Die „Gaming-Demokratie“
World of Warcraft ist eine der profitabelsten Unternehmungen in der Geschichte der Videospielindustrie. In diesem Online-Rollenspiel erkunden Millionen von Spielern gleichzeitig eine virtuelle Welt, treffen andere Spieler, erfüllen Aufgaben und bekämpfen Monster. Was hat World of Warcraft mit Politik zu tun? Weit mehr, als man denkt.
Beginnen wir mit dem langjährigen Mitgestalter eines in Hongkong ansässigen Unternehmens namens Internet Gaming Entertainment. Diese Firma war im „Gold Farming" tätig – dem Handel mit virtueller Währung in Online-Spielen, insbesondere des Rollenspiels World of Warcraft. Der Name dieses Mitarbeiters ist Steve Bannon.
Bannon befindet sich derzeit zwar am Rande der politischen Macht in den USA, der Einfluss seiner Ideen in der jüngeren Vergangenheit kann jedoch schwerlich unterschätzt werden. Er ist der Mann, der im Wesentlichen den intellektuellen Rahmen für Donald Trumps erste Amtszeit als Präsident geschaffen hat. Der amerikanische Radikalismus sollte sich im ganzen Land – und in der ganzen Welt – verbreiten. Um dies zu erreichen, nutzte Bannon seine Erfahrungen beim Aufbau von Gaming-Communities, mit der auch die rechtspopulistisch bis rechtsradikale Website Breitbart News ihr Publikum aufgebaut hatte. Aus den Nutzern dieser Plattform entstand ein wahrer „digitaler Schwarm“ – ganze Armeen von Trollen und Trump-Aktivisten, deren Strategie und Taktik Populisten auf der ganzen Welt inspirierte.
Verstärkung der Polarisierung
Im 21. Jahrhundert entsteht ein völlig neues politisches Phänomen – eine Form der „Gaming-Demokratie”, die eng mit neuen Technologien verbunden ist. Dabei geht es nicht nur um den Einsatz digitaler Tools für die Kommunikation zwischen Wählern oder für Online-Wahlkampagnen. Daran haben wir uns gewöhnt. Schon vor mehr als einem Jahrzehnt beschrieb der deutsch-amerikanische Wissenschaftler Ralph Schröder den Aufstieg der „digitalen Demokratie”. Heute ist das für uns so normal, dass wir es kaum noch wahrnehmen.
„Gaming-Demokratie“ stellt jedoch den nächsten Schritt in Richtung Polarisierung dar. Ihre Wurzeln liegen in der Erkenntnis, dass die Gemeinschaft der Gamer eine ganz besondere Rolle für einen politischen Kandidaten spielen kann. Im Mittelpunkt steht dabei eine Schwarz-Weiß-Malerei – eine klare Trennung zwischen Gut und Böse, wie in World of Warcraft – und nicht der Wettbewerb zwischen konkurrierenden Parteien, wie in der liberalen Demokratie.
Fokus auf junge Männer
Tim Saler, ein auf Daten- und Wahlkampfanalysen spezialisierter Politikberater, machte Anfang 2024 eine überraschende Entdeckung. Bislang ging man allgemein davon aus, dass Donald Trump die Wahl 2020 verloren hatte, weil er Wählerinnen verprellt hatte, die seiner aggressiven Art und seinen Angriffen auf Frauen überdrüssig geworden waren. Saler bemerkte jedoch etwas anderes: Mehr noch als die Frauen selbst waren es ihre Ehemänner – Männer, die zuvor die Republikaner gewählt hatten –, die ihre Unterstützung auf Joe Biden verlagerten.
Die Trump-Kampagne begann daraufhin mit einer strategischen Maßnahme. Anstatt zu versuchen, bereits abgewanderte Wähler zurückzugewinnen, richtete sie ihren Fokus auf junge Männer – Personen, die sich nicht intensiv mit Politik befassten, sondern viel Zeit in der alternativen Realität von Videospielen verbrachten. Auf diese Weise identifizierte das Team bis zu 11 Prozent der Wählerschaft, die dann individuell angesprochen und mobilisiert wurden, nicht nur um für Trump zu stimmen, sondern auch, um andere davon zu überzeugen, dasselbe zu tun.
Das Tool selbst – virtuelle Realität – hätte nicht ausgereicht, schließlich nutzte das auch Kamala Harris' Wahlkampfteam: Unter anderem erstellte es eine Karte namens „Freedom Town, USA” innerhalb der Welt von Fortnite. Doch Harris' Stadt blieb leer, fast niemand wollte sie besuchen. Warum?
Das Phänomen der Online-Rollenspiele, in denen sich ein globaler Kampf gegen das Böse entfaltet, ist entscheidend für das Verständnis der zusätzlichen Eigenschaft, die Populisten besitzen – und die sie oft erfolgreich macht. Videospiele erzählen häufig vereinfachte Geschichten über Konflikte zwischen zwei gegensätzlichen Kräften. Der Spieler ist ein Soldat, ein Ritter, ein Superheld. In ähnlicher Weise betonen die Politiker, die heute Washington regieren, das Element des Kampfes in manichäischer Terminologie, Gut und Böse. Tatsächlich handelt es sich um dieselbe philosophische Quelle, die der westlichen Kultur seit dem Mittelalter bekannt ist – nur dass sie diesmal auf die Weltanschauung der fundamentalistischen Christen reduziert wurde, die sich in Washington um Donald Trump versammelt haben.
Es gibt nur noch Schwarz und Weiß
Das berüchtigte „Project 2025” verspricht die Errichtung einer religiösen Autokratie in den Vereinigten Staaten. Und auch wenn Trump selbst behauptet, nichts mit dem Projekt zu tun zu haben, passen viele seiner Handlungen nach dem Wahlsieg stark zu dieser Folie. Der moralisch aufgeladene Streit, der um Themen wie Migration, Bildung, Universitäten oder die Verfolgung politischer Gegner entfacht wurde, wird immer von einer religiösen, absolutistischen und zutiefst manichäischen Rhetorik begleitet.
Es ist auffällig, wie gut die Weltanschauung, die in Spielen wie World of Warcraft verankert ist, in die aktuelle politische Spaltung der Welt in zwei konträre Lager passt. Sie wirft ein Schlaglicht auf die sich vertiefende globale Polarisierung im Kampf um die Bedeutung der Demokratie. Die Kraft dieser „Gaming-Demokratie” liegt gerade in ihrer vereinfachten, ja primitiven Sichtweise der Realität.
Das Echo dieser MAGA-Ideologie, so verstanden, ist sowohl in den Äußerungen von AfD-Politikern in Deutschland als auch in der Rhetorik des neuen polnischen Präsidenten Karol Nawrocki zu hören. Wo immer sie auftritt, offenbart die „Gaming-Demokratie” ihr wahres Gesicht: das der Nicht-Demokratie.
Aus dem Englischen von Martin Bialecki
Dieses Stück ist das fünfte in einer Reihe IP-exklusiver Texte der beiden Autoren unter dem Titel „Von den Missverständnissen Europas“.
Internationale Politik, Online-Veröffentlichung, 22. Oktober 2025
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