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01. Nov. 2016

Die Schokoladenstadt

Geschäftiges Nebeneinanderher: ein Reisebericht aus Südchinas Little Africa

Ich sitze im Zug nach Peking. Nicht in einem von diesen neuen, schnellen Zügen, sondern in einem alten D-Zug, der noch einen Speisewagen hat, um dem Reisenden die 24-Stunden-Fahrt zu versüßen. Wenn nur die Musik nicht wäre: Every sha-la-la-la-la-la-la …

Als ich, aus Hongkong kommend, in Guangzhou Zwischenstopp machte, wurde ich am Zoll kontrolliert, was mir in mehr als zehn Jahren in China noch nie passiert war. Sonderbarerweise fragte mich der Beamte gezielt nach Apfelsinen, und ich hatte meinen Rucksack auszuleeren, um zu beweisen, dass ich kein Apfelsinenschmuggler bin.

Es war nicht die einzige Überraschung in Guangzhou, der Metropole im Perlflussdelta. Die zweite erwartete mich, als ich an der U-Bahn-Sta­tion Sanyuanli ausstieg und gleich als erstes mit einer Gruppe von Frauen zusammenstieß, die offenbar aus Subsahara-Afrika kamen.

Die Ladies balancierten ihre Einkäufe in großen Plastiksäcken auf dem Kopf. In ihrer Begleitung waren einige kräftige Männer aus dem selben Teil der Welt, die riesige, blau-weiß-rot gestreifte Tüten aus Kunststoffgewebe schleppten. Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, lief ich der Gruppe ein Stück hinterher und fand mich sogleich im südchinesischen Little Africa wieder.

Wie ich später erfuhr, nennen die Leute in Guangzhou das Viertel „jiaokeli cheng“ – die Schokoladenstadt. Gemessen an den lokalen Gepflogenheiten ist das relativ unanstößig; ein einigermaßen „softer“ Rassismus gehört in China zum Alltag. Der kantonesische Name für weiße Ausländer lautet „gwailo“: Dämonen-Mensch.

Die Schokoladenstadt ist jedenfalls fest in afrikanischer Hand. 30 bis 40 Prozent (meine Mini-Volkszählung) der Leute, die mir in dem Viertel im Laufe von zwei Tagen auf der Straße begegneten, kommen aus Ländern wie Nigeria, Ghana und Simbabwe. Hunderte von kleinen Läden kümmern sich allein um ihre Bedürfnisse: unverkennbar afrikanische Mode, Farben, die in Guangzhou niemand trägt, Kleider, Schuhe und Flipflops in Größen, für die es in ganz China keinen Abnehmer gibt.

Dazu Dutzende von Imbissen, die ausschließlich Spezialitäten aus ­Afrika südlich der Sahara führen, und eine reiche Auswahl an Logistikfirmen, die den Transport der Fracht direkt aus dem Hotelflur bis an praktisch jeden Ort in Afrika versprechen.

Integration sieht anders aus, und in Deutschland würde die Schokoladenstadt als Beispiel für misslungene Einwanderungspolitik gelten. Nicht in Guangzhou. Niemand erwartet hier von den Afrikanern, dass sie sich kulturell anpassen. Stattdessen gibt es ein geschäftsmäßiges Nebeneinanderher, von dem alle Seiten etwas haben. Die ausländischen Händler bekommen gute Ware. Die chinesischen Fabrikanten und Ladenbesitzer steigern ihren Umsatz. Wer braucht da einen Integrationskurs?

Die Anfänge der Schokoladenstadt lassen sich auf die neunziger Jahre zurückführen, als Südchina sich zu einem globalen Industriezentrum entwickelte und Visa relativ leicht zu bekommen waren – nicht nur für etablierte Geschäftsleute, sondern auch für Krämer und Abenteurer.

Nana Kwame aus Ghana etwa arbeitet als Tellerwäscher im nigerianischen Imbiss „Ikye-Restaurant“ am Rand der Schokoladenstadt. Nebenbei verdient er als Friseur dazu, und als ich mit ihm ins Gespräch komme, ist er gerade dabei, dem südafrikanischen Geschäftsmann Daniel den Kopf zu scheren. Die beiden vertreiben sich die Zeit damit, einen Dritten zu necken, Douglas, der erst vor einer Woche in China angekommen war. „Er ist ein Buschmann“, prustet Nana Kwame und zeigt mit der Schere auf den Neuling. „Er kommt aus dem Landesinneren“, fügt Daniel hinzu und wischt sich vor Lachen die Tränen aus den Augen. „Mindestens 500 Kilometer bis zur Küste!“ Will meinen: aus dem Tal der Ahnungslosen.

In Wirklichkeit ist Douglas kein südafrikanischer Buschmann, sondern ein Igbo aus Nigeria. Er ist, wie die meisten hier, nach Guang­zhou gekommen, um ein paar Festmeter T-Shirts, Schuhe und so weiter für den Laden seiner Familie daheim zu kaufen. Aber er hat ehrgeizigere Pläne; er will chinesische Fabrikanten finden, für die er später größere Mengen Leder aus Nigeria nach China zu bringen hofft. Sein Fernziel besteht darin, einmal selbst in Nigeria zu produzieren.

„Uns hat niemand beigebracht, wie man Rohstoffe verarbeitet“, erklärt mir Douglas. „Jetzt kommen wir nach China, um es zu lernen.“

Später gibt er mir den Tipp, dass es in der Tungtung-Arcade ein gutes Hotel gebe. Aber ich finde es eine ganze Weile nicht – weil ich die Lobby zunächst für eine Lagerhalle halte. Auf den Fluren stapeln sich die Kisten, und bis spät in die Nacht ist das Ritsch-ratsch der Klebebänder zu hören, mit denen die Hotelgäste ihre kubikmetergroßen Kartons für den Versand fertig machten – der Sound der Globalisierung. Bevor ich im Tungtung-Hotel einschlafe, bekomme ich die zweite Tonspur aus diesem Soundtrack zu hören: das Keifen der Concierge, die sich über das Durcheinander ereifert. Aber weil sie auf Chinesisch schimpft, hört ihr niemand zu.

Justus Krüger lebt seit 2005 als freier Korrespondent u.a. für die Neue ­Zürcher Zeitung, Mare und Geo in China.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2016, S. 126-127

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