Titelthema

02. Jan. 2024

Achtung, Falle!

Warum der Westen andere  Prioritäten setzen muss. Ein Kommentar.

Kein Sicherheitsrisiko bereitet den Strategen in Peking so viel Kopfzerbrechen wie die Meerenge von Malakka. An diesem im Amerikanischen „Chokepoint“ (Würgegriff) genannten Nadelöhr wäre es möglich, die chinesischen Nachschubwege und Handelsrouten zu blockieren. Die Geopolitik der Ära Xi Jinping kann also als Versuch gelesen werden, aus der vermeintlichen Einkreisung durch die USA und ihrer Verbündeten auszubrechen. Nach Westen hin durch die gigantische Belt and Road Initiative, deren pakistanische und myanmarische Seitenstränge den freien Zugang zum Indischen Ozean und damit zu den Energievorräten rund um den Persischen Golf sichern. Nach Osten hin durch die Militarisierung des Südchinesischen Meeres, augenscheinlich mit dem Ziel, die amerikanischen Inselketten zu durchbrechen.

Von diesem Vordringen fühlen sich Chinas Nachbarn bedroht. Washington betrachtet China daher als die erste aggressive Militärmacht auf Augenhöhe seit Pearl Habor, die in den Pazifik vorstößt und damit die amerikanischen Positionen auf Guam, Hawaii und sogar die US-Westküste bedroht. In der US-Militärführung sorgen sich einige daher vor einem Showdown um das Herzstück der Inselketten, Taiwan, schon im Jahre 2025.

Dieses Szenario erscheint vielen Asiaten als zu westlich, sprich linear und binär gedacht. Der chinesische General und Philosoph Sun Tzu lehrte dagegen einst, dass die größte Leistung des Strategen darin besteht, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen. China hat es über Jahrhunderte meisterhaft verstanden, Angriffe auf das Reich der Mitte abzuwenden, indem es seine Konkurrenten gegeneinander ausspielt. Und auch heute muss es das Interesse Chinas sein, die Konzentration der immer noch überlegenen US-Streitkräfte direkt vor seiner Küste zu verhindern.

Washington scheint unwillkürlich sein Bestes zu tun, damit dieser Plan aufgeht. Über zwei Jahrzehnte hat sich die Supermacht in ihrem Krieg gegen den Terror verzettelt, während China ungestört an seinem historischen Wiederaufstieg arbeitete. Heute wächst unter US-Strategen der Frust darüber, dass auch ein Jahrzehnt nach Obamas „Pivot to Asia“ diese Schwerpunktverlagerung in den Pazifik nicht gelungen ist. Bis auf Weiteres sind bedeutende westliche Ressourcen im Krieg in der Ukraine gebunden. Zugleich droht Washington in einen Flächenbrand im Nahen Osten hineingezogen zu werden. Und damit nicht genug: Nach dem Ende der Pax Americana eskalieren innere und äußere Konflikte von der Sahelzone bis in den Kaukasus. Anfang Oktober 2023 ließ Serbien Truppen im Grenzgebiet zum Kosovo aufmarschieren. Und in Asien könnte Nordkorea die Gunst der Stunde zu neuerlichen Provokationen nutzen. All diese Konfliktherde binden die Ressourcen der größten Militärmacht der Welt.

Die Biden-Regierung hat die Gefahr der Überdehnung erkannt. Bei aller Solidarität mit den Opfern des russischen Krieges in der Ukraine und des Terrorangriffs der Hamas in Israel warnen die USA vor einer Eskalation mit unkalkulierbaren Folgen. Bei ihrem Treffen in San Francisco sendeten Biden und Xi Entspannungssignale und loteten Regeln für das Management ihres strategischen Konflikts aus. Jedoch steht Biden zuhause unter enormem Druck, die Gangart zu verschärfen. Daher versucht der Mann im Weißen Haus, mit Präsidialverordnungen den „China-Falken“ im Kongress den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber je deutlicher sich die Umfragewerte zugunsten des Republikaners Trump verschieben, desto weniger kontrolliert die demokratische Administration die politische Dynamik. Die US-Falken scheinen mit Volldampf in die Falle laufen zu wollen.

 

Dramatische Folgen für Europa

Ein überdehntes Amerika kann seinen Schutzschirm über Europa nur bedingt aufrechterhalten. Putin weiß das und spielt auf Zeit. Die Hauptlast der Kosten für den Krieg in der Ukraine und die Stabilisierung der europäischen Nachbarschaft werden also die Europäer selbst schultern müssen. Aber nicht nur die deutschen Debatten über „Kriegstüchtigkeit“ und das 2-Prozent-Ziel zeigen, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist. Im Korsett der Schuldenbremse müssten die Steigerung der Verteidigungskosten auf das Niveau des Kalten Krieges und die Reduzierung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen durch Umverteilung gegenfinanziert werden. Ein derart dramatischer Rückbau des Wohlfahrtstaats ist jedoch im Rahmen des Gesellschaftsvertrags undenkbar. Es ist also höchste Zeit, dass die strategischen Eliten die politischen Konsequenzen aus der Rückkehr des Krieges nach Europa und dem relativen Rückzug Amerikas ziehen. Europa muss die Machtmittel aufbauen, um sich selbst und seine Nachbarschaft verteidigen zu können. Die Schulden­bremse wird fallen müssen.

Zugleich sollte Berlin gemeinsam mit den europäischen und asiatischen Verbündeten seinen Einfluss in Washington nutzen, um die USA davon abzuhalten, in die Falle unendlicher Kriege zu tappen. Amerika muss einsehen, dass es seine Hegemonie auch nicht durch Waffengewalt verteidigen kann. Mehr noch: Eine Verengung des Wettbewerbs mit China auf das Militärische missversteht den Charakter der strategischen Konkurrenz. China wäre klug beraten, einen militärischen Showdown mit der größten Militärmacht der Welt zu vermeiden und den Wettstreit dort zu führen, wo es konkurrenzfähig ist: auf dem Feld der Wirtschaft und Technologie. Ein neuer Kalter Krieg würde dann nicht durch Panzer und Raketen entschieden, sondern darüber, wer bei KI und im Weltwährungssystem die Nase vorne hat. Hier setzen die Versuche der De-Dollarisierung einiger BRICS-Staaten an. Fällt der Status des US-Dollar als globale Reservewährung, verliert Amerika seine letzte verbleibende Superkraft. Der auf Pump finanzierte US-Staatshaushalt mitsamt der exorbitanten Militärausgaben wäre nicht aufrechtzuerhalten, wenn der Rest der Welt eine Alternative zu amerikanischen Schuldverschreibungen hätte. Amerika droht dasselbe Schicksal wie dem britischen Weltreich, das für zwei militärisch siegreiche Weltkriege mit dem Staatsbankrott – und damit dem Ende des Imperiums – bezahlt hat. Allen imperialen Verirrungen des Weltpolizisten zum Trotz: Das Aufflammen der Konflikte rund um den Globus zeigt, dass die Welt nach dem Ende der Pax Americana keineswegs friedlicher wird. Vor allem für die Rechtsmacht Europa wäre der Zerfall der regelbasierten globalen Ordnung existenzbedrohend. Es liegt also im existenziellen Interesse Europas, seine Schutzmacht vom Begehen eines fatalen Fehlers abzuhalten.

Damit ist es aber nicht getan. Auch die Wertepolitiker Europas müssen schnellstmöglich geopolitisch mündig werden. So sehr es auch schmerzt: Europa verfügt nicht über die Machtmittel, als Ordnungsmacht in einem halben Dutzend Konflikten – von Berg-Karabach bis in die Sahelzone – gleichzeitig zu intervenieren. Die Lehre aus den gescheiterten Nation-Building-Kriegen im Irak und in Afghanistan muss zudem sein, dem liberalen Interventionismus abzuschwören und sich auf die Stabilisierung der eigenen Weltregion zu konzentrieren. Europa muss seine oftmals überzogenen Ziele seinen begrenzten Machtmitteln anpassen. Das gilt für Blütenträume einer sicherheitspolitischen Rolle im Indo-Pazifik ebenso wie für das illusorische Festhalten an einer postkolonialen Stellung in der Sahelzone. Europa muss für mindestens eine Generation alle Kräfte darauf konzentrieren, den eigenen Kontinent und die unmittelbare Nachbarschaft sicher und vereint zu erhalten.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 30-31

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Marc Saxer leitet das Projekt Geopolitik und Weltordnung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Asien/Pazifik. Er ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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