Multipolarität und blinde Flecken – eine Replik auf Jörg Lau
In Deutschland wogt eine Debatte um die Multipolarität. Außerhalb des Westens dürfte sie kaum jemand verstehen. Es gilt, die Welt zu beschreiben, wie sie ist.
In einem viel beachteten Meinungsbeitrag für die September/Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik hat Jörg Lau herausgearbeitet, dass das Konzept der Multipolarität keineswegs ideologisch neutral ist: Es wird international von Russland und China und in Europa von Rechtspopulisten als Überschrift für das antiwestliche Projekt der Revision der liberalen Weltordnung verwendet. So weit, so richtig. Die Schlussfolgerung aber, auf den Begriff der Multipolarität zu verzichten, weil er unseren Werten widerspricht, offenbart eine Reihe von blinden Flecken in der europäischen Debatte.
Darauf hinzuweisen, dass ein Begriff vom politischen Gegner propagandistisch verwendet wird, darf kein Vorwand dafür sein, auf eine realistische Beschreibung der Welt, wie sie ist, zu verzichten. Es ist eine schlichte Tatsache, dass die globalen Kräfteverhältnisse schon seit Jahren multipolar sind.
Schon die Finanzmarktkrise von 2008 konnte nur im Verbund mit den aufstrebenden Volkswirtschaften jenseits des Westens eingehegt werden. Der Anteil der BRICS-Länder am globalen Bruttoinlandsprodukt hat das der alten Industrieländer überflügelt. Nun haben sich der chinesisch dominierten Gruppe auch noch die größten Produzenten von Öl und Gas angeschlossen. Technologisch und militärisch verringert China den Abstand zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber es ist vor allem Europa, das auf all diesen Feldern an Einfluss verloren hat.
Schlimmer noch, die Fokussierung auf den Krieg vor der eigenen Haustür verstellt den Europäern den Blick darauf, dass der Konflikt mit Russland eingebettet ist in die globale Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Die Debatte, vor welche strategischen Herausforderungen die multipolare Welt Europa stellt, darf nicht verdrängt werden, sondern muss dringend geführt werden. Fünf Argumente.
Der strategische Schwenk der USA
In den USA hat die Debatte über das Endspiel im Ukraine-Krieg längst begonnen. Aus Sicht vieler Amerikaner hat Russland den Krieg strategisch (nicht militärisch!) bereits verloren. Um nicht in einen Zwei-Fronten-Krieg zu geraten, werden in Washington taktische Forderungen lauter, die Verantwortung für den Krieg in Europa an die Europäer zu delegieren und die amerikanischen Ressourcen ganz auf die erwartete Auseinandersetzung mit dem Rivalen China zu konzentrieren. Denn strategisch ist der Krieg in Europa für die USA keineswegs eine Zeitenwende, sondern nur die kurzfristige Unterbrechung eines Paradigmenwechsels weg von Europa, hin zu China. Wenn die Amerikaner ab 2025 nicht länger die Hauptlast schultern, werden die Europäer die Ukraine aus eigener Kraft so unterstützen können, dass sie offensivfähig bleibt?
Europäische Fähigkeiten sind begrenzt
Wie der Ukraine-Krieg gerade eindrucksvoll demonstriert, machen die begrenzten Fähigkeiten der Europäer die feste Einbindung in das transatlantische Bündnis unverzichtbar. Dann kann es aber auch eine politische Äquidistanz zwischen den USA und ihren Rivalen China und Russland, wie das die Befürworter der „europäischen Autonomie“ in Paris fordern, nicht geben. Unter deutschen Transatlantikern wird dagegen übersehen, dass sich mit der Umorientierung der USA auf den Indo-Pazifik zwangsläufig der Charakter und die Statik des transatlantischen Bündnisses ändern. Es bleibt zu hoffen, dass die USA auch unter einer möglichen zweiten Trump-Präsidentschaft weiter zur Bündnisverteidigung in Europa unter Art. 5 des NATO-Vertrags stehen.
Doch der Wunsch der Amerikaner nach einer Neuverteilung der Lasten und Aufgaben im Bündnis geht über Parteigrenzen hinaus. Mittelfristig dürften die USA ihre Rolle im transatlantischen Bündnis neu definieren: weg vom omnipräsenten Anführer, der bei allen Krisen rund um Europa die Hauptlast trägt, hin zur selektiven NATO-Schutzmacht „of last resort“, als letzter Instanz. Egal, wer ab 2025 im Weißen Haus sitzt, die Amerikaner wollen bei der Aufrechterhaltung der Stabilität im Euro-Atlantik entlastet werden, um sich auf die Auseinandersetzung mit China im Indo-Pazifik konzentrieren zu können. Können die Europäer aber aus eigener Kraft die Landes- und Bündnisverteidigung gewährleisten? Haben sie die Fähigkeiten und den politischen Willen, die Hauptlast der Stabilisierung des Krisenbogens von Osteuropa über den Mittleren Osten bis in die Sahelzone zu stemmen?
Kommende Verteilungskonflikte
Die Wiederherstellung der für diese Aufgaben erforderlichen Fähigkeiten bringt Europa an die Grenzen seines Gesellschaftsvertrags. Während des Kalten Krieges lagen die deutschen Verteidigungsausgaben um 2 bis 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts höher als heute. Addiert man dazu die Kosten der Klima- und Energiewende und möglicher Banken- und Eurokrisen, wird die Politik eine Umverteilung zu gestalten haben, die alle Verteilungskonflikte im wiedervereinigten Deutschland in den Schatten stellen. Wie lassen sich die sozialen Verteilungskonflikte gestalten, wenn ein erstarkender rechter Rand die Notwendigkeit der Transformation offen infrage stellt?
Geoökonomische Disruptionen
Wirtschaftlich hat Europa die durch den Krieg ausgelösten Verwerfungen noch lange nicht bewältigt. In Deutschland, das sich innerhalb kürzester Zeit von russischer Billigenergie entkoppeln muss, grassieren Deindustrialisierungsängste. Könnte der stotternde deutsche Exportmotor auch noch den Verlust des chinesischen Marktes verkraften? Bislang verweigern sich die Europäer einer breiten Entkopplung und setzen dagegen auf den selektiven Abbau von Abhängigkeiten durch De-Risking und Diversifizierung. Aber können sich die amerikanischen Verbündeten – nicht zuletzt mit Blick auf einen möglichen Konflikt mit China um Taiwan – langfristig dem Trend einer bipolaren Blockbildung widersetzen? Und was bedeuten die geoökonomischen Disruptionen für das deutsche Wirtschaftsmodell, das über Jahrzehnte auf nun brüchig werdende globale Wertschöpfungsketten gesetzt hat?
Die Rolle des Globalen Südens
Die Europäische Union kann in einer Wolfswelt, in der das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts bricht, nicht überleben. Der Erhalt der regelbasierten internationalen Ordnung liegt also im existenziellen Interesse Deutschlands in Europa. Wie aber kann Europa die Erfolgsbedingungen seines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells erhalten, wenn China und Russland potenziellen Partnern im Globalen Süden attraktivere Angebote machen? Ist Europa bereit, um des Erhalts des regelbasierten Multilateralismus willen auf eigenen Einfluss zu verzichten, um dem Globalen Süden eine den Kräfteverhältnissen des 21. Jahrhunderts angemessene Rolle zu geben? Und wie kann die westliche Wertegemeinschaft damit umgehen, dass die aufstrebenden Mächte des Globalen Südens – auch die Demokratien Brasilien, Indien, Indonesien und Südafrika – auf Prinzipien des Westfälischen Friedens bestehen statt auf liberalen Grundsätzen als normativem Fundament der Weltordnung?
Bilanz
Die Herausforderungen für das europäische Modell wachsen, die eigenen Kräfte schwinden. Konträr zu diesem strategischen Dilemma werden die Ambitionen der Europäer immer größer. Osteuropa dringt auf einen Siegfrieden in der Ukraine, Deutschland verprellt mit moralischen Belehrungen potenzielle Partner, Frankreich träumt von europäischer Autonomie und schielt wie Großbritannien auf eine sicherheitspolitische Rolle im Indo-Pazifik. Richtig ist, dass Europa mit Hochdruck seine eigenen Fähigkeiten ausbauen muss. Doch die europäischen Gesellschaftsverträge setzen diesen Plänen verteilungspolitische Grenzen.
Höchste Zeit also für Europa, seine Ambitionen den realen Kräfteverhältnissen in der multipolaren Welt anzupassen, um die Fundamente seines Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells zu erhalten.
Internationale Politik, online exklusiv, 31. August 2023