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01. März 2012

Die erforschte Zukunft

Warum Szenarien helfen, sich auf kommende Sicherheitsgefahren einzustellen

Niemand kennt die Zukunft, doch wer sie in Szenarien denkt, kann Sicherheitsbedrohungen besser wahrnehmen. Geheimdienste und Industrie machen sich dies längst zunutze, für die Verteidigungsministerien der USA oder Großbritanniens gehören Szenarien zum Alltag. Höchste Zeit, dass sich die deutsche Politik dafür öffnet.

Dass die Zukunft offen und unbekannt ist, gehört zu den Beschränkungen menschlichen Lebens. Der Wunsch, in die Zukunft zu blicken, spielt deshalb in Märchen und Mythen eine wichtige Rolle. In vielen Kulturen begründet er die Macht etwa von Schamanen oder Priestern. Im 21. Jahrhundert ist es sogar zu einem lukrativen Geschäftsmodell geworden, die Zukunft vorherzusagen.

So versucht die in Boston ansässige Firma „Recorded Future“, aus der riesigen Menge an Daten im Internet verwertbare Informationen über kommende Entwicklungen von Unternehmen und Branchen herauszufiltern. Zu den Kunden in der Finanzindus­trie gehören etwa Hedgefonds, die für die stündliche Auswertung von mehr als 100 000 Websites bis zu 9000 Dollar pro Monat zahlen. Das Geschäft mit der Zukunft ist so vielversprechend, dass „Recorded Future“ seine Expansion auch mit Risikokapital von Google und von dem für die CIA arbeitenden Unternehmen In-Q-Tel ­finanziert.1

Die Analyse der Zukunft

Die Analyse nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft hat also die nächste Stufe der Professionalisierung erreicht. Mit der digitalen Technik können scheinbar isolierte Meldungen aus aller Welt aus den Bereichen Medizin, Militär, Umwelt und Wirtschaft sortiert und eingeordnet werden, um große künftige Trends zu erkennen. Das Engagement eines Geheimdiensts zeigt dabei, wie groß der Bedarf an Expertise nicht nur für die ist, die Geld vermehren wollen, sondern auch für die, die Staaten und Gesellschaften schützen müssen.

Denn seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 sitzt das Trauma tief, dass sich der mächtigste Geheimdienst der Welt zwar intensiv auf Gefahren vorbereitet – aber leider nicht erkannt hatte, dass die Bedrohung für die USA diesmal aus einer ganz anderen Richtung kommen würde. Seither ist die Offenheit für unorthodoxe Ansätze gewachsen, mit denen sich mögliche Gefahren erahnen und die gedankliche Unbeweglichkeit großer Institutionen umgehen lassen. Dazu gehören ein CIA-Schreibseminar für Science-Fiction-Autoren – und der weltweite Siegeszug der Szenarien-Technik.

Denn für das Erkennen von Sicherheitsbedrohungen haben Szena­rien entscheidende Vorteile gegenüber klassischen Analysen der Experten. Letztere beschäftigen sich bisher meist mit der Vergangenheit. Szenarien dagegen wagen einen Blick in die Zukunft. Anders als Science Fiction basieren sie aber auf Fakten, sie sind nicht freischwebend. Sie nehmen einen erkennbaren und vorhandenen Trend auf und erlauben, eine oder mehrere wahrscheinliche Varianten einer daraus entstehenden Entwicklung durchzuspielen.

Gedankliche Lockerungsübungen

Szenarien sind also gedankliche Lockerungsübungen und schärfen zugleich die Wahrnehmung. Sie erlauben gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik, sich von den durch Erfahrungen oder durch altes Wissen geprägten Denkmustern zu lösen. Sie können Gesellschaften und Sicherheitsdienste zwar nicht auf die „schwarzen Schwäne“, also die zu­fälligen, überraschenden Wendungen der Weltgeschichte vorbereiten. Aber sie sind eine gute Vorbereitung auf die „unknown knowns“, um auf eine unumstritten kluge Bemerkung des umstrittenen früheren US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld anzuspielen.2 Sie öffnen den Blick für das, was kommen könnte, wenn man in der Gegenwart nur auf die wirklich wichtigen Trends schaut.

Es ist wenig verwunderlich, dass zu den ersten, die das Mittel des Szenarios nutzten, Unternehmen und Militärs gehörten. Für beide ist die Vorbereitung auf die Zukunft Bestandteil einer notwendigen Überlebensstrategie. Die Militärs erproben deshalb mit „war games“ Strategien und ihre Folgen. Und der Ölkonzern Shell profitierte nach dem ersten Ölpreisschock in den siebziger Jahren davon, dass er intern von einer „Scenario Unit“ bereits die Folgen hatte durchspielen lassen.3

Bisher haben Politiker und regierungsnahe Einrichtungen zumindest hierzulande gezögert, die Methode der Szenarien zu nutzen. Die Angst überwiegt, falsch verstanden zu werden, wenn solche internen Planspiele bekannt werden – was in unserer relativ offenen Demokratie nicht unwahrscheinlich ist. Gerade die Euro-Krise hat gezeigt, dass Medien das Nachdenken über das „Mögliche“ schnell mit dem „Gewollten“ und dem „Unabwendbaren“ verwechseln. Die folgende Skandalisierung trägt dazu bei, dass einige Ministerien aus Sorge, einen politischen Preis dafür zahlen zu müssen, das Vorausdenken über mögliche Konflikte und Probleme gleich ganz systematisch meiden. Wer etwa über die Folgen eines Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone auch nur nachdenkt, gerät in den Verdacht, genau diese Entwicklung anzustreben – oder setzt sich der Gefahr aus, dass ein Austritt realistischer wird, wenn die Gedankenspiele öffentlich gemacht werden. Dazu kommt, dass Szenarien ein Wagnis für Autoren und vor allem Wissenschaftler sind, weil sie sich nicht mehr auf die traditionelle nachträgliche Erklärung beschränken, warum eine Entwicklung zwangsläufig so eintreten musste, wie sie kam, sondern sie sich auf Neuland vorwagen und exponieren müssen.

So verständlich diese Vorsicht auf den ersten Blick sein mag – sie ist falsch und kurzsichtig. Sicherheitsbehörden in anderen Ländern machen es längst vor, wie sinnvoll es sein kann, sich mit Trends zu beschäftigen, sich mit Aussagen für künftige Entwicklungen vorzuwagen und damit wichtige innen- und außenpolitische Debatten anzustoßen. So veröffentlichte der National Intelligence Council, das für die Strategieplanung zuständige Zentrum der US-Geheimdienste, bereits 2008 das Buch „Global Trends 2025: A transformed world“. Für die Verteidigungsministerien der USA, Großbritanniens und Australiens gehört es zum Standard, sich über die Zukunft Gedanken zu machen – und die Gedanken der Öffentlichkeit auch kund zu tun.4

In allen Szenarien: Chinas Aufstieg

In Deutschland gibt es diese Debatte dagegen bisher kaum. Dabei geht es auch anders. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise ließ der Bundesnachrichtendienst von einer interdisziplinären internen Arbeitsgruppe drei Szenarien entwerfen, wie die Turbulenzen an den Finanzmärkten die Welt verändern, wer die „Gewinner“ und wer die „Verlierer“ sein könnten. Das war spannend und schon wegen des in allen Szenarien vorkommenden Aufstiegs Chinas zur Supermacht erhellend. Aber typischerweise hielt der BND die Studie unter Verschluss, statt mit ihr einen interessanten Beitrag zu einer ehrlichen Diskussion über die deutschen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen zu leisten.5

Jetzt aber kommt Bewegung in die Debatte. Im November 2011 hat die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zehn vor allem auf die nahe Zukunft ausgerichtete politische Szenarien vorgestellt. Unter dem Titel „Ungeplant ist der Normalfall“ spielen die SWP-Experten in zehn Fällen durch, was im Jahr 2012 an geopolitischen Umwälzungen passieren könnte, die nicht automatisch ganz oben auf der Liste der Experten stehen – oder öffentlich nicht diskutiert werden. Die Begründung für diesen Ansatz formulieren die Herausgeber, Volker Perthes und Barbara Lippert, so: „Die meisten Krisen und Probleme, mit denen die Politik sich befassen muss, entstehen aus einer Kombination durchaus bekannter Elemente.“6

Das Spektrum der Gedankenspiele reicht von der drohenden Blockadehaltung in den Geberländern der Euro-Zone über eine dramatische Zuspitzung in Nordkorea, die sehr aktuelle Möglichkeit, dass saudische Öllieferungen ausfallen, bis zum Umkippen des „arabischen Frühlings“ in eine Radikalisierung der Länder Nordafrikas. Wie sich ein Ausfall saudischer Öllieferungen bemerkbar machen könnte, spielten Anfang 2012 Experten auch während der Herzliya-Konferenz des „Interdisciplinary Center“ in Israel durch: „Öl zu einem Preis von 250 Dollar pro Barrel“ hieß das Szenario, das als Auslöser einer neuen Ölkrise einen Terroranschlag auf eine Großraffinierie zugrunde legte. Weit hergeholt ist diese Frage nicht: Schon mehrfach wurden Anschläge auf Knotenpunkte der Ölindustrie vereitelt.

Im April erscheint von den Autoren das Buch „11 drohende Kriege“, das sich mit möglichen, bisher noch nicht oder nicht ausreichend diskutierten Sicherheitsrisiken im 21. Jahrhundert beschäftigt.7 Der Ansatz ist noch ein Stück radikaler als der der SWP, weil die vorgestellten Szenarien viel weiter in der Zukunft spielen, ohne aber Prophezeiungen sein zu wollen. Nur werden bestimmte Gefahren der Gegenwart erst deutlich, wenn man auch die langfristigen Folgen betrachtet.

Was geschieht eigentlich, wenn die USA in einer Phase des wirtschaft­lichen Niedergangs aufhören, ein erfolgreicher Schmelztiegel verschiedener Ethnien zu sein? Was könnte passieren, wenn die riesigen Gletscher des Himalaya-Gebirges wegen des Klimawandels nicht mehr ausreichend Wasser für China und Indien liefern? Wie können neue Technologien wie die Neuro- oder IT-Technologie auch die Kriegsführung verändern? Was passiert, wenn China seine Bevölkerung nicht mehr mit hohen Wachstumsaussichten ruhig halten oder den gigantischen Rohstoffhunger seiner Industrieunternehmen nicht mehr friedlich stillen kann? Und welche Folgen könnte eine fatale Mischung aus Überschuldung, mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, Immigrationsdruck aus Afrika und der Unfähigkeit einer echten Integration von Migranten in die europäischen Gesellschaften und die EU haben?

Grundlage für die Szenarien ist die These, dass die Welt einigen wichtigen, sehr mittel- und langfristig wirkenden „Stressfaktoren“ ausgesetzt ist, die unsere Zukunft maßgeblich prägen und sich gegenseitig beeinflussen werden. Dazu gehören demografische Trends, die sowohl eine weitere massive Zunahme der Erdbevölkerung, eine Alterung der Industriegesellschaften als auch stark veränderte ethnische, sprachliche und soziale Zusammensetzungen der Bevölkerung in vielen Ländern zur Folge haben. Zwar wird dies als allgemein bekannt vorausgesetzt, erstaunlicherweise wird aber relativ selten durchgespielt, welche langfristigen, auch sicherheitspolitischen Folgen dies haben kann.

Zu den Stressfaktoren gehören zudem die technologischen Entwicklungen, die in ihrer positiven wie negativen Wirkung als Transformationsfaktor völlig unterschätzt werden. Dabei wird die Weiterentwicklung etwa der Bio- und Gentechnik, des Internets sowie der Waffentechnolo­gien unser Leben – übrigens auch die Art und Weise, wie Kriege geführt werden – massiv verändern. Ein weiterer Faktor ist die Neujustierung des Verhältnisses zwischen „Staat“ und „Privat“, die sich zum Beispiel in der immer stärkeren Anhäufung von Vermögen auf der privaten Seite und von Schulden auf der staatlichen Seite zeigt – mit gravierenden Folgen für die Entwicklung der Gesellschaft. Damit verbunden ist auch eine schleichende „Privatisierung der Sicherheit“.

Langfristige Folgen benennen

Drei weitere große Trends werden in den Szenarien durchdekliniert, bei denen der Fernblick für das Erkennen ihrer Relevanz ebenfalls wichtiger ist als die tagespolitische Auseinandersetzung. Dazu gehören die Folgen des Klimawandels, bei dem es eine seltsame Diskrepanz zwischen den dramatischen Appellen der Gegenwart und dem Unwillen gibt, langfristige Folgen wirklich zu benennen. Dies betrifft etwa den Einsatz des Geoengineering, mit dem Temperaturänderungen künstlich beeinflusst werden – mit bisher noch unkalkulierbaren Folgen.

Dies trifft auch auf geopolitische Umwälzungen zu, vor denen die Welt steht. Der absehbare relative Abstieg des Westens und der unaufhaltsam wirkende Aufstieg Chinas und anderer Schwellenländer werden ebenfalls selten in der ganzen Breite ihrer Auswirkungen diskutiert. Ein weiterer Stressfaktor ist, dass die Welt gerade eine neue Phase der Ressourcenverteilung, im Grunde eine letzte „Kolonialisierung“ erlebt. Denn es gibt mit den Weltmeeren, dem Weltraum und dem Internet große, für die Menschheit immer wichtiger werdende Bereiche, in denen es bisher weder klare Besitzverhältnisse noch klare Verhaltens­regeln gibt.
Das Ziel fast aller Szenarien-Übungen ist, dass die beschriebenen Entwicklungen gerade nicht eintreten. Dies gilt auch für „11 drohende Kriege“. Der Blick in die Zukunft soll die Öffentlichkeit, aber auch die politischen Akteure dafür sensibilisieren, was kommen könnte und wo mögliche Gefahren lauern. Sie sollen dabei so spannend beschrieben sein, dass sich Leser mit ihnen beschäftigen und nicht nur mit den in Medien meist geführten Debatten um Kurzzeit-­Bedrohungen.

Wie schwierig der Blick in die Zukunft dabei bleibt, zeigte das vergangene Jahr. Die USA und die westliche Welt haben für den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus nach 9/11 zwar hunderte Milliarden Euro ausgegeben. Die dramatischste Veränderung in der arabischen Welt hat aber weder Osama Bin Laden ausgelöst noch dessen Tod. Den Anstoß für den Umsturz in Nordafrika hat der Selbstmord eines bis dahin völlig unbekannten Gemüsehändlers in Tunesien gegeben.

Zwar ist noch ungewiss, wie die Entwicklung in Nordafrika weiter verläuft, ob der islamistische Terrorismus nun geschwächt wird oder womöglich einen noch besseren Nährboden erhält. Aber die Lehre aus dem Umsturz ist, dass man zwar nicht den Anlass einer Veränderung, sehr wohl aber die langfristigen Gründe dafür erkennen kann.

Dr. ANDREAS RINKE ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin. 
CHRISTIAN SCHWÄGERL ist Wissenschafts- und Umweltjournalist (Spiegel, FAZ) in Berlin und Buchautor („Menschenzeit“).

  • 1Quentin Hardy: Crushing the Cost of Predicting the Future, New York Times, 17.11.2011.
  • 2Rumsfeld sagte am 12.2.2002 in einer Presseunterrichtung über den Irak-Krieg in Washington: „There are known knows. There are things we know we know. We also know there are known unknowns. That is to say we know there are some things we do not know. But there are also the unknown unknowns – the ones we don’t know we don’t know.“
  • 3Eckard Minx und Ewald Böhlke: Denken in alternativen Zukünften, Internationale Politik, 12/2006, S. 14–22.
  • 4Als Beispiele seien erwähnt: US Government, National Intelligence Council: Global Trends 2025: A transformed world, Washington DC 2008; Australian Government, Department of Defense: Force 2030. Defending Australia in the Asia Pacific century, Canberra 2009; Ministry of Defense (UK): Future Character of Conflict, London 2010.
  • 5Die Studie ist vertraulich; für die wohl bisher ausführlichste öffentliche Darstellung siehe Andreas Rinke: Die Metamorphose der Geopolitik, Internationale Politik, Juni 2009, S. 38–44.
  • 6Volker Perthes und Barbara Lippert (Hrsg.): Ungeplant ist der Normalfall, SWP, Berlin 2011. Die Szenarien kreisen neben den erwähnten Themen auch um Geoengineering, erneute Grenzverschiebungen im Westbalkan, die neue starke Rolle der Türkei auf Zypern, Unabhängigkeitsbewegungen in EU-Staaten und den Bau von Atomkraftwerken in der arabischen Welt.
  • 7Andreas Rinke und Christian Schwägerl: 11 drohende Kriege, München, April 2012.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 88-93

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