IP

27. Apr. 2018

Die Suche nach der Macht des Guten

Wo bleibt der leidenschaftliche Streit zwischen Frankreich und Deutschland?

Gegen viel Widerstand auf allen Seiten hat der französische Präsident Emmanuel Macron Deutschland zu Frankreichs Schicksalspartner erkoren. Doch seinen Worten sind bislang keine Taten gefolgt, auch nicht in Berlin. Höchste Zeit, sich an der Bastille und im Prenzlauer Berg den Kopf zu zerbrechen, wie man gemeinsam Europa voranbringt.

Der deutsch-französische Stimmungswandel ist brüsk. Gerade kehrt der Frühling in Paris und Berlin ein, im Prenzlauer Berg und an der Bastille zieht es die Bürger raus auf die Café-Terrassen, hohe Staatsbeamte und Diplomaten sitzen unter ihnen, warme Gedanken füreinander könnten gedeihen und mit ihnen die große Europa-Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron vom vergangenen Herbst an der Pariser Sorbonne endlich zu neuen gemeinsamen Taten führen.

Doch das Gegenteil scheint der Fall. Bitterkeit und Agonie kehren offenbar zurück. Die Eliten beider Hauptstädte blicken zurück auf ein Jahr hochschweifender gemeinsamer Pläne und Erklärungen und stellen mal ernüchtert, mal schadenfroh fest: Es passiert ja doch nichts. Schon haben die Nörgler wieder Oberwasser: Hab’ ich es euch nicht gesagt? Auf Paris ist kein Verlass. Oder: Je vous disais toujours, que l’Allemagne ne bougera jamais. Sowieso redet man in Paris und Berlin lieber über die vielen neuen Feinde – Wladimir Putin, Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan und Xi Jinping – als über den alten, verbliebenen Verbündeten. Der Reflex, den diese vier Schurken eigentlich auslösen müssten, nämlich die Stärkung der eigenen und dann zunächst deutsch-französischen Reihen, ist kaum zu spüren.

Rückkehr der Lethargie

Nichts spiegelt die Rückkehr der deutsch-französischen Lethargie so sehr wie die Reaktionen beider Seiten auf den Vorschlag Macrons, den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von 1963 zu erneuern. Der Vertrag bildet die historische, zwischenstaatliche Basis für die Aussöhnung Frankreichs und Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Er ist ein Meisterwerk zweier großer Politiker, nämlich von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Wer also möchte ihr Erbe heute neu formulieren? Wer kann deutsche Soft Power und französische Atom-Power versöhnen? Wer schmiedet deutsches Zivilmachtdenken und französisches Militärmachtdenken zu einer harten europäischen Allianz gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts?

Darüber sprach ich im April mit Pascal Bruckner im Café de la Poste im alten Pariser Marais-Viertel. Bruckner zählt zu Frankreichs längst gealterten „neuen Philosophen“, er ist einer der meistübersetzten französischen Schriftsteller in der Welt. Trotzdem ist er sich nie zu schade für eine öffentliche Polemik. Also schlug ich ihm vor, einen neuen Élysée-Vertrag zu schreiben. So heißt der Vertrag weniger umständlich in Frankreich. Bruckner lachte, er kenne ja Deutschland kaum. Unwesentlich, antwortete ich, da niemand sonst die öffentliche Debatte vernehmbar führe und man sie mit gesundem Menschenverstand erst einmal anstoßen müsste. Bruckner wand sich. Er hatte sich in unserem Gespräch gerade „voll und ganz“ zu Macron bekannt und ahnte wohl, dass er seinem Präsidenten tatsächlich helfen könnte, wenn er den Faden seiner Sorbonne-Rede aufnehmen und für einen neuen Vertrag mit den Deutschen einspringen würde. Doch Pariser Großintellektuelle wie Bruckner sind eitel und egozentrisch, sie lassen sich keine Themen diktieren. Dass Bruckner meinen Vorschlag nicht gleich ablehnte und sich die Sache noch einmal überlegen wollte, war also schon ein großer Erfolg.

An einem Punkt war Bruckner allerdings sehr klar: Feinde machen Bündnisse, sagte er und nannte die Namen von Trump, Putin und Erdogan, die Macron und seine deutsche Partnerin, Bundeskanzlerin Angela Merkel, zum echten Zusammenhalt zwingen müssten. Frankreichs neue Philosophen hatten schon immer die Neigung, das große außenpolitische Feld mit simplen moralischen Botschaften zu durchpflügen. Im Kalten Krieg wehrten sie sich mit scharfer Rhetorik gegen die deutsche Ostpolitik. Von wegen Wandel durch Handel, wie Willy Brandt damals insinuierte – für Bruckner und seine berühmtesten Mitstreiter, André Glucksmann und Henri Bernard-Lévy, ging es damals darum, der „Macht des Bösen“ in Gestalt der Sowjetunion zu widerstehen. Jede Aufrüstung des Westens war ihnen recht. Sie schlugen sich konsequent auf die Seite der östlichen Dissidenten, von Lech Walesa bis Václav Havel.

„Mut und Menschlichkeit“

Ein bisschen hat es ihnen Macron im vergangenen Jahr nachgemacht, allerdings mit einem Dreh – indem er nämlich Deutschland angesichts der neuen Weltunordnung kurzerhand zur Macht des Guten erklärte. Man erinnere sich an seinen Auftritt in der Berliner Humboldt-Universität am 10. Januar 2017: „Ich habe das schon gesagt, aber ich wiederhole es hier: Die deutsche Gesellschaft ist der massiven Ankunft von Flüchtlingen mit bewundernswerter Klarheit, mit Mut und Menschlichkeit begegnet“, sagte Macron damals mitten im französischen Präsidentschaftswahlkampf.

Spätestens seit diesem Januar-Tag galt Macrons Versprechen vom guten Deutschland. Er wiederholte es in jeder Wahlkampfrede. Ohne die „deutschen Freunde“ stand er auf keinem Rednerpult. Auch gab es für den Wahlkämpfer Macron nie andere Freunde, etwa Italiener oder Spanier, die genau so ­wichtig gewesen wären. Nein, die Guten an seiner Seite waren allen anderen voran „les amis allemands“.

Das sprach sich herum. Ein neuer deutsch-französischer Schub in der EU schien möglich. Macrons Wahlsieg rückte näher, und als der Neugewählte schließlich sein Amt antrat und mehr denn je die Berliner Kanzlerin hofierte, erschien das deutsch-französische Paar im vergangenen Sommer bei seinem Gipfeltreffen am 13. Juli in Paris fast schon den Großen dieser Welt ebenbürtig.

Die Bundestagswahlen im Herbst 2017 taten dieser leicht euphorischen öffentlichen Wahrnehmung auf beiden Seiten des Rheins kaum Abbruch. Im Gegenteil: Der objektive Tatbestand, dass Deutschland nach den Wahlen monatelang nur über eine geschäftsführende Regierung verfügte, erklärte bestens, warum auf Macrons Europa-­Rede an der Sorbonne, die sich den deutschen Wahlen anschloss und den deutsch-französischen Aufbruch noch einmal wie zum Greifen nahe erscheinen ließ, dann doch keine Taten folgen konnten. Macron wartete ja nur auf Merkel, deren viertes Mandat als Kanzlerin nie wirklich infrage stand. Im Frühling zu Ostern würden sie dann gemeinsam durchstarten.

Bis zur erneuten Vereidigung Merkels als Bundeskanzlerin am 14. März 2018 war also jede Hoffnung erlaubt. Doch seither scheint alle Euphorie rechts wie links des Rheins verflogen. Als wäre allen Beteiligten beim Morgenappell plötzlich klar geworden, dass sie ein Jahr lang nur geträumt hatten. Als gehe der Dienstbeginn der neuen Großen Koalition in Berlin mit der Einsicht einher, dass die Zeit der schönen Reden des französischen Präsidenten nun endgültig vorbei sei und man sich nun wieder dem harten Alltagsgeschäft widmen müsse. Mit anderen Worten: Schluss mit dem Gerede von einem großen Eurozonen-Haushalt!

Denken auf Sparflamme

Macron hatte im August 2017 einen Eurozonen-Haushalt von der Größe mehrerer Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone vorgeschlagen. Ein Prozent bedeutet dabei 130 Milliarden Euro. Beamte des Bundesfinanzministeriums, die ihren Namen nicht genannt haben wollten, sagten daraufhin gleich, mehr als 25 Milliarden seien für neue Maßnahmen der Eurozone nicht drin. Diesem Denken auf Sparflamme schließt sich seit seiner Amtsübernahme offenbar auch der neue deutsche Finanzminister Olaf Scholz an. Schon hat Macron seine Erwartungen weit zurückgeschraubt: „Einige Jahre“ werden bis zur Auslegung eines neuen Eurozonen-Haushalts noch vergehen, verlautete aus Kreisen des französischen Präsidenten nach Merkels Antrittsbesuch im Élysée Ende März.

Der lange Winter, der im weitgehend regierungslosen Berlin auch ein politischer Winter war, hat offenbar doch an den deutsch-französischen Kräften gezehrt. Die Feinde ruhten ja nicht. Trump eröffnete seinen Handelskrieg. Putin und Erdogan spielten ihr syrisches Spiel weiter. Xi ließ sich zum Präsidenten auf Lebenszeit küren. Und Paris und Berlin setzten keine eigene Agenda dagegen. Das rief die Zweifler auf den Plan.

Schon hört man aus dem Hôtel Matignon im siebten Pariser Bezirk, wo der Premierminister regiert, wieder das vertraute Gegenfeuer zum Deutschland-freundlichen Kurs des Präsidenten. Die Erinnerungen sind noch frisch, in der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 war das genauso. François Hollande, der damalige Herr im Élysée-Palast, stellte sich ohne Zögern hinter die Pläne Merkels, Deutschlands Grenzen für die Flüchtlinge auf der Balkan-Route zu öffnen. Doch sein Premierminister Manuel Valls revoltierte. Später besuchte Valls ein Flüchtlingslager in München, um seinen Protest gegen die deutsche Asylpolitik kundzutun. Eine einschlägige, für jeden EU-Bürger erkenntliche deutsch-französische Haltung in der Flüchtlingsfrage kam so nie zustande.

Das müsste im Frühling 2018 anders sein. Es ist auch noch nicht ausgeschlossen. Paris und Berlin wollen nun auf dem EU-Ratstreffen im Juni ein gemeinsames Konzept zur europäischen Flüchtlingspolitik vorlegen. Doch nach einem großen Wurf sieht es bisher nicht aus.

Scholz’ erster Auftritt als deutscher Finanzminister im siebten Stock des Pariser Finanzministeriums – mit Blick auf die Seine und die Kathedrale ­Notre-Dame – war eine Demütigung für das französische Gemüt. Vor weiteren Entscheidungen, kündigte Scholz an, müssten erst Expertengruppen tagen und die Hausaufgaben für die Minister erledigen. Dabei sprach er von der schon 2014 eingeführten Europäischen Bankenunion, deren Vollendung durch eine gemeinsame europäische Einlagensicherung von französischer Seite seit Jahren als nächstgelegenes Mindestziel für die weitere Integration der Eurozone betrachtet wird.

Das klingt dann in Frankreich so, als sei das Thema längst erledigt. Ganz anders Scholz. Der ritt darauf herum, als verhandele man nicht schon seit 2009 darüber und als müsse der neue Bundesfinanzminister nun alles ­Wesentliche nachholen. Zum Abschluss einer länglichen Pressekonferenz mit seinem Amtskollegen Bruno Le Maire stellte eine französische Journalistin, der die Botschaft des deutschen Finanzministers offenbar nicht klar geworden war, sinngemäß die Frage, ob er, der deutsche Sozialdemokrat, denn trotzdem der Mann sei, der im deutschen Regierungskabinett für eine weitere Integration der Eurozone stehe. Scholz antwortete mit einem Wort: „Ja!“ Aber das nahm ihm zu diesem Zeitpunkt schon kaum ein Anwesender mehr ab. Sonst hätte es ja der Frage nicht bedurft.

Oberwasser für die Deutschland-Skeptiker

Umso stärker sind nach solchen verpatzten Auftritten die Deutschland-Skeptiker in Paris. Macron hatte sie ein Jahr lang mundtot gemacht. Er hatte im Élysée-Palast nur ausgesprochene Deutschland-Freunde installiert. Allen voran Philippe Etienne, der ehemalige französische Botschafter in Berlin – ihn machte Macron zu seinem G7- und G20-Sherpa und damit wichtigsten Koordinator seiner Außenpolitik. So war klar, dass Paris jeden außenpolitischen Schritt eng mit Berlin abstimmen wollte. Etienne und um ihn herum andere Berater Macrons sprechen fließend deutsch – ein Novum, das keiner diplomatischen Erklärung bedurfte.

Auch Macrons Premierminister Edouard Philippe spricht gutes Deutsch, aber er stammt aus der politischen Schule von Alain Juppé, der bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen als Gegner Macrons antreten wollte, auch wenn er dann die Vorwahlen seiner konservativen Partei verlor und vorzeitig ausschied. Juppé gilt zwar als mustergültiger Europäer, ist aber durch und durch Südfranzose und ein Mann, dem Deutschland fremd geblieben ist. Viele von Juppés ehemaligen Mitarbeitern finden sich heute in Philippes Beraterkreis im Hôtel Matignon. Dass sich an dieser Stelle Widerstand gegen einen scheinbar naiv Berlin-freundlichen Präsidenten zusammenbraute, konnte niemanden verwundern.

Auch Macrons Außenminister Jean-Yves Le Drian dürfte Widerspruch gegen Macrons Deutschland-Politik dulden. Von ihm erzählt man sich in Paris Geschichten, denen zufolge er in seiner Heimatprovinz, der Bretagne, gerne mal gegen die Deutschen austeilt. Als er im Herbst 2016 im Wirbel der Brexit-Folgen in seiner damaligen Funktion als Verteidigungsminister mit seiner deutschen Kollegin Ursula von der Leyen eine Verstärkung der deutsch-französischen Verteidigungskooperation vereinbarte, wollten ihm das viele Pariser Militärexperten nicht so richtig glauben. Denn zuvor hatte er auf Heimatbesuch in der Bretagne seiner Überzeugung Luft gemacht, dass Frankreichs militärische Übermacht gegenüber Deutschland eigentlich ein Segen sei und sich daran besser nichts ändere.

Wahrscheinlich ist also Le Drian insgeheim ein Deutschland-Nörgler – so wie vermutlich Scholz ein Frankreich-Nörgler ist, verglichen mit den bekennenden Macron-Fans Sigmar Gabriel und Martin Schulz, die in der SPD heute nichts mehr zu sagen haben. Die Nörgler haben eine lange Tradition. Sie sind eine Macht. Sie stellten vor den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag des Jahres 1963 eine Präambel des Bundestags, die Deutschlands Bündnis mit den Vereinigten Staaten betont. Damit war der Vertrag totgeboren. Und wenig später verkündete de Gaulle einen Rückzug Frankreichs aus der NATO.

Heute fragt man sich, welche Präambel der Deutsche Bundestag einer neuen Version des Vertrags vorausschickt, die nach aktueller Planung im Januar 2019 von Präsident und Kanzlerin gezeichnet werden soll. Wird der Bundestag vielleicht auf Antrag von AfD und FDP festlegen, dass vor jeder Erhöhung des Eurozonen-Budgets in Zukunft die schwarze Null im deutschen Staatshaushalt stehen muss? Oder wird er auf Antrag von Grünen und Linken einwenden, dass Deutschland keine Verantwortung für zukünftige französische Atomwaffeneinsätze trägt?

Dichter, Politiker, Konzernchefs, übernehmen Sie!

Noch ist Zeit, das Blatt zu wenden. Höchste Zeit! Pascal Bruckner und Durs Grünbein, die sich mit Sicherheit gegenseitig lesen und schätzen, sollten gemeinsam einen neuen Élysée-Vertrag schreiben – und warum nicht als Gedicht? Sigmar Gabriel und François Hollande sollten als Polit-Rentner einen neuen Élysée-Vertrag schreiben – sie haben beide schon gemeinsam Griechenland vor dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble und seinem Ansinnen gerettet, das Land aus der Eurozone zu werfen. Aber auch die Konzernchefs Joe Kaeser von Siemens und Henry Poupart-Lafarge von Alstom sollten ihren Freundschaftsvertrag schreiben – sie verhandeln gerade die Fusion ihrer beiden Unternehmen und kämpfen trotzdem um die nächstliegenden Aufträge.

Letztlich geht es dabei um die Frage, ob es nach 1963, nach der deutschen Wiedervereinigung, nach der Finanzkrise 2008, nach dem Aufstieg Chinas und Putins russischer Renaissance, nach Brexit und Trump-Wahl nicht doch eine höhere deutsch-französische Vernunft gibt. Der Brite Gideon Rachman, Kolumnist der Financial Times, glaubt das wohl. Er sieht die EU als „den einzigen funktionierenden Mechanismus, um Lösungen für globale Probleme zu finden, die zugleich legal, menschlich und so gerecht wie möglich sind“.

Nichts anderem muss die deutsch-französische Freundschaft dienen. Wie am besten, darüber müssten sich die Eliten im Prenzlauer Berg und an der Bastille in diesem Frühling die Köpfe zerbrechen. Darüber müssten sie zwischen Paris und Berlin zanken und keilen. Dann könnten Emmanuel Macron und Angela Merkel bald die Früchte ernten. Es bedürfte dafür auf deutscher Seite aber wohl etwas mehr französischer Arroganz: Nämlich zu sagen, wir, Deutschland und Frankreich, sind die Macht des Guten. Viele Europäer würden es verstehen.

Georg Blume ist Frankreich-Korrespondent der ZEIT.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2018, S. 26 - 31

Teilen

Mehr von den Autoren