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01. Jan. 2017

Das große Durcheinander

Wer könnte im Frühjahr Marine Le Pen stoppen?

Mit Nicolas Sarkozy, Alain Juppé und François Hollande sind schon drei Präsidentschaftskandidaten aus dem Rennen, die Meinungsforscher vorn sahen oder mit denen Beobachter rechneten. Kann der blasse François Fillon den Durchmarsch der Rechtsradikalen verhindern? Oder ist Emmanuel Macron der Mann, der Frankreich aus der Depression reißt?

Wie einst Helmut Schmidt bei der ZEIT hat Gérard Courtois beim Pariser Weltblatt Le Monde das Recht, in der Redaktion zu rauchen. Dafür muss er die innenpolitischen Leitartikel der Zeitung schreiben, die nach alter Tradition noch immer ohne Autorennamen erscheinen. Meist tut er das am Vormittag (Le Monde erscheint in Paris bereits am Nachmittag) bei einer selbstgedrehten Zigarette. Kurz vor Mittag, wenn die letzten Artikel korrigiert werden, sein Leitartikel meist zuletzt, lädt er mich zuweilen zu dieser Stunde ein, dreht auch mir eine Zigarette und erklärt die französische Politik.

Das kann kaum einer so gut wie er: Seit 30 Jahren macht Courtois nichts anderes. Doch auf die einfache Frage, die derzeit praktisch die ganze EU bewegt – kann Marine Le Pen, die Chefin des rechtsextremistischen Front National (FN), Staatspräsidentin Frankreichs werden? –, gibt der gewiefte Leitartikler komplizierte Antworten und weicht aus. Lieber spricht er über das Wesen französischer Präsidenten. Wer in den Elysée einziehen will, muss ein Dickhäuter sein und unendlich viele Schläge einstecken können; der Machthunger muss praktisch unersättlich sein; und Präsidentschaftsanwärter müssen bereit sein, ihr ganzes Privatleben zu opfern und trotzdem einen Sinn für die Normalität bewahren.

Adieu, Alain Juppé

Den wenigsten gelingt das. Zum Beispiel war der ehemalige Premierminister Alain Juppé, der über zwei Jahre lang als großer Hoffnungsträger für die kommenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich galt, für Courtois immer nur ein Außenseiter. Juppé führte über Dutzende von Monaten sämtliche Umfragen an – doch Courtois wusste es immer besser. Juppé sei nicht von der Macht besessen, mochte Courtois dann philosophieren, es fehle ihm der absolute Wille. Prompt schied Juppé Ende November bei den Vorwahlen seiner konservativen Partei, den Republikanern, aus dem Rennen aus. Ein Grund dafür lag auf der Hand: Juppé war als Favorit in die Vorwahlen gegangen und hatte bei den drei Fernsehdebatten vor dem Urnengang nicht auf volles Risiko gespielt. Doch die Franzosen wollen keinen Kandidaten, der sich zurückhält; sie wollen einen, der alles gibt. Das hatte ich bei Courtois gelernt. Niemand außer ihm unter meinen Pariser Freunden und Bekannten hatte Juppés Niederlage so klar vorausgesehen.

Doch der Chefanalytiker von Le Monde lag in diesem Herbst zugleich auch falsch. Denn das gleichzeitige Aus von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy hatte Courtois nicht mit der gleichen Tiefenschärfe kommen sehen. Wie auch? Sarkozy hatte als ehemaliger Präsident ja schon bewiesen, dass er zu jenem seltenen Menschenschlag gehört, der das Zeug für den Elysée-Palast mitbringt: taktisch versiert, rhetorisch unschlagbar, zu jeder Gemeinheit bereit, zudem volksnah und jovial. Genauso trat Sarkozy auch in diesem Vorwahlkampf auf, und lange Zeit wollte Courtois ihn nicht auszählen. Doch am Ende verlor „Sarko“ noch höher als Juppé.

Ein ähnliches Bild auf der Linken: Zwar hatten die Umfragen Amtsinhaber François Hollande schon seit Monaten kaum noch Chancen auf eine Wiederwahl eingeräumt – in Sachen Beliebtheit setzte der Sozialist Negativrekorde. Doch Courtois wollte den Fuchs im Elysée nicht vorschnell aufgeben: Hollande war genau der Typ Politiker, dem die eigene Macht über alles ging. Nie hatte ein amtierender Präsident der V. Republik sich nicht erneut zur Wahl gestellt. Hatte Hollande an den Hebeln der Macht nicht noch eine Finte parat, um seine innerparteilichen Konkurrenten im entscheidenden Augenblick auflaufen zu lassen? So schien Courtois zu denken, jedenfalls bis in den Herbst hinein, an dessen Ende Hollande schlicht die Waffen streckte und nicht mehr kandidierte.

Mit Blick auf die Wahlen im April lassen Courtois’ Einschätzungen zwei Schlussfolgerungen zu. Erstens sucht Frankreich weiterhin nach einem unerbittlichen Machtmenschen, der alles, sich selbst aber keine Blöße gibt. Zweitens sind die etablierten Favoriten bereits ausgeschieden – und zwar nicht nur die der Umfragen, sondern auch die versierten Kenner der Materie. Folglich schrieb Courtois Anfang Dezember illusionslos in seiner Zeitung, dieses Mal in einer Kolumne mit Autorennennung: „Kluges Kerlchen, das vorausehen könnte, wer aus diesem Durcheinander als Sieger hervorgeht.“

Glaubhafter Vatermord

Das sind erst mal schlechte Nachrichten. Denn sie bedeuten, dass Marine Le Pen eine Chance hat. Je größer die Ungewissheit über ihre Gegenkandidaten, desto besser steht sie da.

Sie ist inzwischen eine Altbekannte. Niemand zweifelt, dass sie den nötigen, unbedingten Willen zur Macht mitbringt. Seit Jahren baut sie ihre Partei zu einer immer effektive­ren Wahlkampfmaschine aus, die jeden kleinen Schwenk ihrer Kandidatin eifrig registriert und durch soziale und etablierte Medien sofort in die Öffentlichkeit bringt.

Auf diesem Weg glückte ihr der glaubhafte politische Vatermord. Marine Le Pens Vorgänger an der FN-Spitze war bis 2011 ihr Vater Jean-Marie. Sie hat ihn in den vergangenen Jahren mit allen Mitteln bekämpft. Am Ende verbannte sie ihn praktisch aus der Partei, die der Bretone 1972 gegründet und 40 Jahre lang unangefochten geführt hatte.

Das war und ist bisher Marine Le Pens größter politischer Sieg. Er zählt viel. Schließlich kennt fast jeder Franzose ihren Vater nur zu gut. Viele haben ihn gehasst, andere verehrt, wenige geliebt. Aber niemanden ließ das Alpha-Tier Jean-Marie Le Pen gleichgültig. Es erledigt zu haben, macht Marine Le Pen selbst zum Alpha-Tier. Es zeugt davon, wie ernst ihr die Machtfrage ist. Sie war bereit, über die politische Leiche ihres Vaters zu gehen. Sie ist opfer- und risikobereit. Das bleibt beim Wähler hängen und kann ihre Glaubwürdigkeit im Wahlkampf nachhaltig stärken.

Wie sagte doch Courtois mir einmal? Um in Frankreich Präsident zu werden, muss der Kandidat in der Lage sein, eine persönliche Beziehung zum Wähler aufzubauen. Was bedeutet, dass der Wähler glaubt, ihn zu kennen und zu durchschauen. Marine Le Pen, unabhängig von ihrer politischen Haltung, hat das geschafft.

Unbekannter Bekannter

Über François Fillon aber lässt sich das nicht sagen. Der Überraschungskandidat der Republikaner ist heute der große Spitzenreiter im Rennen um die Präsidentschaft. Das liegt daran, dass seine Partei Les Républicains in allen Umfragen vorne liegt. Aber Mitte November, vor den Vorwahlen, hatte den Provinzpolitiker aus dem Département Sarthe nahe der Loire noch kaum jemand auf dem Zettel. Fillon musste sich bisher noch in keinem großen Wahlkampf beweisen; als Alpha-Tier ist er nicht bekannt. Das disqualifiziert ihn nicht. Aber Fillon muss höllisch aufpassen: Alle Augen in Frankreich sind jetzt auf ihn gerichtet. Ein Fehler reicht, um auf die abschüssige Bahn zu geraten – eben weil die Franzosen ihn noch nicht gut genug kennen und kein festes Bild von ihm haben.

Bisher macht der Kandidat allerdings einen grundsoliden Eindruck. Sein Sieg bei den Vorwahlen der Republikaner resultierte aus drei gelassenen, aber unmissverständlichen Auftritten bei den Fernsehdebatten. Das sprach für ihn. Allerdings profitierte er vom Hahnenkampf zwischen Juppé und Sarkozy, die sich gegenseitig so zerrupften, dass für den anständigen konservativen Parteigänger in der Provinz nur noch Fillon als passable Wahl blieb.

Überhaupt scheint Fillons Image sehr von seinen bescheidenen Wurzeln zu profitieren. Er war nie ein Überflieger, besuchte keine der großen Eliteschulen wie so viele andere Elysée-Anwärter, war sein Leben lang mit der gleichen Frau – einer Britin – verheiratet, die die fünf gemeinsamen Kinder großzog und heute passionierte Reiterin ist.

So wenig Glamour ist eine Ausnahme im glitzernden Pariser Politikbetrieb, der heute viele Wähler mehr abschreckt als anzieht. Doch auch Fillon muss im Glanzlicht der Hauptstadt bestehen. Fünf Jahre lang, von 2007 bis 2012, war er bereits Premierminister unter Sarkozy. In diesen Jahren verschaffte er sich ein Ansehen als redlicher Mitarbeiter, als ehrlicher Mann neben dem überdrehten Präsidenten. Aber präsidentiell war sein Auftreten nicht. Man vergaß damals oft, dass er überhaupt da war. Deshalb hatten ihn Juppé und Sarkozy bei den Vorwahlen so unterschätzt. Aber das alles macht aus Fillon noch keinen unschlagbaren Kandidaten.

Ein Duell Fillon–Le Pen?

Immerhin hat er die Meinungsforscher auf seiner Seite. Die rechnen heute fest mit einem Duell Fillon–Le Pen im zweiten Wahlgang, weil die Linke zu gespalten ist. Und Fillon hat nach Ansicht der Meinungsforscher genau dort seine Stärken, wo Le Pen, um zu gewinnen, ihre größten Stimmenzuwächse verzeichnen müsste: nämlich bei der ländlichen konservativ-katholischen Wählerschaft.

Le Pen habe ihr linkes Wählerpotenzial in der Arbeiterschaft und den unteren Mittelschichten bereits weitgehend ausgeschöpft, meint Jérôme Fourquet vom führenden Pariser Meinungsforschungsinstitut IFOP. Dagegen habe sie bei den jüngsten Regionalwahlen im ländlich-katholischen Milieu kräftig zugelegt. Wenn Fillon in der Lage sei, diese Zugewinne zu stoppen und wieder mehr Wähler aus der Provinz an die Republikaner zu binden, könne Le Pen nicht Präsidentin werden. So die klare Ansage des IFOP.

Auch bei Fourquet schaue ich immer mal wieder vorbei. Wie Courtois beobachtet er die französische Politik seit Jahrzehnten und ist stets sehr gewissenhaft. Sein Büro befindet sich in einem riesigen Neubaukomplex mit vielen Supermärkten an der Périphérique, dem Autobahngürtel um Paris. Fourquet ist ständig in den französischen Medien, gibt unermüdlich Auskunft über die wichtigsten Meinungstrends.

Umso mehr wundert es, wie klein sein Büro draußen vor den Toren von Paris hinter der Autobahn ist. Dabei stehen in seinem Büro all die vielen bunten, grafisch hübsch gestalteten Broschüren mit ausführlichen soziologisch begründeten Wahlanalysen, die seit Jahren den Aufstieg des Front National vorzeichnen beziehungsweise dokumentieren: Wie Le Pen die Arbeiterschichten erobert, wie sie die unteren Mittelschichten verführt, wie sie allmählich in die oberen Mittelschichten vordringt, wie sie geografisch neue Räume in Frankreich erobert, wie sie seit 2014 sogar in der Bretagne kräftig zulegt – also dort, wo einst Asterix wohnte und die Franzosen ihr lange den größten Widerstand leisteten. Heute liegt sie laut den IFOP-Umfragen bei einer Stammwählerschaft von 30 Prozent.

Fourquet weiß das alles auswendig. Und sollte für die FN-Chefin tatsächlich im April ein Sieg in greifbare Nähe rücken – Fourquet wird sagen können, er habe immer rechtzeitig gewarnt. Trotzdem heißt auch seine Hoffnung heute Fillon. Mit ihm nämlich hätte Le Pen im zweiten Wahlgang einen konservativen Gegner – anders als Donald Trump in den USA mit Hillary Clinton und Norbert Hofer in Österreich mit Alexander Van der Bellen. Denn Trump und Hofer seien nur deshalb so stark geworden, weil sie das traditionell konservative Milieu zum großen Teil auf ihrer Seite hatten. Das würde Le Pen gegen Fillon nicht gelingen, glaubt Fourquet.

Ein linker Kandidat?

Viel beunruhigender wäre es aber, wenn entgegen aller Vorausicht doch noch ein linker Kandidat Fillon den zweiten Platz im ersten Wahlgang streitig machen könnte. Gegen ihn würden sich Le Pens Chancen wieder schlagartig erhöhen. Wer könnte dieser Linke sein? Seit dem dritten Adventswochenende in Paris wissen es alle: Emmanuel Macron, Hollandes ehemaliger Wirtschaftsminister. Macron bewies an diesem Wochenende, dass mit ihm zu rechnen ist. Er schaffte, was keinem anderen Bewerber für den Elysée-Palast 2016 gelungen war: Er mobilisierte über 10 000 Anhänger für seinen Wahlkampfauftakt in einer Pariser Messehalle.

Das war keine Kleinigkeit. Allen Kandidaten mangelt es im politikverdrossenen Frankreich heute durchweg an Fans und freiwilligen Mitarbeitern – nur Macron offenbar nicht. Seiner Kampagne „En Marche!“ haben sich im Internet bereits über 100 000 Unterzeichner angeschlossen. Wo er auftritt, herrscht Begeisterung. Sogar junge Leute laufen ihm zu. Und was noch keinem anderen auf dem Weg in den Elysée so früh gelang: Drei Mal schmückte er 2016 mit seiner 20 Jahre älteren Frau bereits das Titel­blatt des immer noch unübertroffenen Klatschmagazins aller Franzosen, Paris Match.

Natürlich startet Macron als Außenseiter, ohne regelrechte Partei, ohne großen Unterstützerkreis. Aber im Gegensatz zu allen anderen ist er jung, dynamisch, unverbraucht – und liefert mit seinen Klatschknüllern genau jene Geschichten, die ihn persönlich zugänglich und transparent erscheinen lassen. Fillon tut sich da viel schwerer. Und als geschiedene Frau und alleinerziehende Mutter mit einem unerträglichen Vater hat Le Pen in diesem Bereich ein ausgewachsenes Handicap.

Macron dagegen kann verführen. Das macht ihn so unberechenbar. Schon geben ihm Umfragen zum ersten Wahlgang bis zu 18 Prozent der Stimmen. Fillon liegt nicht unerreichbar weit vorn. Und wie gesagt: Der republikanische Ex-Premierminister ist, was seine Privatperson betrifft, vielen noch ein unbeschriebenes Blatt. Er muss den persönlichen Draht zum Wähler erst noch finden.

Offene Wahlaussichten

Umso offener bleiben die Wahlaussichten. Umso schwerer ist es, einen Erfolg Le Pens auszuschließen, selbst wenn ihn Courtois wie Fourquet für unwahrscheinlich halten. Denn wie immer bei französischen Präsidentschaftswahlen geht es nicht nur um politische Programme und Haltungen. Es wird eben nicht nur nach rechtsextrem, rechts oder links abgestimmt. Auch nicht nur nach offener oder geschlossener Gesellschaft, wie der Economist den neuen politischen Gegensatz zwischen Globalisierungsgegnern und -befürwortern beschrieben hat. Es wird nach Personen abgestimmt – und von denen, die antreten, ist Le Pen allen Franzosen am vertrautesten.

Das kann aber auch eine Falle sein. Je näher der Wahltermin rückt, desto weicher versucht Le Pen sich selbst und ihre Partei zu zeichnen. Sie spricht kaum noch über die Ausländerpolitik, wo sie hart durchgreifen und Hunderttausende ausweisen will. Stattdessen redet sie umso mehr über Seele und Herz der Nation, über die guten französischen Sitten und die glanzvolle Geschichte Frankreichs, die es den jungen Menschen zu vermitteln gelte. Das erweckt dann oft allzu deutlich den Eindruck vom Wolf, der Kreide gefressen hat – zumal die Franzosen ihre Le Pens ja kennen.

Aber Fillon macht es nicht unbedingt besser. Nun lässt auch er sich einmal von der Starmoderatorin einer Unterhaltungssendung über Kinder und Familie interviewen. Doch als präsidentiell gilt am Ende in Frankreich dann doch eher, wer klare Kante zeigt – nicht einfach für den eher braven Fillon, den richtigen Mittelweg zu finden.

Macron muss darauf nicht achten. Er muss mitreißen, Hoffnung predigen, damit die Linken sich nicht schon vorzeitig wie ihr Präsident aufgeben – auch keine leichte, aber eine klare Aufgabe.

Mit Skepsis ist das alles vor allem deshalb zu betrachten, weil die Stimmung im Land unverändert schlecht ist und es kaum Hoffnung auf Besserung gibt. Die Arbeitslosigkeit bleibt hoch, die islamistischen Terrorakte haben ihr Übriges getan. Vor allem aber herrscht abseits von Paris, Lyon und Bordeaux eine provinzielle Untergangsstimmung, die vielen Franzosen ihr altes Selbstbewusstsein und die traditionelle Leichtigkeit nimmt. Wer diese Pessimisten ein wenig aus ihrem moralischen Tief holt, wird die Wahlen im April gewinnen.

Georg Blume ist Frankreich-Korrespondent der ZEIT.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2017, S. 68-73

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