Titelthema

30. Jan. 2025

Drei Kampfzonen

Der geopolitische Wettbewerb wird primär in Europa, Ostasien und Nahost ausgetragen. Die Nullsummenspiele zwischen diesen Arenen beeinflussen weltweit das strategische Kalkül. (Dies ist eine für die IP-Ausgabe 03/2025 überarbeitete Version des am 30.01.25 online veröffentlichten Textes von Marc Saxer. Ursprünglich erschienen unter dem Titel "Geopolitik in einer Welt mit drei Kampfzonen".)

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Bild: Rundes Schachbrett mit drei Spielern
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Konflikte und Krisen, die zunächst regional begrenzt sind, haben oft Auswirkungen rund um den Globus. Während der Covid-19-Pandemie führten Lieferkettenstörungen in Ostasien zu Produktionsausfällen in Europa. Der Krieg in der Ukraine hat die globale Nahrungs- und Energiesicherheit erschüttert und weltweit die Inflation angeheizt. Der Krieg in Gaza hat Proteste in Europa und Südostasien ausgelöst. Allen De-Globalisierungsdebatten zum Trotz: Die Welt bleibt eng verflochten. Aber bedeutet diese Verflechtung auch, dass die Welt zu einer einzigen großen Bühne für die Rivalität der Großmächte geworden ist?

Tatsächlich werden geopolitische Konflikte heute global ausgetragen. Über Waffenlieferungen und Truppenentsendungen führen die beiden Koreas einen Stellvertreterkrieg auf europäischem Boden, was wiederum die Instabilität auf der koreanischen Halbinsel verschärft. Gleichzeitig versucht Russland durch sein Engagement in Mali, Syrien und Nord­korea, die westliche Aufmerksamkeit von der Ukraine abzulenken. China schmiedet aktiv Partnerschaften in verschiedenen Weltregionen, sei es durch die „Neue Seidenstraße“ oder durch seine Rolle in den BRICS und in der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ).

Aus Washingtons Sicht scheint ein halbes Dutzend revisionistischer Mächte die Hegemonie der USA in mehreren Regionen gleichzeitig herauszufordern. Die Biden-Regierung hat dem die Stärkung von Bündnissen in Asien und Europa durch trilaterale Abkommen entgegengesetzt: mit Japan und Südkorea (JAROKUS), Japan und den Philippinen (JAROPUS) sowie Australien und dem Vereinigten Königreich (AUKUS). Befürworter des Konzepts einer „globalen NATO“ verfolgen die Vision einer Welt als singuläre, zusammenhängende Bühne für geopolitische Strategien. Die Konzeption einer „One Theatre ­World“ übersieht allerdings die Hierarchisierung der Interessen anderer Mächte. Es stimmt zwar, dass Großmächte weltweit um Einfluss kämpfen; dieses Engagement ist jedoch keinesfalls überall gleich stark, weil ihre jeweiligen Interessen je nach ­Region unterschiedlich stark betroffen sind.

Für China und Russland hat die Sicherung ihrer Positionen in ihren jeweiligen Heimatregionen Vorrang vor dem Engagement in weiter entfernten Konflikten. Die Europäer wollen sich wirtschaftlich nicht von China entkoppeln, die NATO nicht global ausweiten oder militärisch in einen etwaigen Konflikt in der Taiwanstraße eingreifen. Die US-Verbündeten Australien, Japan und Südkorea konzentrieren sich trotz ihrer stillen Unterstützung der Ukraine auf das Südchinesische Meer, Taiwan und die koreanische Halbinsel. Indiens Fokus liegt auf der eigenen Entwicklung. Wie die Mehrheit des Globalen Südens weigert sich Delhi, Partei in den Machtkonflikten des Globalen Nordens zu ergreifen. Die Trump-Administration, konfrontiert mit zwei aktiven Kriegen und der Möglichkeit eines dritten, priorisiert ebenfalls ihre Interessen und staffelt ihr Engagement entsprechend.

Wo liegen die zentralen Schauplätze für Großmachtkonflikte nach dem Ende der Pax Americana? Per Definition zeichnet sich eine primäre Kampfzone im geopolitischen Wettbewerb durch folgende Merkmale aus: eine Herausforderung der Hegemonie der USA in der Region; das Potenzial für einen Krieg mit Auswirkungen, die weit über die unmittelbare Region hinausreichen; die Einmischung nicht ansässiger Großmächte in einen Konflikt, selbst wenn sie keine direkten Akteure sind; mindestens eine Nuklearmacht, die ihre Kerninteressen so stark bedroht sieht, dass sie das existenzielle Risiko des Einsatzes von Atomwaffen in Betracht ziehen würde. 

Drei Schauplätze erfüllen diese Kriterien: Europa, der Nahe Osten und Ostasien.

Europa: Russland fordert die Hegemonie der USA heraus. Moskau hat wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, was die strategischen Überlegungen aller beteiligten Mächte erheblich beeinflusst. Der Krieg in der Ukraine hat Verwerfungen rund um den Globus ausgelöst. Die russische Seite wird von China, Iran und Nordkorea unterstützt, während Austra­lien, Japan und Südkorea der Ukraine Hilfe leisten. Gleichzeitig haben China, die Türkei, Indonesien und eine Delegation von sieben afrikanischen Staaten Friedenspläne vorgeschlagen oder ihre Bereitschaft signalisiert, Verhandlungen auszurichten. Selbst wenn der Krieg in der Ukraine beigelegt oder eingefroren wird, könnten neue Konflikte auf dem Balkan, im Baltikum oder im Kaukasus die Spannungen mit Russland weiter verschärfen. Europa dürfte daher mittelfristig eine primäre Kampfzone im geopolitischen ­Wettbewerb bleiben.

Nahost: Der Iran stellt die Hegemonie der USA offen infrage. Gleichzeitig konkurrieren die Türkei, Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate um Einfluss. Mit den anhaltenden Konflikten und Kriegen in Gaza, Libanon, Syrien und Jemen steht die Region bereits unter erheblicher Spannung. Israel, inoffizielle Nuklearmacht, würde Atomwaffen wohl nur einsetzen, wenn seine Existenz bedroht ist. Ein israelischer Angriff auf iranische Nuklearanlagen könnte jedoch den Iran über die nukleare Schwelle treiben und den schwelenden Konflikt zwischen diesen beiden Regionalmächten zu einem umfassenden Krieg eskalieren lassen. Eine iranische Vergeltung, möglicherweise gegen Ölanlagen im Golf, könnte eine massive Energiekrise mit weltweiten Auswirkungen auslösen. Russland versucht, nach der Niederlage in Syrien seine Interessen im Nahen Osten durch Kontakte zu den neuen Machthabern zu wahren. Chinas Vermittlung eines Abkommens zwischen dem Iran und Saudi-Arabien sowie die Aufnahme der VAE, des Iran und Ägyptens in die BRICS-Staatengruppe verdeutlichen Pekings wachsenden Einfluss. Indien baut ebenfalls starke Partnerschaften mit dem Iran, Israel und den Golfstaaten auf. Mit so vielen Akteuren, die an einer möglichen Eskalation eines regionalen Krieges beteiligt sein könnten, dürfte auch der Nahe Osten eine primäre Kampfzone bleiben.

Ostasien: Im Vergleich zu Nahost ist diese Region bisher relativ stabil. Dennoch ist Ostasien das zentrale Spielfeld des Hegemonialkonflikts zwischen China und den USA. Spannungen auf der koreanischen Halbinsel oder Zwischenfälle im Ost- und Südchinesischen Meer könnten schnell außer Kontrolle geraten. Hauptkonflikt­herd ist jedoch die Taiwanstraße, wo die geopolitischen „tektonischen Platten“ der USA und Chinas aufeinandertreffen. Peking fühlt sich eingekreist und versucht, die erste Inselkette zu durchbrechen, um strategische Tiefe im Pazifik zu gewinnen. Die USA und ihre Verbündeten interpretieren Chinas muskulöses Gebaren als die aggressivsten Durchbruchsversuche eines militärisch auf Augenhöhe spielenden Konkurrenten in die Tiefe des Pazifiks seit Pearl Harbor.

Die Eskalation eines Krieges in Nahost würde weit ausstrahlen: Besonders viele Akteure sind involviert

Das Gefühl der Bedrohung auf beiden Seiten führt zu einem klassischen Sicherheitsdilemma. Allen Bedenken zum Trotz würden US-Verbündete wie Japan, die Philippinen, Australien und Südkorea im Falle eines Krieges um Taiwan wohl nicht umhinkommen, ihre Schutzmacht militärisch zu unterstützen. Nordkorea könnte die ­Gelegenheit nutzen, um eine zweite Front auf der koreanischen Halbinsel zu eröffnen – und Russland würde wohl kaum untätig bleiben. Im Falle einer Blockade der Straße von Malakka könnten Singapur, Malaysia und Indonesien gezwungen sein, sich trotz ihres Neutralitätswunsches für eine Seite zu entscheiden.

Eine Blockade oder ein Krieg in der Region würde die globalen Lieferketten unterbrechen. Selbst die europäischen US-Verbündeten stünden unter starkem Druck, Position zu beziehen. Anders als in Europa und Nahost, wo die USA und China für nukleare Zurückhaltung eintreten, stehen in Ostasien die Kerninteressen beider Supermächte derart auf dem Spiel, dass eine nukleare Eskalation nicht ausgeschlossen werden kann. Auch Nordkorea rasselt regelmäßig mit dem nuklearen Säbel. Angesichts dieses hohen Einsatzes versuchen beide Großmächte, eine Eskalation in einen heißen Krieg zu vermeiden. Sollte Ostasien zum Hauptschauplatz eines neuen kalten Krieges werden, könnte die Region sogar eine ähnliche Stabilität erleben wie Europa während des Kalten Krieges, während andere Regionen anfälliger für Stellvertreterkriege würden. Ein heißer Konflikt um Taiwan könnte sich ­allerdings rasch zu einem regionalen oder gar weltweiten Krieg ausweiten.

Der geopolitische Wettbewerb in Lateinamerika, Afrika, Zentralasien und im Südpazifik hat sich zwar verschärft, doch erscheint es unwahrscheinlich, dass diese Regionen das gleiche Maß an Engagement der Großmächte auf sich ziehen wie die drei oben diskutierten Hauptschauplätze.

Südasien, wo die Nuklearmächte In­dien, Pakistan und China aufeinandertreffen, könnte als weitere Kampfzone infrage kommen. Allen jüngsten Annäherungen zum Trotz zeugen die Zusammenstöße zwischen Indien und China im Himalaya von tiefgreifendem Misstrauen zwischen den SOZ- und BRICS-Partnern. Allerdings fordern Peking und Delhi nicht die Kerninteressen des anderen heraus, ein umfassender Krieg ist daher nicht wahrscheinlich. Gleichzeitig kann ein Krieg zwischen den nuklear bewaffneten Rivalen Indien und Pakistan angesichts ihrer langjährigen Feindschaft niemals völlig ausgeschlossen werden.

Ein Konflikt in dieser Region würde allerdings wohl weder massive Verwerfungen in anderen Weltregionen auslösen noch erhebliche Unterstützung oder Einmischung externer Mächte hervor­rufen. Trotz des beträchtlichen Interesses an einem Markt mit zwei Milliarden Menschen an der Schnittstelle zwischen Ost und West bleibt das direkte Engagement von China, Russland, den USA und Europa in der Region begrenzt. Sollte Südasien ein sekundärer Schauplatz bleiben, wird sich die Rivalität der Großmächte auf die drei primären Kampfzonen Europa, Nahost und Ostasien konzentrieren.

Russland versucht aktiv, die Dynamik dieses dreidimensionalen geopolitischen Schachbretts zu nutzen, um westliche Aufmerksamkeit und Ressourcen von der Ukraine abzulenken. Moskaus Annäherung an Pjöngjang hat jedoch den „grenzenlosen Freund“ in Peking irritiert. Jüngste Rückschläge in Mali und Syrien deuten darauf hin, dass Moskau sein Blatt überreizt hat. Tatsächlich haben die Verstrickungen Russlands und des Iran in ihre jeweiligen Kriege Möglichkeiten eröffnet, welche die türkisch unterstützten Milizen zum Sturz des Assad-Regimes genutzt haben.

Analog zum russischen Rückschlag in Syrien hätte ein umfassender Krieg zwischen Israel und dem Iran ernsthafte und unmittelbare Auswirkungen auf die US-Unterstützung für die Ukraine.

Die Europäer müssen verstehen, dass die Zielkonflikte zwischen den Kampfzonen in Europa, dem Nahen Osten und Ostasien ihre strategische Umgebung ebenso stark prägen wie die Ergebnisse auf dem ukrainischen Schlachtfeld selbst. Der strategische Fokus der USA auf den Wettbewerb mit China erzeugt erheblichen Druck, die Verantwortung für die europäische Sicherheit auf europäische Schultern zu verlagern. US-Verteidigungsminister Pete Hegseth forderte die Europäer entsprechend auf, künftig bis zu 5 Prozent des BIP für Rüstung auszugeben. 

Da die Bürger Westeuropas nicht bereit sind, zur Finanzierung von Aufrüstung Wohlfahrtseinbußen hinzunehmen, wird Europa aller Voraussicht nach nicht über die Ressourcen verfügen, um militärische Stärke außerhalb der eigenen Nachbarschaft zu projizieren. Deshalb haben europäische Staaten bereits begonnen, die Bedeutung ihrer in Indo-Pazifik-Strategien formulierten Ziele zu relativieren.

Im gesamten Indo-Pazifik müssen sich die Verbündeten der USA mit den strategischen Konsequenzen der amerikanischen Beteiligung an zwei heißen Kriegen in Europa und im Nahen Osten auseinandersetzen. Selbst die Ressourcen einer Supermacht reichen nicht aus, um den seit Langem angekündigten „Pivot to Asia“ umzusetzen oder einen dritten großen Krieg in Ostasien zu führen. In Tokio, Seoul und Canberra spiegelt die Furcht vor einem möglichen Rückzug der USA ähnliche Ängste in Berlin, Tel Aviv und Riad wider.


Primacists, Priorisierer, Isolationisten 

Die USA bleiben als „Offshore-Balancer“ in jeder primären Kampfzone unverzichtbar. Das zeigt, dass die USA trotz ihres oft attestierten ­relativen Machtverlusts ­weiterhin eine Spitzenposition in der globalen Machtstruktur einnehmen. Ob Wa­shington jedoch bereit ist, diese Position zu nutzen, hängt vom Ausgang der laufenden Debatte zwischen den neokonservativen Primacists (Sicherung der globalen Dominanz durch Sieg im Wettbewerb gegen China), Priorisierern (Rückzug aus Europa und Nahost, um Ressourcen auf den Konflikt mit China zu konzentrieren) und Isolationisten (Rückzug in die westliche Hemisphäre) ab. Ein Indiz, welche Frak­tion den größten Einfluss in der Regierung hat, gibt der Entzug des Personenschutzes für die wichtigen Vertreter der Neokonservativen, die damit politisch ins Abseits gedrängt werden. 

Unabhängig davon muss Washington anerkennen, dass die Mehrheit seiner Verbündeten und Partner nicht bereit ist, der amerikanischen „Single Theatre“-Strategie zu folgen, sondern ihre unmittelbaren Interessen in ihren jeweiligen Heimatregionen priorisiert. Auch die Trump-Administration wird sorgfältig darauf achten müssen, eine Überdehnung der amerikanischen Ressourcen zu vermeiden – eine Schwäche, die Gegner ausnutzen würden, um den Einfluss der USA zu schwächen.

Eine wachsende Mehrheit der Amerikaner lehnt die „endlosen imperialen Kriege“ der vergangenen Jahrzehnte ab. Washington wird also mehr in den Wiederaufbau des amerikanischen Kernlands investieren müssen. Angesichts begrenzter Ressourcen und der fehlenden Bereitschaft oder Fähigkeit wichtiger Verbündeter, einen größeren Beitrag zur Sicherung der US-Hegemonie zu leisten, dürfte bei Donald Trump die Versuchung weiter wachsen, „Deals“ abzuschließen, die auf Kosten der Partner gehen.

Ab März verhandelten Amerikaner und Russen in Riad. Möglich schien ein kleiner, taktischer Deal über die Beendigung der Kampfhandlungen in der Ukraine – oder aber ein strategisches „Kissinger-in-­reverse“-Rapprochement, in dem Russland sich im Hegemonialkonflikt mit China an die Seite der USA stellt. Offen war auch, ob Trump wirklich, wie weithin erwartet, den Wettkampf mit China intensivieren oder aber an den „Phase One Trade Deal“ anknüpfen will, den er zum Ende seiner ersten Amtszeit abgeschlossen hatte. Unwahrscheinlich, aber nicht völlig auszuschließen ist sogar eine strategische Übereinkunft mit China, eine friedliche Koexistenz im Rahmen einer von den Großen 2 (G2) dominierten Weltordnung.

Europa sollte sich darauf konzentrieren, seinen eigenen Kontinent zu sichern. Es sollte keine Ressourcen für weit entfernte Regionen wie etwa den Indo-Pazifik aufwenden

Einigen sich die Großmächte auf die gegenseitige Anerkennung exklusiver Einflusszonen, würde das nicht nur das geopolitische Schachbett fundamental verändern. Anstelle der regelbasierten, liberalen Weltordnung träte ein Konzert der Mächte, in dem das Gleichgewicht durch ein permanentes Austarieren der Kräfte stabilisiert würde. Ohne den Aufbau eigener Machtmittel würde Europa zum Spielball der großen Mächte. 

China hat sowohl finanziell als auch politisch erheblich in Europa und den Nahen Osten investiert, um sich in beiden Regionen als bedeutender Machtakteur zu etablieren. Zugleich versucht Peking, eine direkte Beteiligung an den lokalen Konflikten zu vermeiden. Allerdings zeigen europäische Appelle, Peking möge zwischen Moskau und dem Westen vermitteln, sowie amerikanische Forderungen, den Einfluss in Teheran zu nutzen, um die iranischen Klienten einzuhegen, dass China sich mit wachsendem Status nicht unbegrenzt wegducken kann.

Die Mehrheit der Staaten des Globalen Südens ist nicht bereit, durch eine Verwicklung in den Krieg in Europa ihre eigene Entwicklung zu gefährden. In den berühmt gewordenen Worten des indischen Außenministers S. Jaishankar: „Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind.“ Mit anderen Worten: Europäer sollten ihre eigenen Konflikte selbst lösen, so wie der Rest der Welt es mit seinen tut.

Die Zeiten, in denen der Westen die Welt für seine Anliegen mobilisieren konnte, sind vorbei. Allerdings findet das russische Narrativ ebenso wenig Anklang. Der Globale Süden will sich nicht für eine Seite entscheiden, sondern seine eigenen Interessen verfolgen. Ob es allerdings gelingen kann, durch eine Strategie des Ausbalancierens und Risikomanagements eine klare Positionierung zu vermeiden, bleibt abzuwarten. Der globale geopolitische Wettbewerb und die Zielkonflikte zwischen den drei primären Kampfzonen verändern die Opportunitätsstrukturen für die Sicherheit und Entwicklung kleinerer Staaten. Die jüngsten Konflikte in Georgien und Syrien verdeutlichen dies eindrücklich.

Im Rahmen des Indo-Pazifik-Konzepts wird Indien oft als Gegengewicht zu China betrachtet. Allerdings mangelt es Indien sowohl an Kapazitäten als auch am politischen Willen, eine bedeutende Rolle in Ostasien zu übernehmen. Zwar würde eine massenhafte Stationierung indischer Truppen an Chinas Westflanke Pekings Kalkulationen zweifellos erschweren, doch ist es unwahrscheinlich, dass ­Delhi sich in einen größeren Konflikt in der Taiwanstraße einmischen würde. Dies mindert nicht unbedingt den Wert der QUAD-Gruppierung, legt jedoch nahe, das Potenzial dieser Zusammenarbeit eher aus der Perspektive Delhis zu bewerten als aus der Washingtons. Außerhalb des Westens hat so gut wie niemand ein Interesse da­ran, sich in die amerikanische Strategie der Einhegung Chinas einspannen zu lassen. Das erklärt, warum das Indo-­Pazifik-Konzept im Globalen Süden weniger Anklang findet.

Ähnliche Fragen zur amerikanischen Großstrategie stellen sich mit Blick auf Südostasien. Solange Indonesien und Vietnam China ausbalancieren – so die vorherrschende Sichtweise in Washington –, kann der Rest Südostasiens am Spielfeld­rand bleiben, ohne den hegemonialen ­Bestrebungen Pekings zum Opfer zu fallen. Allerdings zeigt die neue Regierung in Jakarta trotz eigener territorialer Ansprüche nur wenig Neigung, Pekings Ambitionen im Südchinesischen Meer entgegenzutreten. Grundsätzlich wünschen sich die Südostasiaten, dass die USA der Region verbunden bleiben, ohne größere Verwerfungen mit China zu verursachen. Sie sind daher besorgt über isolationistische Tendenzen in Washington, zögern jedoch ebenfalls, sich für die Dominanzstrategien der amerikanischen Falken einspannen zu lassen. Mit anderen Worten: Die Staaten Südostasiens werden alles daransetzen, eine Wahl zwischen ihrem wichtigsten Wirtschaftspartner und ihrem zentralen Sicherheitsgaranten zu vermeiden.


Wille zur Macht

Sowohl Indien als auch Indonesien verfolgen Multi-Alignment-Strategien mit Ambitionen, die über ihre ­Heimatregionen hinausreichen. Zugleich versuchen sie, die Brennpunkte des globalen Wettbewerbs zwischen den USA und China zu meiden. Doch kann eine Macht tatsächlich den Anspruch erheben, ein globaler Akteur zu sein, wenn sie nicht in der Lage ist, gemeinsamen Wohlstand oder zumindest Stabilität in ihrer unmittelbaren Nach­barschaft zu fördern?

Wenn dem nicht so ist, stellt dies eine derzeit populäre, weite Lesart von Multipolarität infrage. In der Tat nutzen nach dem Ende der Unipolarität mehrere Staaten – von Brasilien über Südafrika bis hin zu Indonesien – Brüche in der internationalen Ordnung, um regionale Hegemonie anzustreben. Aber kann ein Land, das weder eine bedeutende Rolle in den drei primären Kampfzonen spielt noch als wohlwollender Hegemon in seiner eigenen Region agiert, glaubhaft den Anspruch erheben, ein „Machtpol“ in einer multipolaren Welt zu sein?

Die Zeiten, in denen der Westen die Welt für seine Anliegen mobilisieren konnte, sind vorbei

Dies spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Machtkonstellationen der drei zentralen Schauplätze wider. Lediglich der Nahe Osten kann – wenn auch mit Einschränkungen – als multipolare Konstellation beschrieben werden. Im Gegensatz dazu weist Europa wie Ostasien bipolare Ordnungen auf, auch wenn sich dies mit Blick auf die Annäherung Trumps an Putin ändern kann: auf der einen Seite die USA und ihre Verbündeten, auf der anderen Russland bzw. China. Die Stabilisierung dieser bipolaren Regionen durch die Schaffung eines Gleichgewichts könnte realistischer sein, während das Risiko, ins Chaos abzugleiten, im Nahen Osten hoch bleibt.

Eine Welt mit drei zentralen geopolitischen Kampfzonen – mit zwei tobenden heißen Kriegen und der Möglichkeit eines dritten Großkonflikts in Ostasien – macht die Aufrechterhaltung der „Pax ­Americana“ unerschwinglich. In Kom­bination mit den demokratischen und fiskalischen Einschränkungen in den USA stellt eine Welt mit drei primären Kampfzonen eine erhebliche Herausforderung für die amerikanische Vormachtstellung dar. Ein Strategiewechsel, der nicht mehr auf Sieg, sondern auf das Management des Großmachtwettbewerbs setzt, würde besser zum Grundinstinkt der Trump-­Regierung passen. 

Nachdem der liberale Hegemon die vom ihm gegründete und garantierte liberale Weltordnung für obsolet erklärt hatte, muss Europa seine geopolitische Haltung neu ausrichten. Es gilt, sich in einer Welt zurechtzufinden, die von Hard Power angetrieben wird. Darin verhindert eine starre Einteilung in demokratische und autokratische Staaten eine wirksame Strategie. Die sogenannte wertebasierte Außenpolitik sollte einem realistischen Ansatz weichen, der die Grenzen der Fähigkeiten Europas anerkennt. Statt Ressourcen für Engagements in weit entfernten Regionen wie dem Indo-Pazifik aufzuwenden, wo die Kerninteressen Europas nicht unmittelbar auf dem Spiel stehen, sollte sich Europa darauf konzentrieren, seinen eigenen Kontinent zu sichern und seine unbeständige Nachbarschaft zu stabilisieren.

Der Erfolg Europas wird von der Fähigkeit abhängen, strategische Partnerschaften auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu schmieden – und nicht auf der Grundlage ideologischer Überein­stimmungen.    

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S.32-40

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