Weltspiegel

31. Okt. 2022

Die große Unbekannte

Wenn in Italien eine Regierung startet, deren Mitglieder Wladimir Putin sehr und Europa wenig schätzen, schrillen die Alarmglocken. Was ist von Giorgia Meloni zu erwarten? 

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Bild: Giorgia Meloni mit Victor Orban
Albtraumduo: In Brüssel kann man nur hoffen, dass die politische Freundschaft Giorgia Melonis zum Gottseibeiuns der EU Viktor Orbán durch Differenzen in der Russland-Frage deutliche Risse bekommen hat.
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Seit Giorgia Meloni die Wahlen in Italien gewonnen hat, geht eine Sorge um in Europa. Aber Sorge wovor? Das werden sich viele Italiener fragen, nicht nur die rund sechs Millionen, die Melonis Partei Fratelli d’Italia gewählt haben. Man könnte ihnen antworten: Man fürchtet sich vor der Vergangenheit. Schließlich ist Meloni eine bekennende Erbin des italienischen Faschismus, der Tod und Vernichtung über Europa gebracht hat.



Außerdem hat Meloni in den vergangenen Jahren immer wieder die Europäische Union angegriffen. Ihre härtesten Attacken fuhr sie dabei gegen la Germania. Sie tat wenig, um ihre antideutschen Ressentiments zu verbergen, ja sie kokettierte damit, offenbar gewinnbringend.  



Die Sorge ist also verständlich, aber ist sie auch begründet? Anders gefragt: Was bedeutet Melonis Sieg für Europa? Welche Außenpolitik wird sie betreiben?   



Anti-Putin-Front in Gefahr

Um eine Antwort zu finden, lohnt zunächst einmal ein Blick auf Melonis Koalitionspartner: Silvio Berlusconi und Matteo Salvini. Der eine ist Chef von Forza Italia, der andere Vorsitzender der Lega. Während die Fratelli d’Italia bei den Wahlen 26 Prozent erhielten, landete Berlusconi bei 8 und Salvini bei 8,9 Prozent. Die Machtverhältnisse sind also eindeutig. Meloni ist die Chefin. Doch sie braucht die beiden, um ihre Regierung zu bilden.

Das allerdings bedeutet, dass Italien in der europäischen Anti-Putin-Front ein schwaches Glied werden könnte. Denn Salvini und Berlusconi darf man – mit viel Untertreibung – als Russland-Versteher bezeichnen. Salvini hat jahrelang für Wladimir Putin Stimmung gemacht, auf seinem T-Shirt trug er das Konterfei des russischen Präsidenten und stellte es stolz zur Schau. Er sagte Sätze wie: „Wenn ihr mich vor die Wahl stellt, ob ich Angela Merkel oder Wladimir Putin haben will, dann will ich fünf Mal Putin!“



Auch der russische Invasionskrieg hat Salvini nicht dazu gebracht, sich glaubwürdig von dem – wie er ihn nannte – „großen Staatsmann“ Putin zu distanzieren. Dasselbe gilt für Silvio Berlusconi, der jahrelang eine enge persönliche Freundschaft zu dem russischen Präsidenten pflegte. Wenige Tage vor den italienischen Parlamentswahlen am 25. September behauptete Berlusconi in der populärsten Talkshow des Landes, Putin habe doch „in Kiew nur gute Leute an die Regierung bringen wollen“, außerdem sei er vom russischen Volk zur Intervention gedrängt worden.



Möglich also, dass eine italienische Rechtskoalition, in der diese beiden Männer Einfluss haben, die europäische Anti-Putin-Front schwächen wird.



Fest an der Seite Amerikas

Seltsamerweise ist die derzeit beste Garantie, dass es nicht so kommen wird, ausgerechnet Giorgia Meloni. Sie hat zu Putin nie ein sonderlich enges Verhältnis gepflegt und vom ersten Tag des russischen Angriffs an die Invasion klar verurteilt. Sie hat stets für Waffenlieferungen geworben und sich ohne Wenn und Aber für die Unterstützung der Ukraine ausgesprochen.



Das ist in Italien keine populäre Position. Wiederholt haben Umfragen ergeben, dass hier unter allen europäischen Ländern am wenigsten Verständnis für den Kampf der Ukraine herrscht. Während in den anderen Mitgliedsländern die Zustimmungsraten für Waffenlieferungen an die Ukraine zwischen 58 und 80 Prozent liegen, kommen sie in Italien nur auf 38 Prozent. Meloni, das ließe sich sagen, ist also in diesem Punkt nicht mit, sondern gegen den Strom geschwommen. Das ist bemerkenswert, denn in manch anderen Themen – wie der Impfkampagne der Regierung Mario Draghis – scheute sie nicht davor zurück, die Angst und Unzufriedenheit der Italiener zu schüren.



Melonis klare Haltung ist gewiss ihrer persönlichen Überzeugung geschuldet, doch in ihr kommt auch eine andere Tatsache zum Vorschein. Die italienischen Konservativen standen während der gesamten Nachkriegszeit immer fest an der Seite der westlichen Führungsmacht USA. Meloni bezeichnet sich als Konservative und will sich als solche profilieren. Damit will sie auch beweisen, dass sie den Faschismus wirklich hinter sich gelassen hat. Das ist ein Grund, warum sie ihre transatlantische Position deutlich formuliert. Eine Regierung Meloni wird zu den USA ein enges Verhältnis pflegen wollen. Es gibt also keinen Grund, an der Freundschaft Italiens zu den USA zu zweifeln.



Schwieriger allerdings werden die Beziehungen zur Europäischen Union werden. Meloni pflegt eine enge politische Freundschaft zu Ungarns Viktor Orbán, dem Gottseibeiuns der EU. Doch diese Freundschaft dürfte Risse bekommen haben, denn Ministerpräsident Orbán vertritt in Sachen Russland-Politik eine singuläre Position und hat sich damit innerhalb Europas isoliert. Besonders die polnische PiS-Partei, ein traditioneller Verbündeter Orbáns, hat sich seit der russischen Invasion von ihm entfremdet.



Tatsächlich dürfte sich Meloni in Zukunft auch mehr an Warschau anlehnen, denn mit der PiS gibt es in vielen Punkten Übereinstimmung: in der Positionierung gegenüber Russland, in der Haltung ­gegenüber Brüssel und in ihren gesellschaftspolitischen Vorstellungen. Wenn Meloni sich als Konservative bezeichnet, dann meint sie konservativ – nicht liberalkonservativ. Man wird abwarten müssen, welche Formen diese neue „polnisch-italienische“ Freundschaft annehmen wird. Doch in jedem Fall ist sie von Gewicht. Die europäische Integration dürfte sie allerdings nicht stärken, eher im Gegenteil, es könnte zu einem Rückbau der EU kommen.



Nach ihrem Wahlsieg erklärte Meloni: „Das sind Zeiten, in denen wir sehr verantwortungsbewusst sein müssen!“ So groß ihr Erfolg auch war, so zurückhaltend hat sie sich danach gegeben. Sie ist offensichtlich bemüht, die Sorgen zu ­zerstreuen, die es in Europa gibt. Meloni weiß sehr wohl, dass Italien das viele Geld aus dem Corona-Wiederaufbaufonds – knappe 200 Milliarden Euro – braucht, um die nötigen Reformen voranzubringen. Gleichzeitig ist Italien hoch verschuldet. Der Spielraum für jede Regierung ist auch dadurch ­begrenzt.



Meloni kann sich Verrücktheiten schlicht nicht erlauben, ohne Italiens Wirtschaft zu gefährden. Und sie neigt ohnehin grundsätzlich nicht dazu. Während des Wahlkampfs wie auch danach hat sie trotz vieler harter, kämpferischer Töne einen beträchtlichen Sinn für die Realität an den Tag gelegt.

Seit den Wahlen gibt es noch einen neuen, starken Faktor, der auf Meloni mäßigend einwirkt. Ihre Partei Fratelli d’Italia ist in der Lombardei und im Veneto zur Mehrheitspartei geworden. Sie hat die Lega von Salvini abgelöst, die viele Jahre in diesen Regionen die Hausherrin war. Der italienische Norden ist hoch industrialisiert und aufs Engste mit der deutschen Wirtschaft verwoben. Antideutsche Ressentiments werden diese neuen Wähler Meloni nicht durchgehen lassen. Sie wollen und brauchen ein gutes Verhältnis zu Deutschland, ihrem wichtigsten Partner. Meloni weiß das. Sie wird diese neuen Wählerschichten nicht gleich verprellen wollen.



Delikate Situation

Das Verhältnis Italiens zu Frankreich ist für die italienischen Rechtsparteien traditionell schwierig. Um es salopp zu sagen: Man verträgt sich nicht so recht. Jüngst gab es wieder ein entsprechendes Beispiel dafür. In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung La Repubblica erklärte Frankreichs Europaministerin Laurence Boone mit Blick auf eine italienische Regierung unter Führung Melonis: „Wir wollen mit Rom zusammenarbeiten, aber wir werden über die Achtung der Rechte und Freiheiten wachen!“ Meloni reagierte prompt: „Ich hoffe, dass die linksorientierte Presse die Äußerungen ausländischer Regierungsvertreter falsch wiedergegeben hat, und ich vertraue darauf, dass die französische Regierung diese Worte, die einer inakzeptablen Drohung mit Einmischung gegen einen souveränen Staat und EU-Mitgliedstaat zu sehr ähneln, zurückweisen wird.“



Die unbedachte Aussage der französischen Ministerin veranlasste Staatspräsident Sergio Mattarella zu einer offiziellen Stellungnahme. Darin hieß es: „Italien kann gut auf sich selbst schauen!“ Darauf wiederum reagierte Präsident Emmanuel Macron. Er werde „mit gutem Willen“ mit der neuen italienischen Regierung zusammenarbeiten. Wie man sieht: Die Situation bleibt delikat.



Die „Einmischung“ von Laurence Boone hatte freilich einen sehr ernsten politischen Hintergrund. In Paris fürchtet man offensichtlich, dass Melonis Sieg auch Marine Le Pen stärken könnte. Wie Le Pen spricht Meloni von einem „Europa der Vaterländer“. Was das genau bedeuten soll, ist nicht ganz klar, aber wie immer man dieses Schlagwort auch interpretieren mag – es zielt auf einen Rückbau der Europäischen Union und auf eine Stärkung der Nationalstaaten.



So einfach zu bewerkstelligen wäre das allerdings nicht. Denn es gibt eine Reihe von Hürden, die dabei zu überwinden sind. Die erste trägt einen Namen: Sergio Mattarella. Der Staatspräsident hat schon in der Vergangenheit mehrmals seine Macht gebraucht, um Italien auf europäischen Kurs zu halten. Auch diesmal wird er sehr genau darauf achten, ob die Regierung Meloni in ihrer Zusammensetzung und in ihrem Programm kompatibel mit der EU ist. Mattarella kann und darf nicht zu tief in die Regierungsbildung eingreifen, denn ansonsten riskierte er einen Verfassungskonflikt. Aber er kann feste Leitplanken errichten, und das wird er gewiss auch tun.



Die größte Unbekannte für Europa bleibt Giorgia Meloni selbst. Sie behauptet, eine verantwortungsvolle, ernsthafte konservative Kraft in Italien etablieren zu wollen, ja schon etabliert zu haben. Man wird sehen, ob das stimmt. Eines kann man schon jetzt sagen: Meloni ist eine Nationalistin – und Europa wird lernen müssen, mit ihr zu leben.    

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2022, S. 79-82

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Mehr von den Autoren

Ulrich Ladurner ist Europa-Korrespondent der ZEIT in Brüssel und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm „Der Fall Italien. Wenn Gefühle die Politik beherrschen“ (2019).

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