Buchkritik

01. Jan. 2014

Kapitalismus ist, was wir draus machen

Die Finanzkrise und ihre Folgen: Fünf Neuerscheinungen

Krisen zwingen Gesellschaften zum Nachdenken. Im Idealfall verleiht das Gedanken, die bisher kaum Beachtung fanden, neue Wucht und Wirkung. Im nicht ganz so idealen Falle dient die Debatte Selbstdarstellern als Bühne. So ist das auch bei den neuen Büchern zur Zukunft des Kapitalismus: Drei sind erhellend, eins inspirierend, und eins ist ärgerlich.

Gleich drei der hier vorzustellenden Bücher sind von Universitätsprofessoren verfasst. Das tut der Zuverlässigkeit der Informationen erwartungs­gemäß gut, ohne aber – und das mag manchen überraschen – das Lektürevergnügen zu schmälern. Der Bielefelder Professor Jan-Otmar Hesse legt ein locker geschriebenes Einführungswerk zur Wirtschaftsgeschichte vor. Sein Grazer Kollege Heinz D. Kurz dampft die Geschichte des ökonomischen Denkens auf 124 Seiten ein. Und Jürgen Kocka, ehemaliger Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), legt ein luzides Büchlein über die „Geschichte des Kapitalismus“ vor.

Hesse und Kurz machen ihre Sache souverän. Hesse baut immer wieder Tabellen und Grafiken ein, um den Anstieg der Staatsquote, Deflationen im 19. Jahrhundert oder die Organisation von multinationalen Konzernen zu erklären. Kurz packt die Theorien von ökonomischen Großdenkern wie Marx, Walras oder Hayek in knackige Absätze, mit gefetteten Zwischen­überschriften und einer linearen „Erstens, Zweitens, Drittens“-Sprache. Die Bücher haben damit ein wenig Lexikon- oder Lehrbuch-Charakter, sind allerdings flotter geschrieben.

Keine Kraft, die alles niederwalzt

Ähnlich, nur ungleich virtuoser, ist das, was Kocka auf gerade einmal 128 Seiten gelingt. Er erzählt eine zusammenhängende Geschichte des Kapitalismus, ohne sein Thema unnötig zu vereinfachen. So beschreibt er, wie Adam Smiths Homo Oeconomicus aus der aufklärerischen Idee der individuellen Freiheit und Vernunft entstand. Dass der Idealist Smith dabei die Gewalt der Märkte, die ungleiche Verteilung der Macht und der Produkte, kaum beachtete, sie als bloßes Zwischenstadium abtat, war Ausdruck des Fortschrittsoptimismus seiner Epoche.

Das Wunderbare an Kockas Buch ist, dass er den Kapitalismus gleich­zeitig groß und klein macht. Er zeigt die ungeheure Wucht, mit der der Kapitalismus die Welt verändert hat – und wie sehr er doch immer angewiesen war auf anderes, auf Institutionen vor allem, das politische System, die Geografie, historische Zufälle. Der Kapitalismus war nie die unaufhaltsame Kraft, die alles niederwalzt.

So erzählt Kocka, wie noch nach Ende des Mittelalters Kaufleute kurz vor ihrem Tod die „letzte Buße“ leis­teten und ihr gesamtes Vermögen an Kirchen und Klöster gaben. Das lässt sich durchaus als Unterwerfungsgeste der Kapitalisten unter die eigentlichen Machthaber deuten. Kocka beschreibt auch, wie Handel und Unternehmertum im politisch zersplitterten Westeuropa explodierten, während das zentralistische China stagnierte. Die Konkurrenz der Kleinstaaten schuf Fortschritt, die Konkurrenzlosigkeit des chinesischen Beamtenstaats, in dem alles von oben nach unten entschieden wurde, schuf Stillstand. 

Für uns heute heißt das: Der Kapitalismus kann nicht machen, was er will. Er entwickelt sich so, wie es die Umstände erlauben. Und diese Umstände können gestaltet werden. Das ist gleichzeitig eine Ermutigung und eine Ermahnung an unser politisches Selbstbewustsein und an unsere Handlungsfähigkeit.

Der Staat war die Wirtschaft

Noch etwas Bemerkenswertes schreibt Kocka über die frühe Zeit des Kapitalismus: „Staatsbildung und Marktbildung lagen überall im Gemenge.“ Das Interessanteste daran sind die Reflexe des heutigen Lesers auf diesen Satz: Aha, Wirtschaft und Staat machten also gemeinsame Sache? Man denkt unwillkürlich an Wirtschaftslobbyismus – und vergisst dabei ganz, dass es früher ja immer so war. Der Staat war die Wirtschaft. 

Der heute so gefürchtete politisch-ökonomische Komplex war über Jahrhunderte selbstverständliche Realität. Die Handelsflotten gehörten den Königen, die Felder den Fürsten und Bischöfen. Dann kamen die Kaufleute und langsam, aber sicher das Recht auf Privateigentum für alle. Erst dadurch entstand überhaupt eine nichtstaat­liche Macht, ein ziviler Wille. Denn nur, wenn alle die Chance auf Privat­eigentum haben, haben sie auch Eigeninteressen, und erst Eigeninteressen machen Untertanen zu Bürgern.

Das ist es, was den Einzelnen vom Staat emanzipiert hat. Man muss das nicht dem Kapitalismus zuschreiben, und zu seiner heutigen Verteidigung dient dieser historische Triumph auch nur bedingt. Aber der Rückblick hilft doch, die ungeheure Befreiungskraft wertzuschätzen, die einst von den Entwicklungen ausging, die wir heute unter dem Schlagwort Kapitalismus subsummieren und allzu gerne verteufeln.

Überhaupt ist es ein Verdienst des Sozialhistorikers Kocka, dass er von den Zusammenhängen erzählt zwischen Ökonomie, Gesellschaft, Staat und Kultur. Auch wenn das heute absurd erscheint: Teile der Volkswirtschaftslehre haben in den vergangenen Jahrzehnten in Selbstüberschätzung allzu gerne behauptet, sie bräuchten die anderen Wissenschaften nicht und könnten alles, was in der Wirtschaft passiert, allein erklären. Was natürlich Blödsinn ist, ist doch jedes Geschäft auch eine soziale Interaktion.

Aber das Reden vom Wesen der Ökonomie war schon immer mindestens so sehr ideologischer Kampf wie scharfe Analyse. Nichts zeigt das besser als der Begriff Kapitalismus selbst.

Wir können auch anders

Womit wir bei Wolf Lotter sind. Der 52-jährige Journalist und Autor ist so etwas wie der Cheftheoretiker des Magazins brand eins, das in den vergangenen 14 Jahren die gesellschaftliche Relevanz in den Wirtschaftsjournalismus zurückgebracht hat. Für Bilanzen interessiert sich die Zeitschrift nicht, sondern für die Tatkraft und den Mut von Menschen, die etwas wagen. Für „Unternehmer“ im wörtlichen Sinne also.

„Zivilkapitalismus. Wir können auch anders“ heißt Lotters Buch. Er will den Mythos vom bösen Kapitalismus, der für alles Schlechte in der Welt verantwortlich sein soll, zerstören – und ihn als Instrument zur Weltveränderung und -verbesserung zurückerobern. Lotter schreibt: „In den ‚Kapitalismus‘ lassen sich alle menschlichen Untugenden reinpacken, die sich eben auch zeigen, wo Menschen einander begegnen: Neid, Eifersucht, Misstrauen, Herrschsucht und Lüge. All die Dinge, die heute in jedem Fernsehbericht über Banken, die Wall Street und Konzerne als vermeintlich ‚original kapitalistische Spezialität‘ ausgewiesen werden, beziehen sich auf recht allgemeine menschliche Schwächen.“ Der Kapitalismus sei ganz einfach an allem schuld. 

Lotter macht diese simple und in der Tat weit verbreitete Haltung wütend, die, wie er schreibt, Attitüde ist und eigentlich keine ernstzunehmende Kritik. Sie ist bequem, weil sie gar nichts erst von Wirtschaft wissen will. „Wer auf einer Party den rechenschwachen Antikapitalisten gibt, hat die Sympathien auf seiner Seite“, beschreibt er treffend den gewollten ökonomischen Analphabetismus. Wir wissen zwar nicht, wie die Wirtschaft funktioniert, aber wir sind uns trotzdem sicher, das sie irgendwie böse ist.

Aus diesem gewollten Unwissen folge dann fast zwangsläufig Passivität. Was man nicht versteht, kann man schließlich auch nicht verändern, mitbestimmen. Der Kapitalismus ist Schicksal, eine böse, unaufhaltsame Kraft. Aus Kockas Büchlein wissen wir schon, wie falsch das ist.

Lotter macht daraus eine Anklage. So referiert er das Bonmot, der Kapitalismus habe ja den Kampf gegen den Kommunismus gar nicht gewonnen, sondern sei halt übrig geblieben. „Und nun, liebe Intellektuelle, verehrte Geisteseliten, Bürger einer vermeintlich selbstbewussten Zivilgesellschaft, was nun? Liegt er jetzt rum, der Kapitalismus? Und was macht ihr eigentlich so, damit die Zukunft der Zivilgesellschaft nicht sich selbst überlassen ist?“

Zivilgesellschaft, darum geht es ihm. Lotter will all den vermeintlich übermächtigen Kollektiven (Politik, Bürokratie, Großkonzerne) die Macht wegnehmen und den Einzelnen geben. Der Kapitalismus ist ein Werkzeug, was wir daraus machen, ist unsere Sache. Spätestens mit dem Übergang vom Industriezeitalter zur Wissensgesellschaft ist diese Aufgabe dringlich geworden. Nicht riesige Maschinen und willenlose, austauschbare Arbeiter an Fabrikfließbändern seien das Herz unserer heutigen Wirtschaft, sondern Wissen und Kreativität der Einzelnen.

In Lotters Zivilkapitalismus sind Banken keine bürokratischen Monster und Börsen keine Bühnen mehr für „abartige Spielchen kauziger Finanznerds“. Sie werden von den Zivilkapitalisten auf ihre Plätze verwiesen, wieder zum „Marktplatz der Interessen“ umfunktioniert. Das Buch ist eine einzige Ermutigung, den Kapitalismus selbst in die Hand zu nehmen.

Denn die Ohnmacht des Einzelnen nütze nur den Herrschenden und Bürokraten. Je weniger Menschen selbst etwas wagen, desto übermächtiger werden diejenigen, die nur verwalten. „Fühl dich klein, denn das macht uns groß“, fasst Lotter die Logik zusammen, nach der die Politik von der selbstverschuldeten ökonomischen Unmündigkeit der Bürger profitiert.

Rausdefinieren, was nicht reinpasst

Ein ganz wunderbar anregendes Manifest ist Lotter geglückt – mit zwei wichtigen Einschränkungen allerdings: So wie Lotters Gegner einfach alles in den Kapitalismus reindefinieren, was irgendwie böse ist, definiert Lotter einfach alles heraus, was ihm nicht passt. Die Auswüchse des Finanzkapitalismus etwa könnten ja nicht nur eine Folge der realitätsvergessenen Banken- und Verwaltungsbürokratie sein. 

Es könnte ja tatsächlich etwas mit dem zu tun haben, was der Ur-Kapitalismuskritiker Karl Marx einst als „Akkumulation des Kapitals“ beschrieb. Kapital sucht seine Vermehrung und schafft so indirekt immer neue Anlagemöglichkeiten, bis hin zu den hochspekulativen Bankgeschäften der vergangenen Jahre.

Natürlich: Dass viele Banken am Ende ziemlich risikolos zocken konnten, weil sie einfach zu groß waren, um fallen gelassen zu werden, ist ein Versagen der Politik. Aber Regulierung ist doch erst eine Antwort auf die kapitalistische Dynamik, und es hätte dem Buch gut getan, diese systemischen Dynamiken mit zu beschreiben.

Von Systemen aber will Lotter wenig wissen. Dabei ist das die Gretchenfrage aller Gesellschaftswissenschaften. Beide Perspektiven können jeweils unterschiedliche Dinge erklären, weil sie eben aus unterschiedlichen Richtungen fragen. Sie können aber eben nie alles erklären. Die meisten wissen das, und abgesehen von ein paar genialen Extremisten (Niklas Luhmann, Talcott Parsons, Milton Friedman) versuchen sich die meisten an einer Mischform oder sind sich zumindest der Beschränktheit ihrer Perspektive bewusst.

Nicht so Lotter. Er erklärt kurzerhand: „Ein ‚System‘ ist ein Zauberlehrling, ein Golem, der zu Leben erweckt wurde und jetzt nicht mehr zu stoppen ist.“ Für ihn zählt nur der Einzelne, der Akteur.

Diese Einseitigkeit ist natürlich gewollt, weil sie den Vortrag wuchtiger macht. Lotter will dem Einzelnen seine Macht zurückgeben, also muss er ihn auch zum Souverän erklären. Seine milde Systemblindheit ist deshalb verkraftbar. Ebenso wie der manchmal allzu polemische, wütende Ton. „Vom geistigen Befehlsnotstand“ ist da schon mal die Rede. „Diskurse sind nicht gewünscht“, erklärt Lotter an anderer Stelle kategorisch. Die Eliten sind generell „ahnungslos“ und die gegenwärtige Politik parasitär. Weil diese Sprache aber der Vermittlung einer wichtigen, klugen Botschaft dient, ist das in Ordnung.

Ein einziges Wüten

Will Lotter den Kapitalismus retten, so will Jakob Augstein ihn zerstören. Beide machen dabei, wie es sich für Manifeste gehört, ihre Leser zu Komplizen. Da hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf, zum Glück für Lotter. Augsteins Buch „Sabotage. Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen“ ist tatsächlich fast so platt wie der Titel. Der Autor schreibt bei Spiegel Online eine Kolumne, die Meinungsfreude zum einzigen Kriterium journalistischer Qualität zu erheben versucht. Dementsprechend ist auch sein neuestes Buch geraten: ein einziges Wüten. 

Dieser Autor kennt nur den Modus der Vernichtung, bestenfalls des Spotts. Nur ein Beispiel: Er setzt kurzerhand die Bücher von Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) und Franz Hessel („Empört Euch!“) gleich, nur, weil sie ähnliche Verkaufszahlen hatten. Daraus leitet er dann eine wilde Theorie über ewigen deutschen Rassismus und „Niedertracht“ einerseits und edlen französischen Widerstandsgeist und „Befreiung“ andererseits ab.

Im Vorspann schon fantasiert Augstein davon, wie man am besten Farbbeutel herstellt. Er will das natürlich als Allegorie auf eine intellektuelle Bewaffnung verstanden wissen, aber auch als konkreten Aufruf, beim Denken nicht halt zu machen, zu handeln.

Augstein hat natürlich recht, Protest muss existenziell sein und körperlich, wenn er wirklich etwas bewegen soll. Aber was will der Autor uns damit sagen? Ist es ein Aufruf, Wasser- oder sonstige Bomben auf die Gebäude der Deutschen Bank zu werfen? Der Wall Street? Der EZB? Des Bundestags? Er lässt das natürlich offen, wie er überhaupt eine bombastische Empörungswelle lostritt, bei der man bequem mitschwimmen kann, weil es doch immer nur die anderen trifft.

Ein paar kluge Beobachtungen finden sich auf den 290 Seiten, sie sind aber meist von anderen geliehen. Mit Heinz Budde beschreibt Augstein den Konservatismus der Grünen („Konservatismus ohne Ressentiments“). An anderer Stelle denkt er die These Colin Crouchs weiter, wonach der Ruf nach Rücktritt die letzte Illusion der Einflussnahme des Einzelnen auf die postdemokratische Politik sei (Augstein findet: Selbst diese letzte demokratische Glut sei erloschen). Um Kapitalismus geht es da natürlich schon lang nicht mehr, sondern einfach irgendwie um alles.

Wenn Augstein böse auf Politiker ist, und das ist er eigentlich auf jeder Seite, dann wirft er ihnen schon mal „Kleinheit“ vor. Schrecklich simpel ist das und sehr ermüdend für Leser, die mehr wollen als das rhetorische Brustgetrommel eines wirkungsbewussten Publizisten. So ist Augsteins Buch ein Beispiel dafür, wie Kapitalismus-­Debatte auch jene Autoren nach oben spült, denen es weniger um analytische Tiefe als um laute Meinungen geht.

Wer den Kapitalismus verstehen will, sollte Jürgen Kocka lesen. Wer ihn gestalten will, Wolf Lotter.

Lenz Jacobsen ist Redakteur bei ZEIT Online.

Jan-Otmar Hesse: Wirtschaftsgeschichte. Entstehung und Wandel der modernen Wirtschaft. Frankfurt/M.: Campus 2013, 242 Seiten, 16,90 €

Heinz D. Kurz: Geschichte des ökonomischen Denkens. München: C.H. Beck 2013, 124 Seiten, 8,95 €

Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus. Mü̈nchen: Verlag C.H. Beck 2013, 128 Seiten, 8,95 €

Wolf Lotter: Zivilkapitalismus. Wir kö̈nnen auch anders. Mü̈nchen: Pantheon 2013, 224 Seiten, 14,99 €

Jakob Augstein: Sabotage. Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen. München: Hanser Verlag 2013, 304 Seiten, 14,99 €

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 134-138

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