Die Logik der Strategie
Paradoxes Handeln als Grundlage von strategischem Erfolg
Auf den ersten Blick scheint es, als ob seit dem 11. September 2001, seit dem Feldzug gegen Afghanistan, der Formulierung der Bush-Doktrin und dem kurzen Irak-Krieg die Welt zumindest sicherheitspolitisch aus den Fugen geraten sei. Der amerikanische Militärhistoriker Edward Luttwak vertritt demgegenüber die These, dass es wohl eine neue Lage der Bedrohung und der Reaktion darauf gebe, dass aber die grundlegenden Parameter strategischen Denkens im Konfliktfall unverändert geblieben seien.
Seit dem 11. September 2001, dem Afghanistan-Feldzug, der kurzen Attacke auf Irak und mit der Bush-Doktrin, so scheint es auf den ersten Blick, ist die Welt sicherheitspolitisch völlig aus den Fugen geraten. Dass sich dies aber nur auf eine neue Lage der Bedrohung und die Reaktion darauf bezieht, nicht jedoch auf die grundlegenden Parameter strategischen Denkens im Konfliktfall – das zeigt Edward Luttwak mit seinem über fünf Jahre entwickelten Grundlagenwerk über strategisches Denken.
Allen weiteren Überlegungen stellt der amerikanische Militärhistoriker die Prämisse strategischen Denkens im Konfliktfall voran. Mit Rekurs auf Carl vonClausewitz erinnert er uns daran, dass der gesamte Bereich der Strategie von einer paradoxen Logik durchzogen ist, die sich von der gewöhnlichen „linearen Logik“ unterscheidet, nach der wir uns in allen anderen Lebensbereichen richten. Si vis pacem, para bellum – wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor – diese Formel sei der augenfälligste Ausdruck für diese paradoxe Logik. Und in der Tat, man stelle sich die Absurdität eines entsprechenden Ratschlags in einem anderen Lebensbereich als dem strategischen vor: Willst du A, strebe nach seinem Gegenteil B, vergleichbar mit „Willst du abnehmen, iss mehr“. Der Unterschied sei aber der, dass nur im Reich der Strategie, das die Regelung und Folgen menschlicher Beziehungen im Kontext tatsächlicher oder drohender bewaffneter Konflikte umfasse, paradoxe Behauptungen ihre Gültigkeit erhielten. Im Normalfall sei der schnellste, leichteste und kürzeste Weg zum Ziel auch der beste. Nicht so im Konfliktfall, wenn Gegner aufeinandertreffen, die ihren Willen mit Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung durchsetzen möchten. Das gängigste Beispiel für die Gültigkeit und Akzeptanz paradoxen Denkens sei hier die Doktrin der nuklearen Abschreckung, die in den Jahren des Kalten Krieges galt und die durch die Androhung von massenhafter Vernichtung den Frieden zu sichern suchte.
Vor diesem Hintergrund entwickelt der Autor zwei Dimensionen, in denen sich die Logik der Strategie entfaltet: in den horizontalen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern, die sich den Schachzügen des jeweils anderen trotzig widersetzen, sie durch überraschende Finten und Taktiken abwenden oder durch schwierigere, aber unerwartete Operationen umkehren wollen; und dem vertikalen Zusammenspiel von fünf technischen, taktischen, operativen und höheren Konfliktebenen – die nicht notwendigerweise miteinander im Einklang stehen. In diesem Kontext ergeben sich etwa Disharmonien zwischen technologischen Innovationen und organisatorischen Veränderungen, die zum Erfolg oder Scheitern von strategischen Absichten führen können.
So lösten durch die Israelis eingesetzte unbemannte Beobachtungsflugkörper in den siebziger Jahren zunächst keine große Begeisterung aus, weil sie den traditionellen Waffenkategorien Heer, Luftwaffe oder Marine nicht zugeordnet werden konnten, obwohl sie taktisch wie operativ revolutionäre Auswirkungen hatten: Die Kosten hielten sich in Grenzen und es wurden keine Opfer riskiert. Trotzdem überwog zunächst keiner dieser Vorteile die bürokratische Ablehnung, weil die neue Ausrüstung nicht in die etablierte Ordnung und die gewohnte Zuweisung in den militärischen Hierarchien passte.
In diesem Koordinatensystem der Logik von Krieg und Frieden seziert Luttwak die Anatomie der Strategie und zeichnet damit ihre theoretische wie praktische Kontur. Im Kern schält er auf der horizontalen Ebene die vielfältigen Optionen strategischen Verhaltens heraus, die sich durch die theoretisch unendlich erscheinenden Variationsmöglichkeiten der Abschreckung durch bewaffnetes Zu- oder Abraten ergeben, die etwa im Kalten Krieg durch ihre virtuose Kombination erst ihre volle Wirksamkeit entfalten konnten. Auf der vertikalen Ebene weist er darauf hin, wie nötig, wie schwierig aber zugleich eine Harmonisierung des Verhaltens ist. Sie mache selbst die einzelne Entscheidung für ein bestimmtes Waffensystem zu einem schwierigen Unterfangen, da es zunächst auf taktischer Ebene evaluiert, dann auf operativer Ebene analysiert und schließlich auf der Ebene der Gefechtsfeldstrategie untersucht werden müsse.
Zum Schluss wird Luttwak dann konkret, indem er auf die Bedingungen strategischen Denkens in modernen, pluralistischen Staaten eingeht. Zunächst: Demokratien könnten sich nicht wie schlaue Krieger im Schutz der Dunkelheit an ihre Feinde heranpirschen. Zudem könnten sie in ihren außenpolitischen Maßnahmen keine Kohärenz herstellen, da sie von den widerstreitenden Kräften der Interessengruppen, konkurrierenden Bürokratien und politischen Fraktionen geprägt würden. Dies werde deutlich am Beispiel der USA, die sich in zahlreiche Widersprüche verstrickt hätten, als die NATO erweitert wurde, während man gleichzeitig versuchte, die Freundschaft mit Russland zu pflegen, und als China zugleich als Freund und als Feind behandelt worden sei. Er schreibt: „Nur wenn alle Inkohärenzen und Widersprüche beseitigt worden wären, hätten die USA bei den Verhandlungen mit allen Ländern … und bei allen Themen eindeutige Prioritäten verfolgen können, jedes Mal mit der richtigen Kombination von Versprechungen und Drohungen, Anreizen und Strafaktionen, um den größtmöglichen Einfluss zu sichern“ (S. 346). Für ihn würde diese Kohärenz in Zukunft die Macht der Vereinigten Staaten auf der Weltbühne zweifellos stärken, indem das Potenzial ihrer aktuellen ökonomischen, technologischen, militärischen und informationstechnologischen Vormachtstellung viel stärker nutzbar gemacht werden könnte. Damit würden die USA zur letzten Großmacht der Geschichte werden. Defensive Antworten und feindselige Reaktionen wären aber die unvermeidliche Folge. Wenn die passive Realität der amerikanischen Vormachtstellung dem aktiven Streben nach globaler Hegemonie aber weiche, könnte dies nur die Reaktion hervorrufen, die es in der Vergangenheit immer hervorgerufen habe: heimlichen Widerstand seitens der Schwachen, offene Opposition seitens der weniger Schwachen. Um ihre Unabhängigkeit zu sichern, würden nicht nur China und Russland, sondern auch viele vormalige Verbündete Amerikas in eine globale Koalition gegen die nunmehrige strategische Groß macht USA getrieben.
Damit ist Edward Luttwak ganz in der Gegenwart angekommen. Mit seinem überaus lesenswerten Werk zur Logik strategischen Denkens knüpft er nicht nur relativ nahtlos an die grundlegenden Arbeiten von Clausewitz, Raymond Aron oder Klaus-Dieter Schwarz an, sondern er klärt auch im Interesse des Lesers die aktuelle Lage auf. Die USA verfolgen einerseits klarere, aber unilaterale strategische Ziele, sie reiten andererseits aber auch mit ihrer präventiven Strategie und weltwirtschaftlich den Tiger. Auf vertikaler Ebene hat die amerikanische Strategie – etwa in Irak – erstaunlich funktioniert; auf horizontaler Ebene steht die Neuvermessung der internationalen Politik, hell erleuchtet von einem neuen deutsch-französisch-russischen Gestirn am internationalen Firmament, mittel- und langfristig allerdings in den Sternen. Alles in allem werden Europäer und Amerikaner ernsthafter Sorge dafür zu tragen haben, dass das transatlantische Verhältnis – bisher mächtige Säule internationaler Politik – nicht zur Supernova im 21. Jahrhundert wird.
Edward Luttwak, Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden, Lüneburg: zu Klampen Verlag 2003, 356 S., 34,00 EUR.
Internationale Politik 5, Mai 2003, S. 69 - 70