strenge nicht nur den Angeklagten die Sprache verschlug: Zwölf Abgeordnete der Stadtduma landeten wegen Bestechlichkeit für zweieinhalb bis siebeneinhalb Jahre im Gefängnis. Ohne Bewährung. Ein Deputierter wurde aus Krankheitsgründen wenige Tage später verurteilt, ein anderer sitzt noch in Untersuchungshaft. Es erwischte fast die Hälfte der 33 Stadtparlamentarier: Rechtsanwälte, Unternehmer und Ärzte, die Creme der Twerer Bürgerschaft. Und das wegen vergleichsweise lächerlicher Summen: Beispielsweise kassierten die 13 zusammen 628 711 Rubel, umgerechnet keine 18 000 Euro, weil sie dafür stimmten, die Kontrolle über die städtischen Wasserwerke dem Moskauer Verteilungsriesen „Roswodokanal“ zu überlassen. Das sind knapp 1400 Euro pro Nase. Kaum jemand in Twer glaubt, dass die Stadtabgeordneten hier korrupter sind als andere russische Parlamentarier. Auch die Reue der Verurteilten ist relativ. „Wir wollten keine weißen Raben sein“, erklärte eine Abgeordnete, die jetzt zweieinhalb Jahre ins Gefängnis muss. „Hätten wir das Geld nicht genommen, die anderen hätten danach alle unsere Initiativen boykottiert.“
Korruption gilt in Twer wenn nicht als Kavaliersdelikt, so doch als Alltagsübel. Wie in ganz Russland kassieren hier Verkehrspolizisten, aber auch Professoren. „Ist deine Halskette echt?“, wurde eine Jurastudentin in einer Prüfung von ihrer Dozentin gefragt. „Sie gefällt mir. Und du willst ja nicht durchfallen …“ Aber viele Twerer betrachten Schmiergeld als schmutzige Währung. Vera Wladimirowa, die junge Wirtin der „Fabrika-Blues“, erzählt stolz, sie zahle für ihre Bar keinen Pfennig Schmiergeld. „Wer seine Kundschaft nicht mit verdünntem Bier und überteuerten Zigaretten betrügt, der muss auch keinen Beamten bestechen, wenn es daran geht, die Steuererklärung zu frisieren.“ Auch die Kriminalbeamten und Staatsanwälte, die gegen die Korruptionäre in der Stadtduma ermittelten, waren unbestechlich. Und die Abgeordneten wurden verurteilt, obwohl die Mehrzahl von ihnen zur ER, der Partei der Macht, gehören.
Es gibt Lokalpatrioten, die hoffen, in Twer habe das begonnen, worauf ganz Russland wartet: Der Kampf gegen die korrupte Bürokratie. Aber die zentralen staatlichen Fernsehsender verzichteten darauf, den Twerer Schmiergeldkrimi landesweit zu bringen. Das Urteil blieb ein lokaler Paukenschlag: 13 verurteilte Korruptionäre am Vorabend der Twerer Bürgermeisterwahlen. Die gewann bekanntlich Titelverteidiger Lebedew. Aber schon einige Tage später wurde ein enger Freund und ehemaliger ehrenamtlicher Berater des Bürgermeisters, der Geschäftsmann Igor Massarskij, verhaftet. Der Tusch nach dem Paukenschlag: Die Staatsanwaltschaft wirft Massarskij vor, er habe als Schmiergeldbote Stadtabgeordnete bestochen. Viele in Twer glauben, der nächste auf der Liste sei der Bürgermeister selbst.
Schon im Dezember 2005 war Oleg Lebedew für mehrere Monate von seinem Amt suspendiert worden. Gegen ihn lief ein Strafverfahren: wegen Behinderung der Ermittlungen im Fall seines Stellvertreters, der wiederum wegen Amtsmissbrauch und Veruntreuung belangt wurde. Damals mutmaßte halb Twer, der 2004 neugewählte Gouverneur Alexander Selenin habe diese Steine ins Rollen gebracht. Selenin, früher Vizechef des milliardenschweren Norilsker Nickelkonzerns und Vorsitzender des russischen Managerverbands, gilt als „ökonomischer“ Gouverneur: einer mit dem Anspruch, die Wirtschaft im gesamten Gebiet, auch in der Gebietshauptstadt, unter seine Kontrolle zu bringen. Der umtriebige Lebedew sei ihm deshalb ein Dorn im Auge.
Aber es gelang Lebedew, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Die russische Generalstaatsanwaltschaft kassierte im April 2006 das Verfahren gegen ihn. Einige Twerer Journalisten glauben zu wissen, warum: Lebedew habe damals in seiner Not die städtischen Wasserwerke dem Moskauer Großkonzern „Roswodokanal“ zugeschustert und dafür zwei bis drei Millionen Dollar Schmiergeld kassiert. Ein Großteil der Summe sei an die Generalstaatsanwaltschaft in Moskau geflossen, die kurz darauf das Verfahren gegen ihn einstellte. Und lächerliche 17 000 Euro als Prämie an den Stadtrat, damit er das windige Geschäft absegne. Sein Ratgeber Massarskij habe das Schmiergeld einem der Stadträte überbracht. Der sitzt jetzt übrigens auch in Untersuchungshaft und soll vor kurzem ausgepackt haben. All das sind nur Mutmaßungen – den Bürgermeister aber können sie Karriere und Freiheit kosten. So wie vor ihm seinen Amtskollegen in Wladiwostok und Wolgograd, die ebenfalls in Fehde mit ihren Gouverneuren lebten. Eine Konfliktlinie, die sich seit Jelzin in der Provinz sehr oft wiederholt, und in der die Bürgermeister meist den Kürzeren ziehen.
Der clevere Lebedew, erst Parteigänger der liberalen SPS, dann der nationalpopulistischen „Narodnaja Wolja“ (Volkswille), trat diesen Sommer der ER bei. Der Kremlpartei, der natürlich auch Gouverneur Selenin angehört. Lebedew machte sich so zum offiziellen politischen Mitstreiter seines mächtigen Konkurrenten. Jetzt organisieren sie gemeinsam den Wahlkampf für Putins Thronerben Dmitrij Medwedew. Allerdings ist Selenin ebenfalls kein Einfaltspinsel. Insider der Twerer Politik erzählen, Selenin habe bei den Bürgermeisterwahlen einen besonders aggressiven Gegenkandidaten Lebedews mitfinanziert. Und die Korruptionsermittlungen laufen weiter.
Twer ist Provinz. Und auch in Russland ist die Provinz ehrlicher als die Hauptstadt. Im Gegensatz zum straff inszenierten Moskauer Theater herrscht hier nur spärlich verhüllte Interessenvielfalt, auch unter dem Banner der angeblichen Einheitspartei ER knäueln sich wirtschaftliche und politische Konkurrenzen. Die Korruption bedient sich aus Plastiktüten, die Opposition plant mit Utopien, der Großteil der Bürger hat sich längst achselzuckend von aller Politik verabschiedet. Nach acht Jahren Wladimir Putin schwebt noch immer der chaotische Geist Jelzins über Provinzrussland.
Am Ende der sowjetischen Straße wurde kürzlich der Hotelrohbau angestrichen und hat jetzt Fenster mit weißen Plastikrahmen. Und vor ein paar Wochen ist das Schild „Nicht klopfen. Wegen Inventur geschlossen“, am Kiosk in der Mussorskij-Straße verschwunden. Das Verkaufsfenster ist abends geöffnet, an der Bushaltestelle davor stehen jetzt auch bei 11 Grad Minus ein paar junge Leute und genießen mit sehr russischem Heroismus Dosenbier und Trockenfisch. Auch in Twer bewegt sich Russland weiter, ganz unabhängig von all seinen Präsidenten.
STEFAN SCHOLL, geb. 1962, lebt als freier Autor in Twer, Russland. Zuletzt erschien von ihm „Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr“ (2004).
Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 26 - 32