Buchkritik

01. März 2013

Die neue Lust am Aufstand

Neuerscheinungen zu Finanzkrise, Globalisierung und Occupy

Was bleibt von Occupy? Gleich mehrere Bücher feiern die Protestbewegungen, die sich seit der Finanzkrise in vielen Ländern erhoben haben. Wertvoll sind sie dort, wo die Autoren Ungerechtigkeiten analysieren und Verantwortungslosigkeit kritisieren. Ermüdend sind sie da, wo sie sich in Revolutionsappellen erschöpfen.

Die Revolution, sie ist da! Aufstände in arabischen Ländern, wütende Proteste auf den Plätzen Spaniens und Italiens, Occupy-Camper in New York und Frankfurt – ein demokratischer „Flächenbrand“ wütet weltweit, krempelt Regime um und stürzt korrupte Politiker und, ja, bald sicher auch das ganze System.

Das ist das Bild, das vier aktuelle Bücher vermitteln, die Ursachen und Bedeutung der Proteste ergründen wollen. Alle ergreifen offen für die Aktivisten Partei. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, der Anarchist David Graeber, das Magazin Adbusters, Vordenker und Initiator der Occupy-Bewegung, und die italienische Journalistin Loretta Napoleoni: Sie sehen in den Protesten nicht nur eine weltumspannende Bewegung, sie wünschen ihnen auch von ganzem Herzen Erfolg. Ihre Bücher sind keine ausgeruhten, distanzierten Analysen, sondern oft heißblütige Pamphlete und Schriften zur Mobilisierung. Die Frage, ob Occupy und Co. wirklich etwas bewegt und verändert haben, beantworten sie alle mit einem lauten, leidenschaftlichen: Ja, natürlich!

Nachträglicher Liveticker

Das ist lesenswert, wenn die Autoren ihre Nähe zur Bewegung als Vorteil nutzen: für Einblicke, die aus der Distanz nicht möglich wären. So wie es David Graeber in „Inside Occupy“ gelingt. Der Anthropologe und Anarchist ist gleichzeitig Aktivist bei Occupy und gilt als wichtigster intellektueller Wortführer der Bewegung.

Der erste Teil ist sein persönliches Aktivisten-Tagebuch. Graeber berichtet, wie er eher zufällig Anfang August 2011 bei einer Veranstaltung landete und dort die hitzigen Debatten eines Häufleins von Demonstranten zu moderieren versuchte. Wie sein Twitter-Account zum Hauptinformationskanal der Aktivisten wurde, und wie er dann mit 2000 anderen am 17. September den Zuccotti Park in New York besetzte. Detailliert schildert Graeber die mühsamen Diskus­sionen und die taktischen Spielchen mit der Polizei. Es treten auf: Performancekünstlerinnen, Anti-Atom-­Aktivisten und zahllose linksradikale Aktivistengrüppchen, die einen unwillkürlich an die bundesrepublikanische K-Gruppen-Schwemme in den siebziger Jahren denken lassen. All das beschreibt Graeber sehr lebendig – ein nachträglicher Occupy-Live­ticker.

Der Autor zeigt deutlich, wie überrascht die Aktivisten selbst von ihrem Erfolg waren, wie viele Faktoren und Zufälle ihnen geholfen haben: Das Internet, mit dessen Hilfe sie die Massenmedien umgehen konnten. Oder der Frust der amerikanischen Mehrheit darüber, für die Folgen der Finanzkrise zahlen zu müssen, während sie selbst immer weniger verdienen und kaum Aufstiegschancen haben. „Ich habe alles getan, was man mir gesagt hat!“, zitiert Graeber verzweifelte College-Studenten, die nun auf ihren Schulden saßen und keinen Job fanden. Das ist es, was Occupy zu etwas Besonderem gemacht hat: Nicht Umstürzler und Systemgegner trugen diesen Protest. Hier brach sich der Frust derjenigen Bann, die schlicht verlangten, dass das System sein Versprechen von Aufstieg, Gerechtigkeit und Wohlstand hielt. Und die nun, bitter enttäuscht, vorsichtig an diesem System zu zweifeln begannen.

 Dieser Spur folgt auch der Sammelband „No more Bullshit – Die Zukunftswerkstatt für die 99 Prozent“, herausgegeben von Kalle Lasn, Chef­redakteur der kanadischen Zeitschrift Adbusters, die Occupy einst initiiert hatte. Es kommt in knalligem Revolu­tionsrot daher. Im Inneren imitieren die vielen Grafiken, Bilder und Collagen dann die pixelige, provisorische Ästhetik von Demo-Flyern oder zusammenkopierten Polit-Heftchen.

Dabei sind es gerade die zurückhaltendsten Textbeiträge, die überzeugen. Wenn etwa der Ökonom George Akerloff knapp und präzise darlegt, wie seine Disziplin in den vergangenen Jahrzehnten Normen und persönliche Handlungsmotive aus ihren Modellen gestrichen hat, damit diese möglichst widerspruchsfrei funktionieren. Oder wenn Tarek El Diwany seine persönliche „Läuterung“ vom Londoner Investmentbanker zum Anhänger der islamischen Ökonomie beschreibt. Hier ist das Buch tatsächlich ein Sammelband der Ideen und Denkanstöße.

Dazwischen aber stehen auch eher platte Texte und Slogans à la „Um wirklich etwas zu verändern, muss ein neues Modell her, das das alte überflüssig macht“ und „Wir schaffen füreinander einen Ort der Liebe, der Güte, der Zukunft“. An diesen Stellen scheitert der Band an seinem Anspruch, ein Manifest zu sein. Allein der ständige Appell, endlich auf die Straße zu gehen und das System zu verändern, treibt noch niemanden tatsächlich hinaus.

Unvergleichlich schlimmer ist das bei „Der Flächenbrand der Empörung“ von Loretta Napoleoni. Wo ­Graeber und Adbusters parteiisch, schlimmstenfalls naiv sind, ist das Buch der italienischen Journalistin ärgerlich gedankenlos und populistisch. In zwei Zeilen springt sie vom libyschen Diktator Gaddafi zum italienischen Faschisten Benito Mussolini und dann zu Silvio Berlusconi, alle irgendwie böse und Opfer des einen, großen Aufstands, von dem sie so schwärmt: „Der Flächenbrand der Revolution ist auf Europa übergesprungen, hat den Atlantik überquert und die ganze Welt erfasst.“

Auch die anderen Bücher stellen einen Zusammenhang zwischen den Aufständen in den arabischen Ländern und den Protesten in Spanien, den USA und Deutschland her. Sie brauchen das, um ihrem Thema die nötige Relevanz zu verleihen, um von einem weltweiten Phänomen sprechen zu können, statt von mehreren, regional unterschiedlichen Situationen. Niemand aber verherrlicht sie in solchem Ausmaß wie Napoleoni und bleibt dabei in ihrer Beschreibung so den Klischees verhaftet.

Die Gegenseite besteht für sie nur aus „Schlagstöcken“ und „Betonschädeln“, Politiker sind alle „betrügerisch und heuchlerisch“, Vertreter der Wirtschaftswelt „Finanzbarone“, die USA natürlich ein „Imperium“ und die europäischen Länder wie „untergehende Kaiserreiche“. In solchem Vokabular verbindet sich denkfaule Pauschalisierung, bequemes Schwarz-Weiß-Denken und Lust am Untergang auf schwer erträgliche Weise. In den schlimmsten Momenten spricht aus diesem Buch der dunkle Wunsch, diese ganze von den Menschen verkorkste Welt irgendwie zu beseitigen, um dann noch einmal neu anfangen zu können – totalitäre Gedanken im Gewand einer linken Protestkultur.

Wer all das überlesen kann, findet in dem Buch ein paar interessante Ausführungen über die Vetternwirtschaft im italienischen Hochschul­system, die umstrittene europäische Asylpolitik oder die Konstruktionsfehler der europäischen Währungsunion.

Dysfunktionales System

Gerade die ökonomischen Aspekte bleiben aber oberflächlich im Vergleich zum umfangreichsten und besten der vier Bücher. Joseph Stiglitz arbeitete einige Jahre als Regierungsberater von US-Präsident Bill Clinton und lehrt heute an der New Yorker Columbia University. Er schrieb einst einen vielbeachteten Artikel über Macht und Reichtum des obersten einen Prozent in den USA, das die Occupy-Aktivisten zu ihrem Slogan „We are the 99 percent“ inspirierte. In seinem neuesten Buch nimmt Stiglitz die Proteste als Ausgangspunkt, um von dort aus durchzudeklinieren, wie dysfunktional das amerikanische Wirtschaftssystem und die Politik längst sind.

Stiglitz zeigt, dass das Einkommen des typischen männlichen Arbeiters in den USA seit 30 Jahren stagniert und das derjenigen ohne College-Abschluss sogar sinkt, während das obere Prozent immer reicher wird. So landeten bei dieser winzigen Elite 97 Prozent des gesamten nationalen Einkommenszuwachses von 2009 auf 2010. Rechnet man die noch viel ungleicher verteilten Kapitaleinkünfte hinzu, besitzt das oberste Prozent knapp 20 Prozent des amerikanischen Wohlstands. Stiglitz räumt auf mit der Annahme, dass mehr Ungleichheit letztlich auch den Armen nütze, weil der Wohlstand sozusagen zu ihnen von oben nach unten „durchsickert“.

Solange die Amerikaner an das Aufstiegsversprechen dieser Logik glaubten, waren sie mit dem System zufrieden. Nun aber sei der einst verbindende Glaube, dass es in den USA fair zugehe, nur noch ein Mythos. „Der Kapitalismus“, formuliert Stiglitz wortgewaltig, „produziert nicht das, was er versprochen hat, sondern das, was er nicht versprochen hat: Ungleichheit, Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit und, was am wichtigsten ist, einen Werteverfall bis zu dem Punkt, an dem alles einfach hingenommen wird und niemand mehr verantwortlich ist.“

Stiglitz schimpft nicht auf anonyme Märkte, sondern nimmt die Politik in die Pflicht. Sie sei Schuld am „Teufelskreis“: Weil die Politik dem Wirtschaftssystem die falschen Rahmenbedingungen setzt, steigert dieses die Ungleichheit. Das wiederum gefährdet das wirtschaftliche Wachstum, den sozialen Zusammenhalt und die Stabilität des politischen Systems, das deshalb immer weniger in der Lage ist, der Wirtschaft bessere Regeln aufzuzwingen. Im Bestreben, seine Ausgaben zu beschränken, durchlöchere der Staat das Netz zur sozialen Sicherung immer weiter. Allein von 2007 bis 2010 stieg der Anteil der Armen in den USA von 12,5 auf 15 Prozent der Bevölkerung. Fast jedes zweite Kind aus den unteren 20 Prozent der Einkommensverteilung bleibt sein Leben lang dort hängen. Das Steuergeld geht für die indirekten Folgen drauf: die Zahl der chronischen Erkrankungen steigt, die Kriminalitätsrate ist höher als in jedem anderen Industrieland, manche Bundesstaaten geben längst mehr Geld für ihre Gefängnisse aus als für ihre Hochschulen.

Kern des Problems ist dabei für Stiglitz das „Rent-Seeking“ als mittlerweile einziges Ziel des Wirtschafts­systems: Es gehe nicht mehr darum, Wohlstand durch echte Produktivitätssteigerungen oder Innovationen zu schaffen. „Die Reichen haben gelernt, aus den übrigen Bürgern in einer Weise Geld herauszupressen, das diese es kaum bemerken – darin besteht ihre eigentliche Innovation.“ Börsenkurse und Unternehmensgewinne steigen mittlerweile auch dann, wenn die Löhne sinken und Beschäftigte gefeuert werden – ja, sie steigen oft sogar gerade deshalb. Und die Politik scheint nicht in der Lage oder willens, das zu ändern.

Stiglitz’ Buch ist düster und faktenschwer im Vergleich zu den anderen dreien. Weil er es aber wie kaum jemand sonst beherrscht, komplizierte ökonomische und politische Zusammenhänge verständlich und eindrücklich zu formulieren, bleibt es immer lesbar.

Und was ist nun geblieben von Occupy? Vielleicht die Bereitschaft, sich wieder mit großen Gerechtigkeitsfragen zu beschäftigen. Und die Ausdauer, ihnen bis in die Verästelungen der Alltagspolitik nachzugehen, wie Stiglitz das in seinem Buch vormacht. Auf den Plätzen von New York und Frankfurt ist derweil Ruhe eingekehrt, die Besetzer sind längst vertrieben worden oder haben sich in Komitees und Arbeitsgruppen zurückgezogen. Nur in Kairo sind sie wieder auf den Straßen, protestieren gegen ihren neuen Präsidenten, der dem alten so sehr zu gleichen scheint. Aber das ist vielleicht wirklich eine andere Geschichte.

David Graeber: Inside Occupy. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2012, 200 Seiten, 14,99 €

Kalle Lasn (Hrsg.): No more Bullshit – Die Zukunftswerkstatt für die 99 Prozent. München: Riemann Verlag, 2012, 400 Seiten, 29,99 €

Loretta Napoleoni: Der Flächenbrand der Empörung. Wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert. München: Riemann Verlag, 2012, 224 Seiten, 15,99 €

Joseph Stiglitz: Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht. München: Siedler Verlag, 2012, 512 Seiten, 24,99 €

Lenz Jacobsen ist Gründer und Gesellschafter des Journalistenbüros Weitwinkel und arbeitet als Politikjournalist u.a. für Spiegel Online, Brand Eins und das Handelsblatt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 134-137

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