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01. März 2017

Am Ende gewinnt die Republik

Allem Aufruhr zum Trotz: Die französischen Institutionen sind stark

Greift Marine Le Pen nach der Macht? Mitnichten, auch wenn das in Deutschland oft so erscheint. Am Ende werden die Kindeskinder der Französischen Revolution ihren Staat und ihre Ideale zu verteidigen wissen. Die Deutschen sollten stärker auf den republikanischen Impuls der Nachbarn bauen – und bereit sein fürs nächste europäische Abenteuer.

Vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich hat es den Anschein, als hätten die deutschen Eliten ihr Vertrauen in die französische Kultur verloren. Als glaubten sie, nach Brexit und Trump gäbe es auch in der dritten großen westlichen Traditionsdemokratie kein Halten mehr. Als stünde ein Wahlsieg Marine Le Pens unmittelbar bevor.

Um so weit mit ihrem Frankreich-Pessimismus zu kommen, haben sie nicht selten Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ gelesen – das wunderbar sensible Buch eines schwulen 68ers, der, zum seriösen Soziologen gereift, beschreibt, wie seine eigene Arbeiterfamilie in Nordfrankreich früher kommunistisch war und heute rechtsextremistisch, also Le Pens Front National wählt. Eribon, der sein Buch 2009 verfasste, ist für viele deutsche Leser eine Entdeckung: „In Deutschland das intellektuelle Buch der Saison“, schrieb die taz.

Frankreich zugeneigte deutsche Leser Eribons erschrecken, wenn Le Pen ausgerechnet dort einbricht, wo sie Europas Arbeiterklasse noch am wehrhaftesten glaubten: im stets streikbereiten Frankreich. Manche mögen auch noch die Fortsetzungsgeschichte des Eribon-Werkes kennen. 2014 widmete der Jungschriftsteller Édouard Louis sein Romandebüt „Das Ende von Eddy“ ­Eribon. Darin dokumentiert er die rassistische, diskriminierende Alltagssprache im nordfranzösischen Arbeitermilieu. Eine Sprache, die wir in Deutschland nicht kennen und den Franzosen kaum zugetraut hätten. Also die nächste schreckliche Entdeckung! Sind unsere Nachbarn links des Rheins am Ende doch demokratisch unzuverlässiger als wir immer dachten?

Mehrere Generationen junger Deutscher schauten nach dem Krieg zu Frankreich auf, nicht zuletzt zur französischen Linken. Sie hatte den „Mai 68“ angezettelt und eine weltweite Protestbewegung in Gang gesetzt. Und sie hatte Resistance-Erfahrung. Gerade die deutschen 68er hatten gehörigen Respekt vor französischen Kommunisten und Sozialisten – erst recht, wenn sie ihre eigene Widerstandsgeschichte gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg erzählen konnten. Und das konnten nicht wenige. Heute aber klingt das ganz anders. Die französische Linke ist unter deutschen Intellektuellen verpönt. Sie hat die Globalisierung verschlafen, die nötigen Reformen verschleppt, sich mit der 35-Stunden-Woche auf die faule Haut gelegt. Der Zweite Weltkrieg ist keine Referenz mehr wert, oder wenn doch, dann mit einem Seitenhieb auf die französischen Kollaborateure. Kein Wunder also, dass Le Pen im Kommen ist.

Und doch muss die Berliner Republik keine Angst haben. Le Pen ist nicht im Kommen. Jedenfalls hat sie in diesem Jahr keine Chance, die Macht zu erobern. Das liegt daran, dass sich Frankreich und die Franzosen viel weniger verändert haben als wir. Im Guten wie im Schlechten. Was Eribon als persönliches Drama beschreibt, ist politisch bei genauem Hinsehen gar nicht so spektakulär. Schon seit dem frühen 19. Jahrhundert existiert im industriell geprägten Nordfrankreich eine große Widerstandsbereitschaft. Sie hat viele Ursachen: eine starke Arbeiterkultur, ein traditionell starkes Gerechtigkeitsempfinden. Immer wieder wurden hier wilde Revolten angezettelt – die Republik erschüttert haben sie nie.

Auch der Mai 1968 war im Wesentlichen ein nordfranzösisches Ereignis. Arbeiter und Intellektuelle verbündeten sich gegen die Republik Charles de Gaulles. Auch heute sieht es manchmal wieder so aus: Der Pariser Großintellektuelle Alain Finkielkraut leistet bei schlechter Laune den Ideen des FN Vorschub wie einst Jean-Paul Sartre den Ideen der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). „Wer die Geschichte Frankreichs globalisiert, der löst ihre Besonderheiten, ihre Identität, das ihr eigene Genie in einem großen Bad des Mischmasch, der Diversität und der Mobilität auf“, schreibt Finkielkraut, Mitglied der Französischen Akademie, in seiner Rezension einer jüngst erschienenen französischen Weltgeschichte des linken Sozialhistorikers Patrick Boucheron. Damit bedient er exakt den neuen Wahlkampfdiskurs von Le Pen, die die politische Landschaft in „Globalisierer“ und „Patrioten“ aufteilen will – ein bisschen wie früher die Kommunisten ihre Welt in Kapitalisten und Arbeiter zerlegten.

Ähnlich wie Finkielkraut segelt Frankreichs erfolgreichster politischer Autor der vergangenen Jahre, der Figaro-Kolumnist Éric Zemmour, im Windschatten Le Pens. Mit dem Bestseller „Der französische Selbstmord“ verfasste Zemmour einen Generalangriff auf den vermeintlich dekadenten, demokratischen Mainstream des Landes – und landet dieser Tage bei Donald Trump, dessen Kampf gegen die amerikanische Justiz er als „Kampf der so genannten Menschenrechte gegen den Willen der Nation“ definiert. Und sich wie selbstverständlich auf die Seite Trumps schlägt, wie es auch Le Pen derzeit bei jedem ihrer Auftritte tut.

Ein altes Spiel

Doch das ist ein altes französisches Spiel. Am Ende gewinnt immer die Republik. In den sechziger und siebziger Jahren stellte die KPF die europäische Einigung und Frankreichs Verankerung im Westen infrage. Sie gewann noch 1978 mit ihrem Programm 5,8 Millionen Stimmen. Der Front National, der heute aus der EU austreten will, brachte es bei seinem bislang größten Wahlerfolg im Dezember 2015 auf 6,8 Millionen Stimmen. Dabei erzielte er seine größten Erfolge in fast exakt den gleichen Regionen, in denen 1978 die KPF erfolgreich war. Aber ist deshalb ganz Frankreich auf der schiefen Bahn?

Im Gegenteil. Das Land ist viel stabiler, demokratischer und republikanischer, als es die aktuelle politische Konjunkturlage vermuten lässt. Das ergibt sich schon aus der Wechselwirkung zwischen Widerständischen und Regierenden. Frankreichs Politiker haben sich in den vergangenen Jahrzehnten eben nicht getraut, die Sozialleistungen des Staates einschneidend zu kürzen. Sie mussten mit ganz anderem Widerstand als in Deutschland rechnen. Das hat durchaus sein Gutes: Heute verdient die untere Hälfte der französischen Bevölkerung noch den gleichen 25-Prozent-Anteil am Volkseinkommen, den sie auch Anfang der Achtziger schon verdiente. In der gleichen Zeit ist dieser Anteil in den USA von über 20 Prozent auf heute 10 Prozent gefallen.

Frankreich besitzt aber weit mehr als nur materielle Dämme gegen die populistische Versuchung. Sein republikanisches Schulsystem, erschaffen vor 150 Jahren, hat radikaler Propaganda von rechts und links immer getrotzt. Das ist auch heute noch so: Le Pens ausländer- und europafeindliche Ansichten haben im französischen Klassenzimmer keinen Platz, auch keinen versteckten. Wer sich ihnen als Jugendlicher anschließt, muss innerlich mit dem Schulsystem brechen. Das machen viele, der FN hat viele Jungwähler, aber sie bleiben eine bildungslose Minderheit.

Letztlich geht es den Franzosen um ihre republikanische Ordnung samt ihrer Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ihre historischen Fortschritte von der Einführung des Wahlrechts über die Abschaffung der Todesstrafe bis zur Einführung des Euro haben die Franzosen an der Wahlurne, wenn es um die Macht und nicht irgendein Referendum ging, bisher nie infrage gestellt. Le Pen fordert einen Systemwechsel, wenn auch immer weniger radikal. Doch welcher Franzose ahnt nicht, dass sie ein Wolf ist, der Kreide frisst?

Wir Deutschen sollten also den Franzosen vertrauen. Wir sollten ihrer Geschichte vertrauen, ihren Grundwerten seit der Französischen Revolution, denen sie in der Vergangenheit oft treuer waren als wir. Was nicht heißt, dass sich nichts ändern muss: Die republikanische Schule muss weltoffener gestaltet, viele veraltete Gesetze überarbeitet werden, nicht zuletzt das undurchsichtige Arbeitsrecht. Doch das Land ist auf dem Weg in die richtige Richtung.

Ohne das Vertrauen ins demokratische Frankreich aber wird es auch den Deutschen nicht möglich sein, weiter konstruktiv an Europa zu arbeiten. Man stelle sich Frankreich mit einem neuen Präsidenten Emmanuel Macron vor, dem europabegeistertsten, den das Land je hatte – und die Deutschen abgewandt in ihrem Verdruss über ein Land, das sie den Populisten ausgeliefert glaubten. Le Pen hätte die Wahl, die sie nie gewinnen konnte, dann doch noch gewonnen.

Georg Blume ist Frankreich-Korrespondent der ZEIT.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 30-32

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