Die große Ausnahme
Brief aus … San José
Warum Costa Rica die Insel des Wohlstands in einem Meer von Armut ist
Weshalb spricht eigentlich, wenn von Lateinamerika die Rede ist, nie jemand von San José? Weil Costa Ricas Hauptstadt keinen malerischen Malecón à la Havanna zu bieten hat, keine Kathedralen im spanischen Kolonialbarock, aber vor allem keine charismatischen Präsidenten, die pittoresk mit Pistolen herumfuchteln?
Seit Abschaffung der Armee im Jahre 1948 gilt für Costa Rica der Satz des Dichters und späteren nicaraguanischen Vizepräsidenten Sergio Ramirez: „Costa Rica, sicherer Zufluchtsort im Mittelamerika der geheimen Friedhöfe.“ In diesem Viereinhalb-Millionen-Einwohnerland gab es nie rechte Todesschwadronen oder linke Umerziehungslager.
Bereits in den dunklen sechziger Jahren hatte Ernesto Cardenal, Befreiungstheologe und gesinnungsstarker Lyrikproduzent, über die lebenswelt-liche Idylle des kleinen Nachbarlands gedichtet: „In Costa Rica singen die Fuhrleute / und die Musik spielt auf dem Dorfplatz. / In San José sind die Balkone und Fenster / voll Mädchen, voll Blumen. / Und die Mädchen spazieren im Park. / Und der Präsident geht zu Fuß in San José.“
Weshalb aber hatten dann Ramirez, Cardenal & Co bis zu ihrer späten Desillusionierung nach 1989 nicht jenem an Skandinavien gemahnenden costa-ricanischem Modell mitsamt freier Wahlen und freier Wirtschaft, Gewaltenteilung und funktionierendem Sozialstaat ihre Präferenz gegeben – sondern kubanischen und DDR-deutschen Stasileuten und Marxismus/Leninismus-Dozenten? Und weshalb erwähnt man, wenn es um Armutsbekämpfung geht, lieber großsprecherische Potentaten wie Hugo Chávez oder die Castro-Brüder und nicht Costa Rica, das in jedem Index abwechselnd mit Chile den ersten Platz in Lateinamerika einnimmt, wenn nach Demokratie, Minderheitenrechten, Bildung oder Gesundheitsfürsorge gefragt wird?
Carlos Cortés, der renommierteste Romancier und Publizist des Landes, kennt die traditionellen Invektiven gegen Costa Rica bereits auswendig: Der Berater von Panamas damals regierendem Links-General Torrijos sagte ihm einmal: „Carlos, amigo, ihr Ticos seid immer so freundlich, vernünftig, moderat … eben keine richtigen Männer, und das liegt an eurer verdammten Demokratie!“
Verhinderte demnach die antikommunistische Grundierung Costa Ricas seine Popularität bei Intellektuellen und Ideologen? Fehlt bis heute schlichtweg der manichäische Kick, die utopische Hybris? Vermutlich wird dem so sein – zumal 1987 Costa Ricas damaliger (und nach langjähriger Pause 2006 nochmals ins Amt gewählte) Präsident Oscar Arias den Friedensnobelpreis für sein Verhandlungsgeschick bei der erfolgreichen Beilegung der blutigen zentralamerikanischen Bürgerkriege erhalten hatte und sich nun um die friedliche Beilegung der aktuellen Honduras-Krise bemüht.
Dabei wäre hier der humane Charme des Moderaten geradezu mit Händen zu greifen. Mag das Billigläden-San José in einem in die Jahre gekommenen Wohlfahrtsstaat auch etwas verwarlost sein, die geradezu unwahrscheinliche Genese von Stadt und Land bietet immer noch Grund zu staunender Freude: Die Hauptstadt nämlich ist relativ jung, und ihre Gründer waren statt spanischer Aristokraten eher neugierige Bürger, unter ihnen viele Freimaurer und Nachkommen der aus Spanien vertriebenen Juden. Sie waren hauptsächlich interessiert am Bau von Schulen, Apotheken und Straßenlaternen, nicht zu vergessen das Teatro Nacional oder Zeitungs- und Buchdruckereien, deren Bestseller-Autoren im 19. Jahrhundert Eugen Sue und Adam Smith (sic!) hießen. Statt scheppernde Paraden oder blutige Putsche zu veranstalten, zog man bereits vor einem halben Jahrhundert lieber kalifornische und japanische Architekten und Erdbebenforscher zu Rate, um in der tektonisch unruhigen Region stoßfeste Gebäude zu errichten – auch dies ein Novum in der traditionellen Latino-Welt eines feierfreudig-fatalistischen Mañana. Und trotz aller Krisen oder auch hier auftretender Korruptionsfälle, trotz -Währungsinflation und aus Kolumbien importierter Rauschgiftprobleme votierte die Bevölkerung im Jahr 2007 in einem weltweit bislang einmaligen und transparent verlaufenen Referendum für den Beitritt zur Mittelamerikanischen Freihandelszone CAFTA; die Arbeitslosigkeit betrug 2008 ganze fünf Prozent – bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 79 Jahren.
Was also spricht dagegen, den moderaten Ticos und ihrem erzsympathischen Land mehr als nur vernunftgesteuerte Zuneigung entgegenzubringen? Es ist das geografisch, historisch und politisch derart Unwahrscheinliche, das hier trotz aller Krisen existiert, Gesellschaft gewordener Einspruch gegen Geschichtsdeterminismus und das Recht des Stärkeren. Ein wenn auch fragiles, so doch reales Wunder – und mehr, viel mehr als lediglich Mythos, Ideologie oder Traum: schöne Küste der Demokratie, Costa Rica.
MARKO MARTIN ist Schriftsteller und Publizist. Soeben erschien sein Erzähl- band „Schlafende Hunde“ (Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag).
Internationale Politik 9/10, September/Oktober 2009, S. 124 - 125.