Zur Integration von islamischen Migranten
Buchkritik
Migration wird in Deutschland und Europa von vielen Intellektuellen und der Politik seit Ende der neunziger Jahre aus zwei Gründen in verstärktem Maße thematisiert: wegen der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Effekte des demographischen Wandels und – auch im Kontext des 11. Septembers – hinsichtlich der inneren und äußeren Sicherheit.
Die gegenwärtigen demographischen Verschiebungen sind weltweit ein Besorgnis erregendes Phänomen – mit unterschiedlichen Vorzeichen. Während sich die industrialisierte Welt damit konfrontiert sieht, dass sie zunehmend altert und die Geburtenrate abnimmt, sehen sich viele Entwicklungsländer mit dem umgekehrten Phänomen konfrontiert: die Bevölkerung wächst, der Drang zur Wanderung vom Land in die Stadt nimmt zu, ethno-nationale Konflikte wachsen, lokaler Terror, Epidemien, Ernährungsunsicherheit und ökologische Desaster zwingen perspektivisch zur weiträumigen Flucht und Migration. Dies löst in Deutschland und der Europäischen Union große Sorgen aus, obwohl man dort nicht nur aus humanitären Gründen aufgerufen ist zu handeln. Die Staaten Europas müssen aufgrund der demographischen Veränderungen um Ausländer konkurrieren.
In den europäischen Gesellschaften stehen die sozialen Sicherungssysteme derzeit unter starkem Druck. Sie werden deshalb zum einen versuchen, ihre gesellschaftlichen Belange durch den Zuzug von solchen Menschen zu stabilisieren, die als genügend qualifiziert angesehen werden. Zum andern werden sie angehalten sein, solche Menschen abzuwehren, von denen destabilisierende Impulse für die Systeme sozialer Absicherung sowie die innere Ordnung und Sicherheit zu erwarten sind. Der letzte Punkt ist außerordentlich sensibel, und hier setzt das neue Buch des Göttinger Politikwissenschaftlers Bassam Tibi an, mit dem er sich engagiert auf die Formung der islamischen Migration in Deutschland konzentriert.
Im Zeitalter der islamischen Migration gilt es nach Tibi z.B. für Deutschland nicht nur, sich zu öffnen und zugleich zentrale kulturelle, soziale und politische Errungenschaften zu bewahren, sondern auch, das eigene Gemeinwesen zu schützen und auf keinen Fall die zivilisatorische Identität aufzugeben. Wenn Zuwanderung in Einwanderung umgewandelt werde, so die These des Autors, wozu die Integration der Migranten und die Verhinderung der Entstehung von Parallelgesellschaften gehöre, sei dieses Ziel zu erreichen. Feinde der Interkulturalität gebe es nicht nur unter Europäern und Deutschen, sondern auch unter den Migranten selbst. Für Tibi muss deshalb prinzipiell der „Aufstand der Anständigen“ gegen beide geführt werden: gegen die „Inhaber“ des „Feinbild Islam“ und gegen die „Eigentümer“ des „Feindbild Westen“ unter den Muslimen. Aufbauend auf dieser fundamentalen Prämisse formuliert der Autor seine Forderungen an eine erfolgreiche Einwanderungspolitik:
Migration umfasse heute gleichermaßen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik; ihre wildwüchsigen Formen müssten durch Steuerung gebändigt werden. Das Grundgerüst deutscher Migrations- und Integrationspolitik sei es, zunächst zwischen Zu- und Einwanderung zu differenzieren, das heiße zwischen ungesteuerter und politisch gesteuerter Migration. Die Integration der Migranten werde dann schließlich zum Lackmustest der interkulturell funktionierenden Gesellschaft.
Zuwanderungskonzept und Zuwanderungsgesetz hin oder her – für Tibi ist die Bundesrepublik heute noch ein Zuwanderungsland, in dem die Einwanderung und Einbeziehung der Muslime in das Gesellschaftssystem der Deutschen politisch noch nicht wirklich organisiert sei. Die Debatte um die Migration sei nach wie vor von Gesinnungen geprägt und nicht von einer von Fakten ausgehenden Verantwortungsethik. Dabei gebe es in Deutschland immer noch Fremdenfeindlichkeit, die eine echte Integration der Muslime im Lande behindere. Ein gefährlicher Zustand, da nur Integration vor Ausgrenzung schütze. Denn ausgegrenzte Muslime seien „leichte Beute“ für die Fundamentalisten, und Parallelgesellschaften ein Freiraum des Islamismus. Tibi weist zu Recht darauf hin, dass die Attentäter, die die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 verübten, in Deutschland nicht integriert waren. Eine Integration hätte ihre Motivation zum Terror vielleicht erodieren können. Fehlende Integration könne zudem zur Gettobildung beitragen, die das Gemeinwesen balkanisiere und den inneren Frieden bedrohe.
Vor diesem Hintergrund müsse sich der Multikulturalismus der Integration für eine „permissive Toleranz“ einsetzen, die eine gewisse Wertebeliebigkeit zulasse, ohne jedoch die eigene Identität ganz aufzugeben. Hier sei die Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus eine unabdingbare Voraussetzung der Integration. Dies verlange vor allem eine Debatte zwischen Einheimischen und Migranten über das Spannungsverhältnis von Vernunft und Glauben, das nur durch die Trennung von Religion und Politik zu überwinden sei. Bassam Tibi plädiert in diesem Rahmen für eine Einwanderungspolitik, bei der Deutsche und islamische Zuwanderer innerhalb einer kulturellen Annäherung gegenseitig ihr Verhältnis zu Fragen der Identität verändern müssten.
Als strategische Antwort auf den wachsenden Integrationsdruck in der Bundesrepublik favorisiert der Autor in seinem Werk eine doppelte Strategie, die einerseits echte Integrationsbemühungen der Deutschen mit einer selbstbewussten Behauptung der eigenen Identität kombiniert. Diese umfasst die Forderung an die Menschen in Deutschland, den ernsthaften Willen zu entwickeln, die Migranten offen in ihr Gemeinwesen zu integrieren. Gleichzeitig aber tritt er andererseits mit Vehemenz an die Migranten heran, von denen er nicht nur wirtschaftliche Eingliederung verlangt, sondern die Absicht, sich auf die fremde Gemeinschaft in diskursiver und konstruktiver Weise einzulassen.
Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart/ München: Deutsche Verlags-Anstalt 2002, 380 S., 24,90 EUR.
Internationale Politik 11, November 2002, S. 65 - 67.