Online-Veröffentlichung

12. Juni 2025

Die zwei Versionen des Westens

In ganz Europa diskutieren politische Entscheidungsträger darüber, wie sie auf Trumps Rückzug aus der liberalen Demokratie reagieren sollen. Dabei erscheint der Westen nicht mehr als ein einzigartiges Projekt. Denn der neue Populismus präsentiert sich als Verteidiger des Westens – eines Westens aber, der seiner letzten und wichtigsten Entwicklung beraubt ist: der liberalen demokratischen Ordnung.

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Bild: Illustration einer Hand, die die Staaten Europas auf einer Karte neu zusammenfügt
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Vor zwanzig Jahren erschien eine monumentale Darstellung der deutschen Geschichte unter dem Titel “Der lange Weg nach Westen”. Ihr Autor, der 1938 in Königsberg geborene Heinrich August Winkler, vertrat die Ansicht, dass Deutschland nie ganz zum "Westen" gehört habe. Kulturell schon; doch politisch wehrten sich die deutschen Eliten lange gegen das, was Winkler als die entscheidende institutionelle Errungenschaft des Westens ansah: die repräsentative Demokratie auf der Grundlage der Gewaltenteilung. Dies änderte sich erst nach 1945 durch die Politik der Westbindung von Bundeskanzler Konrad Adenauer, die Deutschland institutionell und strategisch an den Westen band. In Ostdeutschland musste der Beginn dieses Prozesses bis nach dem Fall der Berliner Mauer warten.

Für osteuropäische Beobachter ist dies ein seltsames Argument. Für sie war Deutschland schon immer “der Westen" - geografisch, kulturell, historisch. Und außerdem: Es gab nie einen einzigen Westen, sondern mehrere Versionen davon. Aus der Perspektive von Warschau oder Vilnius war die westliche Zivilisation ein vielschichtiges und plurales Phänomen.

Wie auf die Zeitenwende unter Trump reagieren?

Nach 1989 war das Versprechen dieser Zivilisation für Osteuropa von großer Bedeutung. Die kleineren Staaten der Region begannen, sich an den anspruchsvollen Standards der liberalen Demokratie zu orientieren. Die Verfassungen wurden umgeschrieben, das öffentliche Leben wurde demokratisiert, Marktwirtschaften wurden aufgebaut. Viele dieser Länder traten der NATO und der Europäischen Union bei. Dieser Prozess verlief alles andere als reibungslos oder einheitlich – man denke nur an Viktor Orbáns Ungarn oder an die fast ein Jahrzehnt währende populistische Herrschaft in Polen. Aber die Richtung war klar: Die osteuropäischen Staaten modernisierten sich durch eine immer engere Bindung an den Westen.

Diese Geschichte wird heute mit besonderer Dringlichkeit in Erinnerung gerufen, nachdem Präsident Donald Trump in Washington an die Macht zurückgekehrt ist. Seine neue Regierung versucht nicht nur, globale Allianzen neu zu ordnen, sondern stellt auch die Grundlagen der liberalen demokratischen Werte in Frage.

In ganz Europa diskutieren die politischen Entscheidungsträger darüber, wie sie darauf reagieren sollen. Aber mehr noch, wieder einmal beginnen viele zu erkennen, dass der Westen kein einzigartiges Projekt ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg – und erneut nach dem Kalten Krieg – schien es so, als gäbe es nur einen Westen. Aber im Jahr 2025, inmitten wachsender Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung und die Zukunft des Liberalismus, ist es klar geworden, dass es womöglich derer zwei gibt. Dies ist nicht nur ein semantischer Streit.

US-Absage an den demokratischen Universalismus

Als Winkler sein Buch veröffentlichte, schrieb der französische Philosoph Philippe Nemo jenseits des Rheins darüber, wie die westliche Zivilisation entstanden ist. Sein kurzer Band zeichnete eine Kette von prägenden Momenten nach: Athen, Rom, Jerusalem, der Aufstieg des Christentums und schließlich, nach 1945, der Siegeszug der liberalen Demokratie. Doch Nemos historische Kette warf eine unbeabsichtigte Frage auf: Was geschieht, wenn das letzte Glied, die liberale Demokratie, entfernt wird?

Über die heutigen ideologischen Grenzen hinweg ist gerade dieser Endpunkt umstritten. Die früheren Stufen werden oft akzeptiert. Aber es ist die politische Form, die uns entzweit.

Im Jahr 2025 haben wir es also nicht mit einem Westen zu tun, sondern mit zwei. Diese Divergenz hat sich in der politischen Arena herauskristallisiert. Liberale Demokraten stehen in offener Konfrontation mit populistischen Führern, die versuchen, genau die Institutionen zu demontieren, die ihre Vorgänger einst aufgebaut haben. Der stärkste Schock kam aus den Vereinigten Staaten selbst, wo JD Vance in München eine berühmt gewordene Rede hielt; ein Moment, den viele in Europa als eine klare Absage an den demokratischen Universalismus verstanden. Die Länder teilen sich auf in solche, die vom liberalen Konstitutionalismus regiert werden, und solche, die sich einem illiberalen Populismus zuwenden. Diese Spaltung ist nicht nur politisch, sie betrifft auch die Wissenschaft, die Wirtschaft und den öffentlichen Diskurs.

Der Bruch ist eine Warnung

Es ist paradox, dass dies wohl vom Osten aus am deutlichsten zu sehen ist. Nationen, die einst danach strebten, Teil eines imaginären Westens zu werden (des Westens der Demokratie und der Rechte nach 1989), sind nun gezwungen, mitzuerleben, wie diese Vision in zwei Teile gespalten wird.

Diese Überlegungen sollen nicht dazu dienen, uns mit dem Satz "das haben wir schon einmal erlebt" zu trösten. Ganz im Gegenteil. Der Bruch, den wir jetzt beobachten, sollte uns als Warnung dienen. Der neue Populismus präsentiert sich als Verteidiger des Westens – aber eines Westens, der seiner letzten und wichtigsten Entwicklung beraubt ist: der liberalen demokratischen Ordnung, die sowohl Winkler als auch Nemo als Höhepunkt der westlichen Tradition ansehen. Diese Version des Westens bietet keine Zukunft. Sie bietet eine Rückkehr in die Vergangenheit – zu Absolutismus, Nationalismus, Faschismus, Kommunismus und Autoritarismus.

Dieser Text ist der Auftakt einer Reihe exklusiver Texte der beiden Autoren unter dem Titel “Europa neu denken”, die zunächst auf der Website der IP veröffentlicht werden.


Aus dem Englischen von Martin Bialecki

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online-Veröffentlichung, 12. Juni 2025

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Dr. Jarosław Kuisz ist außerordentlicher Professor an der Universität Warschau und Chefredakteur der Zeitschrift Kultura Liberalna in Warschau. Er ist Autor des Buches „Die neue Politik Polens: "Ein Fall von posttraumatischer Souveränität".


Dr. Karolina Wigura ist außerordentliche Professorin an der Universität Warschau und Vorstandsmitglied der Stiftung Kultura Liberalna in Warschau. Beide sind Associates in Russian and East European Studies (REES) an der Oxford University School for Global and Area Studies und Senior Fellows am Zentrum Liberale Moderne in Berlin. Kürzlich haben sie gemeinsam das Buch "Post-traumatische Souveränität: Ein Essay über Ostmitteleuropa" veröffentlicht.

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