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01. Sep 2006

Die USA und der Nahe Osten

Fünf Jahre nach 9/11: Eine Überprüfung der Bush-Doktrin

Ist Washingtons Politik im Nahen Osten katastrophal gescheitert? Führen die Neocons und die „Israel-Lobby“ die Regierung von Präsident George W. Bush am Nasenring von einem Fehlschlag zum nächsten? Nein, sagt der bedeutende US-Politologe Robert Lieber: Bedrohungsanalyse, Logik und Strategie der Nahost-Politik unter Bush jr. sind nach wie vor prinzipiell richtig. Der Kampf gegen den Dschihadismus ist eine Langzeitaufgabe.

Die jüngste Krise im Nahen Osten verleitet manch einen, den größeren Kontext, in dem der Konflikt stattfindet, ebenso zu ignorieren wie die strategische Logik, die der amerikanischen Politik zugrunde liegt. Die hochgradig polarisierte Einschätzung des amerikanischen Präsidenten erschwert die Aufgabe des Verstehens zusätzlich. Darüber hinaus können, selbst wenn die Politik auf einem soliden konzeptionellen Fundament ruht, diplomatische Fehler und mangelhafte Umsetzung leicht den Blick auf die Logik dieser Politik verstellen.

Angesichts des andauernden Blutvergießens im Irak, in Afghanistan,  in Israel und dem Libanon, der anhaltenden Auseinandersetzung über Irans Nuklearprogramm, der Bedrohung durch einen radikalen Islam sowie der Fragen nach der Demokratisierung des Nahen Ostens und der Zukunft der dortigen Regime ist es der Mühe wert, die grundlegende Herangehensweise der Bush-Regierung neu zu bewerten.

Strategie, Bedrohungen, Fähigkeiten

Die Gesamtstrategie beruht, erstens, auf der Erkenntnis der tödlichen Bedrohung, der die USA – und ein Großteil der westlichen Welt – seit dem 11. September 2001 ausgesetzt sind. In Politikdebatten besteht die große Neigung, diese Realität zu übersehen; doch das macht die Gefahr nicht weniger real. Amerikas überparteiliche 9/11-Kommission schrieb in ihrem Report: „Die katastrophale Bedrohung der Gegenwart … [ist] islamistischer Terrorismus.“ Man muss die von radikalen Islamisten gestellte Herausforderung ernst nehmen und darf die Ideen und die Rhetorik ihrer Führer nicht als Belanglosigkeit abtun, nur weil die von ihnen vertretenen Ansichten oft undurchführbar, nihilistisch, irrational oder wahnhaft sind. Wie der Sozialwissenschaftler Robert Merton schon vor langer Zeit festgestellt hat, sind Dinge, die von Menschen als real wahrgenommen werden, auch in ihren Konsequenzen real. In diesem Sinne sind Selbstmordanschläge – nicht nur jene vom 11. September, sondern auch die, die im Nahen Osten, in Asien, in London und Madrid stattfanden sowie der erst vor kurzem in London vereitelte Plan, Flugzeuge in die Luft zu sprengen – ein zwingender Beweis, dass es nicht wenige Individuen und Gruppen gibt, die bereit sind, diese fanatischen Ideen in die Tat umzusetzen.

Und auch wenn es mehr eine Frage der Geisteshaltung als des praktischen Handelns ist, gibt es zahllose Menschen mit zutiefst irrationalen Ansichten. Zum Beispiel ergab eine im Juni 2006 von Pew durchgeführte Meinungsumfrage in sechs muslimischen Ländern sowie unter Muslimen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien, dass in keinem der Länder eine Mehrheit der Befragten glaubt, dass Araber die Anschläge des 11. September ausgeführt haben.

Die wesentlichen Gründe für die islamistische Bedrohung liegen nicht in unmittelbaren und konkreten Missständen, wie etwa einer Besatzung. Der Hass gegen Amerika und den Westen hat tiefere Wurzeln. Er ist eine individuelle und gesellschaftliche Reaktion auf die mit der Moderne und der Globalisierung einhergehenden Umbrüche, auf die Erniedrigung und auf das Versagen bestimmter arabischer und muslimischer Gesellschaften. Der Historiker Jeffrey Herf hat diese Doktrin der Ablehnung als „reaktionären Modernismus“ beschrieben, dessen Anhänger zwar moderne Technologie nutzen, aber die Ideen der Aufklärung sowie die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundregeln des westlichen Liberalismus ablehnen. Ähnlich hat Josef Joffe das Phänomen der „nihilistischen Utopien“ charakterisiert, während Anna Simmons von einer nativistischen Reaktion auf die Verwestlichung sowie gegen jene Muslime spricht, die bereit sind, sich ihr anzupassen.

Darüber hinaus besteht äußerste Gefahr durch die Proliferation von Nuklearwaffen an einen Staat, der im Extremfall bereit ist, sie einzusetzen oder sie – sei es durch eine Sicherheitslücke oder willentlich – an eine Terrororganisation weiterzureichen. Dieses Risiko wurde zeitweise in den Hintergrund gedrängt durch die Reaktionen auf das Versagen der Geheimdienste bei Saddams Nuklearprogramm. Doch die von radikalem Islamismus, Terrorismus und Massenvernichtungswaffen ausgehenden Gefahren sind keine abstruse Phantasie oder überspitzte Rhetorik. Osama Bin Laden hat die Beschaffung von Atomwaffen als „heilige Pflicht“ beschrieben und die Ermordung von vier Millionen Amerikanern durch Al-Qaida als gerechtfertigt bezeichnet. Richard Lugar, der politisch gemäßigte Vorsitzende des Ausschusses für internationale Beziehungen im US-Senat, bat kürzlich internationale Proliferationsexperten um eine Einschätzung der von Massenvernichtungswaffen ausgehenden Gefahr. Im Juli 2005 berichtete sein Ausschuss, die Befragten hätten die Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten zehn Jahren irgendwo auf Welt Nuklearwaffen eingesetzt werden, im Durchschnitt mit 29 Prozent beziffert. Die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs mit Massenvernichtungswaffen veranschlagten sie im Durchschnitt mit 70 Prozent. Dazu kommt noch der iranische Präsident Achmadinedschad, der dazu aufgerufen hat, Israel von der Landkarte zu tilgen, der den Holocaust und die Anschläge vom 11. September in Frage stellt und die Rückkehr des verborgenen zwölften Imams herbeisehnt, also eine religiöse Vorstellung mit apokalyptischen Konnotationen hegt.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass – unabhängig von konkreten Missständen in bestimmten Regionen – der primäre Ursprung der radikalislamistischen Gefahr nicht die US-Politik im Irak oder das Nichtvorhandensein eines palästinensischen Staates ist. Diese Themen sind zwar bedeutsam, doch auch nach ihrer Lösung bestünde die existenzielle Gefahr weiter, die sich aus der Kombination einer radikalen Ideologie mit Terrorismus und dem potenziellen Einsatz von Massenvernichtungswaffen ergibt.

Ein zweites Problem sind die begrenzten Fähigkeiten internationaler Institutionen. Sie können zwar eine wichtige Rolle spielen bei Peacekeeping-Operationen und in anderen Bereichen wie der Eindämmung des Handels mit nuklearen Technologien und Materialien. Sie können auch symbolische Legitimität für bestimmte Aktionen liefern, was ein wichtiger innenpolitischer Faktor sein kann. Doch in schwierigen Fällen sind die UN und die meisten regionalen Organisationen oft nur von begrenztem Nutzen. Zeitweise spielen sie eine äußerst mangelhafte Rolle, wie die Beispiele Ruanda, Srebrenica, Darfur sowie die UNIFIL-Mission im Libanon gezeigt haben. Diese erwies sich von September 2004 bis Juli 2006 als unfähig, die UN-Sicherheitsratsresolution 1559 durchzusetzen, die verlangt, dass die libanesische Regierung wieder die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet ausübt und die Hisbollah aufgelöst und entwaffnet wird. Internationale Kooperation ist aus außen- wie innenpolitischen Gründen erstrebenswert – aber in dringenden Fällen, besonders bei einer akuten Bedrohung, darf das Beharren auf „Multilateralismus“ nicht zu Handlungsunfähigkeit führen.

Ein dritter wichtiger Aspekt ist die einzigartige Rolle, die Amerika dank seiner außergewöhnlichen Machtfülle zukommt – nicht nur im Umgang mit Bedrohungen, sondern auch als weltweit führender Produzent von öffentlichen Gütern. Denn wenn Washington nicht die Führung übernimmt oder durch sein Mitwirken als Katalysator fungiert, hat dies oftmals Untätigkeit zur Folge. Es ist nicht überraschend, dass diese Rolle im Verbund mit Amerikas Größe und Macht zu subtilen oder weniger subtilen Ressentiments führt. Einige lassen sich durch geschickte Diplomatie und kluge Politik abbauen, jedoch nicht alle.

Politische Prioritäten

Diese Umstände haben natürlich die Entwicklung der Bush-Doktrin und die amerikanische Politik im Nahen Osten fundamental beeinflusst. Die wichtigsten Komponenten der Doktrin – Prävention, Erhalt und Ausbau der eigenen Vormachtstellung, Multilateralismus und Demokratisierung – sind auch in der Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 sowie der überarbeiteten Version vom März 2006 zu finden. Die Sorge über Proliferation und Terroristen mit Nuklearwaffen war der Grund für die Bereitschaft, präemptiven oder sogar präventiven Einsatz von Gewalt in Erwägung zu ziehen. Kritiker in den USA und im Ausland haben dies zu einer maßlosen Doktrin des Angriffskriegs aufgebauscht, doch sie können nur auf einen relevanten Fall verweisen, der kontrovers (und zugegebenermaßen auch sehr wichtig) ist, nämlich den Irak-Krieg. Afghanistan hat die Prüfung als gerechter Krieg bestanden, und zwar auch bei jenen, die eine Autorisierung durch die UN als Conditio sine qua non betrachten, denn der Afghanistan-Krieg fällt unter die Bestimmungen von Artikel 51 der UN-Charta (individuelle und kollektive Selbstverteidigung). Ironischerweise haben die menschlichen, materiellen und politischen Kosten des Irak-Kriegs zusammen mit dem Versagen der Geheimdienste bewirkt, dass beim nächsten größeren Fall von Präemption oder Prävention strengere Maßstäbe bei der Bewertung der Unmittelbarkeit, der Gefährlichkeit und der Eintrittswahrscheinlichkeit der Bedrohung angelegt werden müssen.

Der Erhalt und Ausbau der eigenen Vormachtstellung bleibt eine zentrale Komponente der US-Strategie, insbesondere angesichts des gegenwärtigen Bedrohungsgefühls. Multilateralismus wiederum hat an Bedeutung gewonnen, weil amerikanische Truppen noch immer stark im Irak gebunden sind und weil sich andere Themen und Konflikte (Proliferation, Afghanistan, Terrorismus) für eine multilaterale Vorgehensweise eignen. Die aktualisierte Fassung der Nationalen Sicherheitsstrategie vom März 2006 widmet dem Multilateralismus größere Aufmerksamkeit, aber die Unterschiede zur ursprünglichen Version vom September 2002 sind weniger umfassend als oft dargestellt. Die am 12. August 2006 einstimmig verabschiedete Sicherheitsratsresolution 1701 zum Krieg zwischen Israel und der Hisbollah zeigt, dass die Vereinten Nationen zeitweise ein Forum für Peacekeeping und multilaterales Handeln sein können. Das ändert jedoch nichts an den Schwierigkeiten bei der langfristigen Durchsetzung der Resolution, denn die bleiben riesig, vor allem die Durchsetzung der libanesischen Souveränität, die Entwaffnung der Hisbollah und die Beendigung der Einmischung von Syrien und Iran.

Die Bush-Regierung beschrieb die eigentliche Gefahr sehr klar. „Das ist der Anfang eines langen Kampfes gegen eine Ideologie, die real und tief verwurzelt ist: den Islamofaschismus“, sagte Präsident Bush über die Libanon-Krise. „Er tritt in verschiedenen Ausprägungen auf, aber alle verfolgen die gleiche Taktik, nämlich die Zerstörung von Menschen und Dingen. Das Ziel ist, Chaos zu erzeugen in der Hoffnung, dass sich ihre Weltanschauung dann im Nahen Osten durchsetzen wird.“1 Diese Aussage spiegelt die Wahrnehmung wider, dass es im Kern nicht um das Thema Besatzung, sondern um eine viel fundamentalere und existenzielle Gefahr geht. Israel hatte sich beispielsweise im Jahr 2000 vollständig aus dem Südlibanon zurückgezogen – eine Tatsache, die damals auch von den Vereinten Nationen bestätigt wurde, die damit gleichzeitig die internationale Grenze demarkierten. Und auch der islamistische Hass auf die USA und den Westen geht im Kern über konkrete politische Fragen hinaus. Deshalb existiert eine langfristige Bedrohung, für die es keinen Separatfrieden geben kann, auch wenn einige, etwa in Europa, sich vielleicht wünschen, es wäre anders.

Demokratisierung ist ein besonders komplexer Praxistest. Die regionalen Hindernisse sind schwer zu handhaben, es können problematische Entscheidungen bei ihrer Umsetzung auftreten. Ohne stabile Institutionen, Rechtsstaatlichkeit und die Anerkennung von Minderheitenrechten haben die Wahlen in den palästinensischen Gebieten, im Irak und im Libanon nicht in dem Maß zur Stabilisierung beigetragen, wie es sich die US-Regierung erhofft hatte. Darüber hinaus widerspricht die Existenz von unabhängigen bewaffneten Milizen außerhalb der Kontrolle der Zentralregierung nicht nur Max Webers Diktum von 1918 über die Kriterien für rechtmäßige politische Herrschaft, sondern führt auch fast unausweichlich zu Instabilität nach den Wahlen.

Es geht nicht um Israel

Einige Journalisten und ein paar prominente akademische „Realisten“ haben kürzlich den Versuch unternommen, Terrorismus und den Irak-Krieg mit Amerikas Unterstützung für Israel in Zusammenhang zu bringen oder sogar die Theorie einer neokonservativen Verschwörung in die Welt zu setzen, die eine proisraelische (und überwiegend jüdische) Clique in Washington als maßgebliche treibende Kraft hinter der Entscheidung für den Irak-Krieg sieht. Doch diese Behauptung bietet weder eine Basis für eine angemessene Analyse der amerikanischen Politik im Nahen Osten, noch kann sie die Quellen des radikalen Islams oder die Entscheidung der Bush-Regierung für den Irak-Krieg erklären.

Die Bewegung Bin Ladens und andere dschihadistische Gruppen sind beispielsweise aus Wurzeln entstanden, die wenig mit den Problemen der Palästinenser zu tun haben. Bin Ladens Fatwa aus dem Jahr 1998 etwa thematisierte vor allem die amerikanische Truppenpräsenz in Saudi-Arabien und die Unterdrückung des Irak, und sein Video vom Oktober 2001 beklagte die schon 80 Jahre andauernde „Erniedrigung“ und „Degeneration“ der Muslime durch den Westen.2

Koryphäen auf diesem Gebiet wie die Islamwissenschaftler Bernard Lewis und Fouad Ajami3 haben auf den nun schon vier Jahrhunderte andauernden Niedergang der arabischen Welt und das dadurch hervorgerufene Gefühl der Erniedrigung verwiesen. Sie und andere Autoren beschreiben die Frustration jener, die sich einer Welt entfremdet haben und in einer anderen nicht akzeptiert werden. Al-Qaida hat sich eben nicht als Reaktion auf die arabisch-israelischen Kriege von 1948, 1956, 1967 oder 1973 gebildet, sondern sie entstand während des Krieges in Afghanistan gegen die Sowjets, und zwar zu einer Zeit, als der israelisch-palästinensische Friedensprozess Fortschritte zu machen schien. Olivier Roy schrieb: „Al-Qaidas Kämpfer waren globale Dschihadisten, de-ren bevorzugtes Schlachtfeld außerhalb des Nahen Ostens lag, nämlich in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien und Kaschmir. Für sie ist einfach jeder Konflikt Teil des westlichen Übergriffs auf die muslimische Ummah.“4 Osama Bin Laden hat aus opportunistischen Gründen Israel auf die Liste der zu bekämpfenden Gegner gesetzt, doch der jüdische Staat hatte immer eine geringere Priorität als der „Kopf der Schlange“, die USA.

Im Fall Irak gibt es keinen Zweifel, dass – unabhängig vom endgültigen Urteil der Geschichte über die Klugheit des Krieges – die wichtigsten Entscheidungsträger, also Donald Rumsfeld, Dick Cheney, Condoleezza Rice, Colin Powell, Präsident Bush und der britische Premier Tony Blair die Entscheidung zum Krieg auf der Basis ihrer eigenen Einschätzung der strategischen, außenpolitischen und nationalen Interessen getroffen haben, und nicht auf Geheiß von Israel oder der Israel-Lobby. Tatsächlich war die israelische Führung zunächst zurückhaltend und hat den Einsatz von Gewalt erst unterstützt, als die Bush-Regierung ihre eigenen Absichten zu erkennen gegeben hatte.

Amerikas langes und enges Verhältnis zu Israel rührt aus einem historischen Gefühl von Identität und Verwandtschaft. Meinungsumfragen zeigen, dass die Amerikaner gegenüber Israel ziemlich freundschaftliche Gefühle hegen: Das Land liegt auf Rang drei hinter Großbritannien und Kanada (und ein gutes Stück vor Mexiko, Indien, Russland, Frankreich, China, Saudi-Arabien und anderen).5 Eine Umfrage von Pew im Mai 2006 ergab, dass 48 Prozent der Amerikaner mehr mit Israel und nur 13 Prozent mehr mit den Palästinensern sympathisieren, und laut einer Gallup-Befragung von Ende Juli 2006 sahen 80 Prozent der Amerikaner Israels Einsatz von Gewalt im Libanon als gerechtfertigt an.6

Eine dauerhafte und friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts wäre zu begrüßen, doch viele wohlmeinende Beobachter, vor allem in Europa, erwecken den Eindruck, dass für ein erfolgreiches Friedensabkommen nur ein wenig Druck der USA auf Israel nötig wäre. Das ist nicht nur eine Fehldeutung der modernen Geschichte – schließlich haben palästinensische Führer 1947, 1967, 1979 und 2000 Chancen vertan, die ihnen letztlich die Gründung eines eigenen Staates ermöglicht hätten –, sondern sie ignoriert auch die Kernziele der Hamas und anderer wichtiger Teile der palästinensischen Führung und Öffentlichkeit, die immer noch auf einem palästinensischen Staat anstelle Israels und nicht an der Seite Israels beharren. Die Worte des stellvertretenden Leiters des Politbüros der Hamas vermitteln eine eindeutige Botschaft: „Eines der Gründungsprinzi-pien der Hamas ist die Nichtanerkennung Israels … Das Volk hat uns wegen dieses Prinzips gewählt. Deshalb steht eine Anerkennung Israels definitiv nicht zur Debatte, solange es sich nicht aus allen palästinensischen Gebieten zurückgezogen hat, nicht nur bis auf die Grenzen von 1967.“7

Ein dauerhafter Friede wird in absehbarer Zeit nur schwer zu erreichen sein. Falls der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst werden sollte, würde ein Teil des Hasses auf die USA (wegen ihrer Unterstützung Israels) nachlassen. Dennoch bliebe ein Großteil der Ursachen des Dschihadismus bestehen. Josef Joffe hat an anderer Stelle bemerkt, dass sogar in einer „Welt ohne Israel“ die Rivalitäten zwischen arabischen und muslimischen Staaten, die Konflikte zwischen verschiedenen religiösen Strömungen (nicht nur zwischen Sunniten und Schiiten, sondern auch zwischen Wahabiten, Kopten, Alawiten und anderen), die ideologischen Grabenkämpfe, die Verlockung reaktionärer antimoderner Utopien sowie intrinsische Probleme wie Despotismus, Frauenunterdrückung und die Ablehnung der Aufklärung bestehen blieben oder sich sogar verstärken würden.8

Bilanz

Knapp fünf Jahre nach dem 11. September ist das Ergebnis der amerikanischen Politik im Nahen Osten sowie der außenpolitischen Gesamtstrategie gemischt. Es gibt zweifellos Schwierigkeiten, aber nicht in dem Ausmaß, wie das einige scharfe Kritiker glauben machen wollen. Die deutlichsten Herausforderungen sind Irak und Iran. Im Fall Irak gab es ernsthafte politische Fehler, speziell nach dem Fall Bagdads. Das Ergebnis der Bemühungen ist ungewiss wegen der Schwierigkeiten beim Prozess des Wiederaufbaus und des Nationbuilding sowie des blutigen Aufstands und der ethnischen Konflikte. Folglich bleibt das amerikanische Militär im Irak stark gebunden, was größere Einsätze an anderen Orten der Welt unwahrscheinlich macht, es sei denn, es entstünde eine größere unmittelbare Bedrohung.

Im Iran wiederum stellt das Nuklearprogramm eine ernsthafte Gefahr dar, wobei höchst ungewiss ist, ob die Bemühungen des UN-Sicherheitsrats Erfolg haben werden. Das Regime von Achmadinedschad ist eine ernstzunehmende Bedrohung für die regionale Stabilität, da es Terroristen fördert und die Hisbollah finanziell und politisch unterstützt. Zudem kann die langfristige Stabilität des Nuklearwaffenstaats Pakistan nicht als gegeben betrachtet werden. In Afghanistan dauert der Kampf gegen die Überreste der Taliban und Al-Qaidas an, doch die beispiellose Entsendung von NATO-Truppen in den Süden Afghanistans demonstriert die gestiegene Wertschätzung der Kooperation mit Verbündeten. Demokratisierung und politische Stabilität im Nahen Osten bleiben flüchtig, und die Bedrohung durch radikale Islamisten hält unverändert an. Die öffentliche Meinung in vielen Ländern ist den USA gegenüber äußerst kritisch eingestellt – bis hin zu wilden Verschwörungstheorien.

Dem stehen allerdings auch bedeutende positive Leistungen gegenüber. Es hat eine umfassende internationale Kooperation der Geheimdienste bei der Terrorismusbekämpfung stattgefunden, und zwar nicht nur zwischen westlichen Alliierten, sondern auch in einem größeren Rahmen mit wichtigen Ländern des Nahen Ostens und Asiens. Auch wenn lokale Terrorgruppen weiter eine große Gefahr darstellen, scheint die Handlungsfähigkeit Al-Qaidas abgenommen zu haben. Saddam Husseins brutale  Herrschaft wurde beendet, und sowohl der Irak als auch Afghanistan haben heute demokratisch gewählte Regierungen, deren Politik weder ihre Nachbarländer bedroht noch aktiv internationale Terroristen unterstützt. Libyen hat sein umfangreiches Massenvernichtungsprogramm aufgegeben, der nukleare Schmugglerring von A. Q. Kahn in Pakistan wurde ausgehoben, und das internationale Bewusstsein für die Gefahren von Proliferation ist ebenso gestiegen wie die Bemühungen, die Verbreitung nuklearer Technologie und Waffentechnik einzudämmen. Islamisten haben in keinem weiteren wichtigen Land im Nahen Osten die Kontrolle übernommen; und die Regierungen wie die Öffentlichkeit in Europa werden sich der Gefahren des radikalen Islamismus in zunehmendem Maße bewusst.

Unabhängig von den Kontroversen über den Irak und Argumenten für oder gegen die Politik der Bush-Regierung werden die USA auch weiterhin eine einzigartige Rolle im Nahen Osten spielen. Die durch den radikalen Islamismus verursachten Gefahren, die sich am 11. September manifestiert haben, bleiben groß, und Amerikas europäische und asiatische Alliierte, aber auch viele andere Regierungen, haben erkannt, wie wichtig eine Kooperation mit den USA bei der Bewältigung dieser Herausforderungen ist. Die aktive Zusammenarbeit der USA mit Frankreich beim Thema Libanon beweist ebenso wie die konstruktive Arbeitsbeziehung mit der Koalitionsregierung von Kanzlerin Angela Merkel, dass die langjährigen Beziehungen weder am Irak-Krieg noch an anderen politischen Kontroversen zerbrochen sind. In Amerika unterstützt eine breite Mehrheit der Öffentlichkeit und der Eliten die grundlegende Ausrichtung des Krieges gegen den Terror, die Bemühungen bei der Proliferationskontrolle, die Hilfe für Israel sowie das aktive internationale Engagement ihres Landes. Es gibt Ausnahmen: So hat beispielsweise die Frage des Truppenabzugs aus dem Irak heftige politische Auseinandersetzungen ausgelöst. Und es gibt andere Probleme wie die wachsende Abhängigkeit von Ölimporten und die daraus resultierende wirtschaftliche und sicherheitspolitische Verwundbarkeit. Nichtsdestoweniger stehen die zentralen Elemente der amerikanischen Strategie im Nahen Osten auf einer logischen Grundlage und berücksichtigen sowohl die Bedrohungen, die von der Region ausgehen, als auch die einzigartige Rolle, die die USA weiterhin spielen werden.

ROBERT J. LIEBER, geb. 1941, ist Professor für Regierungslehre und Internationale Politik an der Georgetown University, Washington D.C. Zuletzt erschien von ihm „The American Era: Power and Strategy for the 21st Century“ (2005).

  • 1Transkript einer Pressekonferenz von George W. Bush und Condoleezza Rice, 7.8.2006.
  • 2Bin Laden: Hypocrisy rears its ugly head (Transkript der am 7.10.2001 auf Al-Dschasira ausgestrahlten Videobotschaft Bin Ladens), Washington Post, 8.10.2001.
  • 3Bernard Lewis: What went wrong? Western impact and Middle Eastern response, New York 2002; Fouad Ajami: The Foreigners’ Gift: The Americans, the Arabs, and the Iraqis in Iraq, New York 2006.
  • 4Olivier Roy: Why do they hate us? Not because of Iraq, New York Times, 22.7.2005.
  • 5Americans Prefer Russia to France, Poll Shows, Associated Press, 13.3.2005.
  • 6Umfrageergebnisse zitiert nach The Economist, 5.8.2006.
  • 7Hamas-Stellvertreter Marzouk: Non-Recognition of Israel a Hamas Founding Principle, MEMRI Special Dispatch Series, Nr. 1158, 9.5.2006, www.memri.org/bin/opener_latest.cgi?ID=SD115806.
  • 8Josef Joffe: A World Without Israel, Foreign Policy, Januar/Februar 2005.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2006, S. 91‑97

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