Essay

01. Juli 2010

Die Gnade der totalen Niederlage

Deutsche und Taliban im Vergleich

An der politischen, militärischen und moralischen Niederlage Deutschlands nach 1945 gab es keine Zweifel. Das beförderte die Integration in ein neues, demokratisches System. Gelänge auch eine „Integration“ der Taliban? Nur, wenn sie eine klare Niederlage befürchten müssten – und wenn ihnen ein akzeptables neues System zur Verfügung stünde.

Was haben ein Taliban-Kämpfer, ein NVA-Soldat und ein NSDAP-Mitglied gemeinsam? Auf den ersten Blick wohl nicht viel. Sie lebten oder leben in unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Kulturkreisen. Ihre Taten, der Charakter und die Brutalität der Regime, für die sie kämpften, waren höchst unterschiedlich. Und Systemvergleiche zwischen Nationalsozialismus, Kommunismus oder gar radikalem Islamismus sind im stets nach politischer Korrektheit strebenden Deutschland ohnehin verpönt.

Dennoch eint die drei Gruppen ein wichtiger Punkt: Ihren Mitgliedern wurde oder wird das Angebot gemacht, sich in ein neues politisches System einzufügen – jeweils von einem übermächtigen politischen und militärischen Akteur. Jüngstes Beispiel ist das beschlossene Programm der internationalen Gemeinschaft für Taliban-Aussteiger, das eines der zentralen Elemente der neuen westlichen Strategie in Afghanistan ist. Ein Vergleich der drei Gruppen zeigt aber, wie unterschiedlich erfolgreich solche Eingliederungsversuche sind und wo ihre Grenzen liegen.

Über Erfolg oder Misserfolg einer Integration oder Reintegration entscheiden keineswegs Zeit, Ort, Kultur oder gar die Höhe der Hilfen. Vielmehr gibt es drei andere zentrale Kriterien für eine gelungene Eingliederung einer einst feindlichen Gruppe: den Grad der empfundenen oder tatsächlichen Niederlage, die andauernde Übermacht des „Integrators“ und eine auch für Verlierer attraktive Ideologie einer siegreichen Gruppe.

Erfolgreich umerzogen

Der Maßstab für eine erfolgreiche Integration undemokratischer, sogar feindlicher Gruppen wurde zweifellos in Deutschland gesetzt. Es grenzt ja an ein historisches Wunder, wie sehr sich dieses Volk nach 1945 verwandelt hat. 1939 hatten die Deutschen die halbe Welt ins Unglück gestürzt. Sie haben mit dem Holocaust die Verantwortung für eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte auf sich geladen. Doch nach 1945 verwandelten sich die Deutschen in eine derart friedliebende oder zumindest militärkritische Gemeinschaft, dass sich die Bundesrepublik seit einigen Jahren von NATO-Verbündeten immer wieder den Vorwurf des Pazifismus gefallen lassen muss. Dabei ist die zuweilen übergroße Zurückhaltung gegenüber dem Einsatz von Gewalt im Grunde der Beweis, wie sehr die Umerziehung nach 1945 glückte.

Möglich wurde dies nur, weil die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg eine totale war. Nicht nur die Wehrmacht, der Staat oder der Nationalsozialismus waren besiegt, sondern ein ganzes Volk. Als sich die Alliierten im besetzten Deutschland an den Aufbau eines neuen politischen Systems machten, trafen sie deshalb auf keinen großen Widerstand. Keine großangelegte Aktion „Werwolf“ versuchte die Restauration des Nationalsozialismus. Dabei hatten die Alliierten genau dies erwartet, hatten doch viele Deutsche und vor allem einige fanatisierte NS-Anhänger noch bis Anfang Mai Widerstand geleistet. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg aber hatten die vollständige Besetzung des Landes, der amerikanisch-sowjetische Handschlag an der Elbe, der Selbstmord Adolf Hitlers und die Berichte über die befreiten Konzentrationslager dem überwiegenden Teil der Bevölkerung allzu deutlich vor Augen geführt, wie umfassend die Niederlage in Wahrheit war: militärisch, politisch, wirtschaftlich und moralisch. Dies förderte die Bereitschaft, sich zu fügen und im neuen System mitzuarbeiten.

Es mag paradox, ja ein wenig zynisch klingen. Aber Unterwerfung und die Bereitschaft zum völligen Neuanfang waren dabei wohl auch die Folge des von den Deutschen angezettelten „totalen Krieges“. Sie machten auch Otto Normalverbraucher die Unterscheidung zwischen „denen da oben und uns da unten“ schwerer. Die kollektive und umfassende Niederlage im Zweiten Weltkrieg haben die Deutschen gemeinsam herbeigeführt, unabhängig davon, wer für die schlimmsten Gräueltaten verantwortlich oder direkt daran beteiligt war.

Während einer Israel-Reise im Jahr 1984 hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl von der „Gnade der späten Geburt“ gesprochen und meinte damit ein gewisses Privileg seiner Generation: Sie war zwischen 1933 und 1945 schlicht zu jung, um sich schuldig zu machen. 65 Jahre nach Kriegsende verwischen diese Unterschiede zwischen den Generationen, die den Krieg noch erlebt haben. Nun rückt der Eindruck der „Gnade der totalen Niederlage“ in den Vordergrund. Der „totale Krieg“ hat unendliche Leiden über andere Völker und über die Deutschen gebracht. Nur die „totale Niederlage“ hat die Bundesrepublik in einen einzigartigen Demokratisierungsapparat verwandelt.

Man mag einwenden, dass die Integration im Westen auch deshalb so gut gelang, weil sich Sieger und Besiegte nach 1945 gemeinsam einem neuen (alten) Feind zuwenden konnten: dem Kommunismus und deren sowjetische Führungsmacht in den westlichen Besatzungszonen. Auf jeden Fall half dies, den alten Gegensatz zu überwinden. Denn schon mit Blick auf den ideologischen Machtkampf mit der Sowjetunion begannen die USA in Deutschland zu investieren. Die Westzonen und dann die Bundesrepublik sollten als Beleg für die politische und wirtschaftliche Überlegenheit des westlichen Systems dienen.

Unter der neuen Frontstellung litt die schonungslose Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der Vergehen Einzelner – es lenkte nur ab von der neuen Aufgabe. Man kann es deshalb moralisch verwerflich finden, wie schnell in der Bundesrepublik Millionen nationalsozialistischer Mitläufer in das neue demokratische System integriert wurden, ohne je zur Verantwortung gezogen zu werden. Aber aus heutiger Sicht war der große Vorteil dieser Entwicklung die unglaubliche Absorptionskraft des neuen demokratischen Systems.

Von einem totalitären System geprägte Menschen verwandelten sich zwar nicht sofort in Demokraten – und die Bundesrepublik wurde nicht sofort zur Musterdemokratie. Aber die große Mehrheit der Deutschen entschied sich für das neue, übermächtige System, weil sie keine Alternative mehr sah, weil die alliierten Flugzeuge auch die letzten Anflüge von Nostalgie weggebombt hatten – und weil sie persönlich einen Vorteil daraus zog. Aus historischer Perspektive war und ist es letztlich gleichgültig, ob viele Westdeutsche einem noch vorhandenen nationalsozialistischen Kern zunächst nur eine demokratische Lackschicht verpasst hatten. Im Laufe der Jahrzehnte kamen so viele Lackschichten dazu, dass sie nicht mehr abplatzen konnten. Immer wieder haben in der Bundesrepublik Erfolge rechtsradikaler Parteien und deren Einzug in den Bundestag oder die Landesparlamente zwar die Angst vor einem Wiedererstarken des Nazismus geschürt. Aber sie waren glücklicherweise immer nur ein kurzfristiges Protestphänomen gegen das Politikestablishment. Die bundesrepublikanische Demokratie hat sich als sehr stabil erwiesen.

Mit Wohlstand gelockt

Anders als die Ausgangslage für eine Integration nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lage nach dem Fall der Mauer 1989 und im Prozess der Wiedervereinigung nach 1990. Auch hier scheint das Schema von Verlierern und Gewinnern zu stimmen, denn die meisten DDR-Bürger empfanden die Entwicklung auch ohne vorangehenden Krieg durchaus als Niederlage „ihres“ Staates – aber eben nur eine halbe. Den meisten Ostdeutschen war 1990 klar, dass der Kommunismus keine Zukunft mehr hatte und dass der Westen die Systemfrage gewonnen hatte. Die große Mehrheit der Bürger war froh darüber, hatte der Identifikationsgrad mit dem SED-Regime doch schon in den Jahren zuvor dramatisch abgenommen. So sehr dies die SED-Nachfolgepartei PDS damals auch anstrebte – eine Rückkehr zum Sozialismus wollte die überwiegende Mehrheit nicht.

Auch die von Bürgerrechtlern damals vertretene Idee eines „dritten Weges“, eines demokratischen Sozialismus, hatte keine Chance. Die Sogkraft des westlichen Systems war schlicht zu groß, so dass es wenige Monate nach dem Sturz der alten DDR-Führung nur noch zwei Optionen gab: Entweder akzeptierten die DDR-Bürger die Aufnahme der neuen Bundesländer in das alte bundesrepublikanische System oder sie zogen sich in eine politische Schmollecke zurück, aus der die Linkspartei bis heute ihre Unterstützung rekrutiert.

Wie in der Nachkriegszeit halfen auch in den neunziger Jahren der Reichtum und letztlich die politische und finanzielle Großzügigkeit Westdeutschlands selbst den ehemaligen Stützen des Regimes, recht problemlos auf die andere Seite zu wechseln. Zwar dauerte die Debatte über den Umgang mit Stasi-Informanten und -mitarbeitern noch lange an. Dennoch war der Integrationsprozess relativ reibungslos. Sogar viele Soldaten der Natio-nalen Volksarmee (NVA) oder des Grenzschutzes wurden in großer Zahl und ohne nennenswerte Konflikte in die Streitkräfte des einstigen kapitalistischen Gegners integriert. Ein Muster aus der Zeit nach 1945 wiederholte sich, wenn auch in abgeschwächter Form: Statt von Ost nach West zu schießen, bereiteten sich viele Sicherheitskräfte einfach darauf vor, im Notfall von West nach Ost zu zielen. Auch die Mitglieder der „Blockflöten-Parteien“ fanden ohne große Probleme eine neue Heimat in den Westparteien CDU und FDP.

Dennoch sind die Friktionen bis heute größer als nach 1945. In der Bevölkerung des „unterlegenen“ Staates hat sich ein stärkeres eigenes Bewusstsein erhalten – nicht nur, weil die DDR ein geschlossenes Staatsgebiet war, in dem Menschen über Jahrzehnte gemeinsame Traditionen und Verhaltensweisen entwickelt hatten. Der Wille, sich vollständig zu integrieren, war vielmehr deshalb nicht so stark, weil sich viele Ostdeutsche zugleich als Verlierer und Sieger empfanden. Immerhin war ein nicht geringer Teil der DDR-Bürger stolz darauf, selbst zum Sturz des SED-Regimes beigetragen zu haben. Doch auch diese Gruppe spaltete sich schnell. Einige mochten recht zügig vom neuen System profitieren. Andere aber hatten trotz genereller Zustimmung zu einer Wiedervereinigung zunächst einmal wirtschaftliche Nachteile oder den Verlust ihres Arbeitsplatzes in Kauf zu nehmen.

Eine Integration hat diese letztlich nicht aufgehalten, sondern nur verzögert. Die große Masse der Ostdeutschen steht heute besser da als früher. Der Westen hat sich ihre Zustimmung zur Vereinigung letztlich mit einem höheren Lebensstandard „erkauft“. Die relativ reibungslose Beteiligung der Linkspartei an etlichen Landesregierungen im Osten zeigt zudem, dass auch die Integration der meisten ehemaligen Kommunisten in das demokratische System gelungen ist.

Kein Anreiz für eine Integration

Nach der zweifach positiven Erfahrung in Deutschland liegt es nahe, dass die westlichen Nationen nun auch in Afghanistan eine erneute Umerziehung versuchen. Die Idee eines subventionierten Ausstiegsprogramms für Taliban-Kämpfer basiert auf derselben Idee, Mitläufer eines bekämpften Regimes gesichtswahrend und mit der Aussicht auf ein besseres Leben in ein neues politisches und gesellschaftliches System zu integrieren.

Allerdings fehlen in Afghanistan sämtliche für eine erfolgreiche Integration notwendigen Elemente. Die meisten Afghanen haben nicht im Geringsten das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben. Die staatliche Bindekraft in dem seit Jahrhunderten von Clans und verschiedenen Ethnien gekennzeichneten Land war noch nie besonders stark ausgeprägt und erodierte in den Zeiten der Sowjetherrschaft und des Widerstands der Mudschaheddin gegen die Besatzer noch weiter. Ethnische, regionale und auch religiöse Identitäten spielten eine immer größere Rolle. Den Sturz der Taliban empfand ein erheblicher Teil der afghanischen Bevölkerung deshalb nur als Beseitigung eines auch für sie lästigen Zustands – aber nicht als Niederlage „ihres“ Systems. Das bremst die Bereitschaft, traditionelle Wertevorstellungen über den Haufen zu werfen und sich gen Westen zu orientieren.

Anders als in Deutschland der Jahre 1945 und 1989 gibt es im Fall Afghanistans auch keinen übermächtigen oder wenigstens deutlichen Sieger. Selbst wenn die internationale Gemeinschaft mittlerweile mehr als hunderttausend Soldaten am Hindukusch aufbietet, empfindet der Gegner diese Streitmacht nicht als überlegen. Ganz im Gegenteil kultivieren die Taliban sogar den Eindruck, dass sie derzeit dabei sind, nach der maroden Supermacht UdSSR nun mit den USA auch die Gewinner des Kalten Krieges langsam aber sicher in die Knie zu zwingen. Denn auch im Westen werden immer heftiger Debatten geführt, dass der Konflikt „militärisch nicht zu gewinnen“ sei.

Dazu kommt der Blick in die Zukunft: 1945 war den Deutschen klar, dass die Alliierten für sehr lange Zeit das Land nicht mehr verlassen würden – es also sinnlos war, die Demokratisierung einfach auszusitzen. 1989 wussten die Ostdeutschen, dass sie die „Wessis“ zwar als manchmal unangenehm empfanden, sie aber nie wieder los würden.

In Afghanistan dagegen streben die westlichen Regierungen von sich aus und aus innenpolitischen Gründen offen einen Abzug an. Auf groteskere Art und Weise können die eigenen Ziele nicht verraten werden. Denn der durchschnittliche Afghane kalkuliert wie damals der durchschnittliche Deutsche: Was bringt es, uns für den Westen zu entscheiden, wenn wir am Ende doch ausgeliefert werden – entweder den radikalen Gotteskriegern oder aber einer oft als ebenfalls gefährlich empfundenen Regierung in Kabul. Warum sollten Afghanen nicht wie die meisten anderen Menschen auch auf der Seite des Siegers stehen wollen? Zumal, weil es in Afghanistan zur existenziellen Bedrohung für den Einzelnen und dessen Familie werden kann, sich womöglich „falsch“ positioniert zu haben.

Ein weiterer wichtiger Faktor droht die Strategie zum Scheitern zu bringen. Es fehlt eine klare und attraktive Ideologie der Sieger, an der sich die Verlierer und Überläufer orientieren könnten. So wenig wie die meisten Afghanen sich einen radikalen Islamismus herbeiwünschen, so wenig sehen sie in dem westlichen Lebensmodell ein Vorbild. Sie empfinden keinerlei Druck, sich an etwas anpassen zu müssen, das sich nicht einmal klar abzeichnet. Es gibt kein Modell, wie sich unsere westlichen Vorstellungen von Demokratie, des Zusammenlebens von Mann und Frau, geschweige denn unsere Moralvorstellungen auf eine so andersartige Kultur wie die afghanische übertragen lassen. Im Vergleich dazu war es für die Deutschen 1945 ein Kinderspiel, den „American Way of life“ zunächst nur oberflächlich, aber dann auch in tieferen und politischeren Schichten zu übernehmen. Bezeichnend ist, dass Mitte Juni nicht etwa die Regierung Karsai, sondern nun die Loja Dschirga, also der (undemokratisch zusammengesetzte) Rat der Stammesältesten darüber beriet, ob man sich nicht mit den Taliban-Kämpfern versöhnen sollte.

Keine Niederlage – keine Lösung

Letztlich kann der Grad der empfundenen oder tatsächlichen Niederlage bei fast allen weltweiten Konflikten als Messlatte dafür dienen, wie groß die Chancen auf eine dauerhafte Lösung eines Konflikts sind. Viele Auseinandersetzungen schwelen gerade deshalb über Jahrzehnte, weil sie keine klaren Gewinner und Verlierer kennen. Als Beispiel dafür sei der Nahost-Konflikt erwähnt. Wer immer sich als Außenstehender wundert, wieso Israelis und Palästinenser partout keinen Frieden schließen wollen, obwohl die Lösung mit einer fairen Teilung Palästinas für den Rest der Welt scheinbar auf der Hand liegt, muss nur an eines denken: Sowohl Israelis als auch Palästinenser fühlen sich gleichzeitig als Opfer und Sieger – aber keinesfalls als Verlierer.

Der jüdische Staat ist militärisch derart überlegen, dass seine politischen Führer stets darauf setzen, palästinensisches Aufbegehren immer wieder neu unterdrücken zu können – während man sich gleichzeitig den Attentaten der Palästinenser schutzlos ausgeliefert fühlt. Die Palästinenser dagegen fühlen sich noch in der militärischen Niederlage als moralische Sieger vor dem Rest der Welt. Zudem sehen sie die Zeit und den Faktor Demografie ganz auf ihrer Seite. Wieso also sollte eine der beiden Seiten nachgeben? Nur der klare Verlierer in einem Konflikt empfindet eine Dringlichkeit, die eigene Position völlig in Frage zu stellen. Darauf hat der Historiker Wolfgang Schivelbusch schon vor Jahren in seinem beeindruckenden Buch über „Die Kultur der Niederlage“ hingewiesen, die er am Beispiel der amerikanischen Südstaaten 1865, Frankreichs 1871 und Deutschlands am Ende des Ersten Weltkriegs untersucht. Eindrucksvoll beschreibt er, wie verhängnisvoll etwa in Deutschland die Kapitulation 1918 ohne klare militärische Niederlage war. Ein bloßer Rückzug an die damaligen deutschen Reichsgrenzen hätte vermutlich ein Kriegsende ohne einen demütigenden Versailler Vertrag ermöglicht, weil die Alliierten weder über den politischen Willen noch die Mittel verfügten, Deutschland zu besetzen. Doch die anfängliche Erleichterung, überlebt zu haben, schlug sehr schnell in den Versuch um, Dolchstoßlegenden zu fabrizieren, was die Weimarer Republik von Beginn an unterminierte.

Die vorgeschlagene Matrix einer Analyse nach Gewinnern und Verlierern ist kein Plädoyer für die völlige Unterwerfung seiner Gegner oder der Zermürbung der Zivilisten etwa durch Bombardements der Wohngebiete in militärischen Konflikten. Der Hinweis auf die lange nachhallende Wirkung von Sieg und Niederlage auf Völker soll lediglich das Verständnis fördern, wo die Grenzen für dauerhafte politische Lösungen liegen.

Banal ist dies dennoch nicht: Denn im Falle Afghanistans wäre diese Erkenntnis die zentrale Voraussetzung dafür, die Unzulänglichkeit der derzeitigen westlichen Strategie zu erkennen und eine wirklich erfolgversprechende Strategie zu entwickeln. Integrieren lassen sich die Taliban-Kämpfer nur, wenn sie das Gefühl haben, die Gejagten, nicht aber die Jäger zu sein. Das wiederum setzt voraus, dass die Alliierten sich dazu durchringen müssen, ihre Abzugspläne so lange zu verschieben, bis die afghanische Armee wirklich allein handlungsfähig ist. Nach Meinung fast aller Experten kann dies jedoch sehr lange dauern – auf jeden Fall länger als die von westlichen Staaten genannten Daten für einen Abzugsbeginn der eigenen Truppen. Derzeit sieht es so aus, als ob der innenpolitische Druck in vielen NATO-Staaten eine längere Anwesenheit aber verhindert. Eine Wiederholung der großen Integrationserfolge von 1945 und 1990 ist deshalb in Afghanistan nicht zu erwarten.

Dr. ANDREAS RINKE ist Publizist und lebt in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2010, S. 114 - 121

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