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08. Febr. 2021

„Ich bin Realpolitiker“

In seinem ersten außenpolitischen Grundsatzinterview begründet der neue CDU-Chef, warum er mit dem Begriff des „Russland-Verstehers“ nichts anfangen kann, den Bau von Nord Stream 2 richtig findet und Eurobonds nicht sieht: Armin Laschet im Gespräch mit Andreas Rinke.

Viele fragen sich, ob ein künftiger Bundeskanzler in die großen außen- und europapolitischen Fußstapfen einer seit 16 Jahren regierenden Kanzlerin treten kann. Erwarten Sie Probleme?

Diese Situation gibt es ja bei jedem Wechsel eines Regierungschefs – übrigens auch bei französischen oder amerikanischen Präsidenten. Zur Erinnerung: Auch Angela Merkel verfügte 2005 nicht über das internationale Netzwerk und die Erfahrung wie heute. Der nun anstehende Wechsel ist in einer Demokratie der Normalzustand. 

 

Haben Sie denn außenpolitische Erfahrung?

Schon sehr früh habe ich mich für Außen- und Europapolitik interessiert. Als ich 1994 in den Bundestag kam, ermutigte Helmut Kohl einige von uns jüngeren Abgeordneten, uns um Europa und Außenpolitik zu kümmern. Er verschaffte uns Gesprächstermine mit US-Präsident Bill Clinton im Oval Office, dem russischen Ministerpräsidenten Wiktor Tschernomyrdin im Kreml und Václav Havel auf der Prager Burg. Als Berichterstatter im Auswärtigen Ausschuss habe ich damals fast alle lateinamerikanischen Länder besucht und damit an meine vorherige journalistische Arbeit angeknüpft. Als Europaabgeordneter nach 1999 konnte ich dies fortsetzen und habe den ersten Bericht über die Beziehungen der EU zu den Vereinten Nationen ebenso wie zur Europäischen Nachbarschaftspolitik verfasst und die Vorwürfe des Missbrauchs von EU-Geldern bei der Palästinensischen Autonomiebehörde untersucht. Und als Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten deutschen Bundeslandes trifft man nicht nur die Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Israel, Italien oder den UN-Generalsekretär, sondern steht vor allem auch in einem regelmäßigen Austausch mit den Premierministern in unseren Nachbarstaaten. 

 

Was ist Ihr Antrieb für diese Beschäftigung ausgerechnet mit der Außenpolitik gewesen? 

Seit Schulzeiten haben mich Fragen der globalen Ordnung und die Herausforderung interessiert, wie man gegen Armut, Kriege, Elend und Menschenrechtsverletzungen vorgehen sollte. Das war die Motivation, dann auch politisch tätig zu werden. Im Jurastudium war Internationales Recht mein Schwerpunkt. Meine Examensarbeit befasste sich mit der völkerrechtswidrigen Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion.  

 

Und welche Schlüsse haben Sie aus Ihren außenpolitischen Aktivitäten gezogen?

Außenpolitik dient dem Ziel, unterschiedliche Interessen und Konflikte auf der Basis einer internationalen Rechtsordnung friedlich zu lösen. Dies ist ein kompliziertes Geflecht mit Akteuren ganz unterschiedlicher Gesellschaftsbilder, Kulturen, Traditionen und Religionen, das auch beeinflusst ist von wirtschaftlichen Interessen. Vor 1989 war die Debatte ja noch geprägt vom Kalten Krieg mit gegenseitiger atomarer Bedrohung und einer aggressiven Sowjetunion, die weltweit versuchte, expansiv Einfluss zu gewinnen, ob in Kuba, Nicaragua, Mosambik, Angola oder Afghanistan. Aus dieser Zeit kommt auch die Erkenntnis für mich, dass eine auf die Innenpolitik zielende Rhetorik kein Ersatz für eine kluge Außenpolitik ist – oder zumindest nicht sein sollte. Es geht auch immer um die Kunst, mit Ländern, die andere Gesellschaftssysteme haben – ob Russland, China, die Türkei oder die arabische Welt –, in Beziehung zu treten, Gemeinsamkeiten zu finden und Gegensätze abzubauen. Dabei muss man immer von den eigenen Werten geleitet sein und trotzdem die Realitäten in der Welt wahrnehmen. 

 

Würden Sie sich einen Realpolitiker nennen?

Ja, ich bin Realpolitiker. Aber es geht immer um beides: Werte und Interessen. Es geht darum, eine bessere Welt zu schaffen und deutsche und europäische Interessen zu wahren. Man braucht auch in der Außenpolitik einen klaren Wertekompass. Das sind zuvorderst Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Aber wohlfühlendes Moralisieren und innenpolitische Sprüche sind noch keine Außenpolitik. Wir müssen die Welt nehmen, wie sie ist, um sie besser zu machen.

 

Ärgert Sie, dass man Sie deshalb einen „Russland-Versteher“ nennt?

Der ganze Ausdruck ist seltsam. Außenpolitik besteht gerade darin, seine Verhandlungspartner möglichst gut zu verstehen. Dann kann man agieren, Grenzen aufzeigen und Felder der Zusammenarbeit finden. Wenn aber mit dem Begriff nahegelegt wird, dass es um Verständnis für eine revisionistische Außenpolitik geht oder gar für Völkerrechtsbruch, dann ist klar, dass er in keiner Weise meine Haltung beschreibt. Manches, was ich von politischen Gegnern lese, ist wirklich absurd: Schon in der Jugend war ich sehr transatlantisch geprägt. Ich war immer gegen jede Äquidistanz. Die USA sind unser erster und wichtigster Verbündeter. Meine Adenauersche Prägung ist: tief im Westen verankert zu sein, die USA als unseren engsten außereuropäischen Partner zu verstehen und aus dieser Position der Stärke die Verständigung mit anderen zu suchen. Das war in den Trump-Jahren sicher etwas schwieriger. Aber mit US-Präsident Joe Biden werden wir eng zusammenarbeiten. 

 

Aber nochmal: Russland-Versteher wird ja als Synonym für eine zu weiche Haltung gegenüber Moskau verwendet. 

Was soll das sein? Meine Kritik an der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, an den kriegerischen Vorgängen in der Ostukraine und am Giftanschlag auf und an der Inhaftierung von Alexej Nawalny? Meine Unterstützung für die EU-Sanktionen gegen Russland, weil wir die Verletzung von Grenzen und die Gewaltanwendung gegen Dritte in Europa nicht hinnehmen dürfen? Wer lässt sich einen solchen Unsinn einfallen? Es ist immer ein Tiefpunkt politischer Kultur, wenn man statt differenzierter Sachdebatten versucht, anderen klischeehaft Attribute anzuhängen. 

 

Aber wie die Bundesregierung und viele Ministerpräsidenten unterstützen auch Sie die Nord Stream 2-Pipeline. Sollte die Regierung nach den Festnahmen und der Verurteilung Nawalnys ihren Kurs ändern? 

Seit 50 Jahren, selbst in den aggressiven Zeiten des Kalten Krieges, hat Deutschland Gas aus der Sowjetunion, heute aus Russland, bezogen. Die Bundesregierung verfolgt den richtigen Kurs. Wir sind aus der Steinkohleförderung ausgestiegen, beenden jetzt den Braunkohleabbau und beenden 2022 die Kernenergie. Wir werden für eine Übergangszeit Gas brauchen, das in Deutschland nicht gefördert wird. Wir müssen die geopolitischen Interessen der Ukraine garantieren und unsere Energieversorgung durch dieses privatwirtschaftliche Projekt sichern. 

 

Aber es kommt Kritik auch aus den USA und Frankreich.

Auch die USA beziehen Rohöl aus Russland und aus anderen Ländern der Erde, die nicht zu den Musterländern von Freiheit und Menschenrechten gehören. Die Energiepolitik ist ein wichtiges gemeinsames Thema, das man sicherlich mit dem neuen Präsidenten Biden erörtern kann. 

 

Das wirft die Frage auf, wie die Abwägung zwischen Werten und Interessen im Falle China ist?

Das Verhältnis zu China ist ambivalent. Einerseits müssen wir China als geostrategische Herausforderung und als Systemkonkurrenten sehen. Wir müssen die Menschenrechtsverletzungen etwa gegen die Uiguren klar benennen und kritisieren – das tue ich auch. Aber gleichzeitig treiben wir mit China Handel und haben in einigen Bereichen einen intensiven Wissenschaftsaustausch. Der Hafen Duisburg ist eine wichtige Station des Seidenstraßenprojekts, das für unsere Außenhandelswirtschaft große Bedeutung hat. Aber auch für Bundesländer wie Niedersachsen, Bayern oder Baden-Württemberg ist China schon wegen der Autoindustrie ein riesiger Markt. 

Es geht dabei immer um die Wahrung unserer Interessen – auch bei der Zusammenarbeit im Hochtechnologiebereich. Kein Land darf Zugriff auf unsere kritische Infrastruktur bekommen. Auch bei unserem 5G-Mobilfunknetz muss unser Sicherheitsinteresse gewahrt werden. Genau dies tut die Bundesregierung. Wir müssen wachsam sein und unsere kritischen Infrastrukturen schützen. Und immer an alternativen, europäischen Technologien arbeiten. 

 

Also keine zusätzlichen Schritte wegen Menschenrechtsverletzungen? Die Kanzlerin hat 2007 demonstrativ den Dalai Lama empfangen. Würden Sie dies auch tun?

Es ist eine gute Tradition, dass die Bundesregierung nicht nur Staats- und Regierungschefs trifft, sondern auch andere Personen mit herausragender politischer Bedeutung. Es ist richtig, bei Besuchen immer auch die Opposition zu treffen. Und es ist richtig, sich dort, wo Menschenrechte verletzt werden, auch mit Betroffenen und mit Menschenrechtsverteidigern zu treffen.

 

Würden Sie dies als Kanzler auch tun? 

Jeder Kanzler sollte in der außenpolitischen Kontinuität von Helmut Kohl und Angela Merkel mit den Mitteln der Diplomatie und zur richtigen Zeit auch mit starken Symbolen für Menschenrechte eintreten. 

 

Noch einmal zu dem neuen US-Präsidenten: Alle sagen, dass Deutschland und Europa mehr Verantwortung übernehmen sollten. Aber was heißt das konkret? 

Ein Beispiel ist das europäische Drohnenprojekt, für das ich im Koalitionsausschuss eingetreten bin. Es ist ein europäisches Leuchtturmprojekt, das für europäische Handlungsfähigkeit steht. Wir arbeiten dabei zusammen mit Frankreich, Spanien und Italien. Wenn man eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik will, muss man auch gemeinsam die Verteidigungsmittel produzieren. Wer die Sprache der Macht sprechen will, braucht auch die Instrumente der Macht. Daher ist das Erreichen des 2-Prozent-Ziels der NATO keine amerikanische Zumutung, sondern in unserem Interesse. Wir müssen unsere eigenen Fähigkeiten verbessern.

 

Heißt dies auch, dass sich Deutschland wieder stärker bei Auslandseinsätzen engagieren sollte – in Afghanistan steht ja eher ein Abzug bevor. 

Auslandseinsätze richten sich nach unseren sicherheitspolitischen Interessen und unseren NATO- und EU-Verpflichtungen. Und Exit-Strategien gehören zu jedem Auslandseinsatz. Von Beginn an war klar, dass unser Einsatz in Afghanistan auch wieder enden wird und dass wir uns dazu eng mit unseren Verbündeten und der afghanischen Regierung abstimmen. Wenn die gemeinsame Einschätzung ist, dass die weitere Präsenz nötig ist, wird die Bundeswehr noch bleiben. In Mali handelt es sich bei dem Einsatz mit den Franzosen um einen Stabilisierungseinsatz gegen internationalen Terrorismus, der in deutschem und europäischem Interesse liegt. 

 

Wie beurteilen Sie denn rückblickend die deutsche Nicht-Beteiligung an den Militäreinsätzen in Irak (2003) und Libyen (2011)?

Beim zweiten Irak-Krieg war die Nicht-Teilnahme richtig, auch wenn es eine falsche Intonierung im Wahlkampf gab. Bei Libyen war ich damals aus humanitären Gründen für eine Intervention, räume aber ein, dass sich die Situation seither nicht wesentlich verbessert hat. Interventionen von außen brauchen nicht nur ein völkerrechtliches Mandat. Sie müssen auch strategisch durchdacht sein. Zu viele Interventionen mit dem Ziel des „Regime change“ sind in den letzten 20 Jahren gescheitert, auch weil zu wenig über die Herausforderung der Zeit danach nachgedacht wird.  

 

Das gilt auch für den Syrien-Konflikt. Hier wurde Ihnen zu große Nähe zu Assad vorgeworfen.

Das war und ist Unsinn. Ich habe vor acht Jahren eine differenzierte Wahrnehmung des syrischen Krieges gefordert. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass es eine zivile Opposition gab, die es lohnte zu unterstützen, daneben aber auch eine stark durch radikale Islamisten und Dschihadisten geprägte Opposition, die immer mehr Landesteile kontrollierte. Besonders dramatisch war die Lage in den anfangs von Al-Kaida und Al-Nusra und später vom Islamischen Staat eroberten Dörfern. Dort wurde zuerst brutal die Scharia eingeführt, dann wurden die Christen vertrieben oder ermordet. Ich habe davor gewarnt, dass der IS die Herrschaft in Syrien übernehmen könnte. Das ändert aber nichts daran, dass Assad ein Kriegsverbrecher ist und mit seinen verabscheuungswürdigen Giftgaseinsätzen in eklatanter Weise gegen alle völkerrechtlichen Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung verstoßen hat. 

 

Wären Sie für einen Militäreinsatz des Westens gewesen? 

Nein. Die Lage war und ist sehr komplex. Auf jeden Fall sollte man keine roten Linien definieren, deren Überschreitung man dann folgenlos akzeptiert.  

 

Würden Sie als Kanzler die Position Merkels weiterführen, dass Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsraison ist?

Ja. Die Kanzlerin hat es in der Knesset auf den Punkt gebracht. Zugleich ist es schon immer Kern bundesdeutscher Außenpolitik und meine tiefe persönliche Überzeugung gewesen. Die Sicherheit Israels und eine Lösung des Nahost-Konflikts waren für mich schon immer zentrale Themen. Deshalb habe ich für unser Land Nordrhein-Westfalen eine eigene Vertretung in Tel Aviv errichtet, die unsere Beziehungen auf dem Gebiet von Wissenschaft, Forschung, Kultur, Wirtschaft und Jugendaustausch vertieft. Das Wohl Israels liegt mir persönlich sehr am Herzen, seit ich als 20-Jähriger erstmals das Land besuchte.

 

Dann haben Sie Verständnis für die israelische Ablehnung des Atomabkommens mit Iran?

Ich habe darüber oft mit Ministerpräsident Netanjahu und anderen israelischen Politikern gesprochen, und ich kann die große Sorge vor dem destabilisierenden Potenzial des Iran nachvollziehen. Aber was das Abkommen anbelangt, haben wir unterschiedliche Auffassungen. Ich denke, dass das internationale Atomabkommen die Sicherheit Israels erhöhen und nicht schmälern wird.

 

Kommen wir zu Europa. Wenn Sie sich so früh mit der EU-Nachbarschaftspolitik beschäftigt haben – sind Sie dann für weitere Erweiterungsschritte?  

Wir müssen die EU-Nachbarschaftspolitik wieder verstärken – für die Länder um Europa herum, die kein Mitglied werden. Bei der Erweiterung selbst gibt es den alten Grundkonflikt mit der Vertiefung. Erweiterung und Vertiefung müssen kein Gegensatz sein. Aber wir müssen auch auf die Handlungsfähigkeit der EU achten. 

 

Was heißt dies für den Balkan und die Türkei?

Die Länder des Westlichen Balkans haben eine klare Beitrittsperspektive bekommen. Deshalb sollte die Zusage bleiben, wenn sie denn die Kriterien erfüllen.

 

Und die Türkei?

Die Türkei entfernt sich leider immer weiter von den Rechtsstaatsprinzipien der Europäischen Union.

 

Sollte die Ukraine eine Perspektive haben?

Derzeit stellt sich diese Frage nicht. Wir haben ein hohes Interesse an Stabilität, Souveränität und Modernisierung der Ukraine und müssen die Ukraine auf ihrem schwierigen Weg unterstützen und dabei auch eine europäische Perspektive eröffnen. 

 

Sie gelten als Freund einer weiteren EU-Integration. Wo soll es denn „mehr Europa“ geben? 

Dies gilt beispielsweise für die gesamte Außen- und Sicherheitspolitik. Sicherlich muss man Schritt für Schritt auch von der Einstimmigkeit bei Entscheidungen weg, auch wenn dies bei Auslandseinsätzen wegen des Parlamentsvorbehalts nicht gehen wird. Aber viele außenpolitische Entscheidungen können mit Mehrheit entschieden werden. 

Die richtigen Ansätze finden sich im Aachener Vertrag: Das ist die deutsch-französische Blaupause für Integrationsschritte, aber offen für alle. Dies ist das Modell, das Deutschland und Frankreich fortsetzen und bei dem alle anderen dann mitmachen können.

 

Führt das nicht zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten?

Das haben wir doch längst mit dem Euro- und dem Schengen-Raum, um nur zwei Beispiele zu nennen. Man muss sicher aufpassen, dass ein gemeinsamer Rechtsraum bestehen bleibt. Aber auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sind zwei Geschwindigkeiten möglich. Das sieht PESCO schon jetzt vor, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. 

 

Sie haben mehrfach eine fehlende deutsche Antwort auf Macrons Europa-Vorschläge kritisiert. Was fordern Sie genau?

Die Kritik habe ich vor dem Aachener Vertrag geübt. Dieser ist doch jetzt eine gemeinsame deutsch-französische Umsetzung vieler der Ideen der Sorbonne-Rede. Damit werden zahlreiche Anregungen des französischen Präsidenten aufgegriffen und durch deutsche Vorschläge ergänzt – wie die Zusammenarbeit bei der Rüstungsbeschaffung, der Künstlichen Intelligenz, der Außenpolitik oder der Batterieproduktion. 

 

Aber Macron wollte doch mehr – etwa ein Eurozonen-Budget, Eurobonds, eine Interventions-Initiative im militärischen Bereich.

Beim Eurozonen-Budget habe ich eher institutionelle Bedenken. Das ist der alte Gegensatz in den deutsch-französischen Beziehungen schon seit Kohl und Mitterrand. Frankreich sucht eher intergouvernementale Lösungen, Deutschland will eher den Gemeinschaftsweg gehen. Ich halte es für klüger, ein Eurozonen-Budget nahe am normalen EU-Haushalt zu lassen und an die Kontrolle durch das Europäische Parlament zu knüpfen. Außerdem ist die Forderung Macrons nach mehr Investitionsmitteln für wirtschaftlich schwächere Euro-Länder doch mit der Kohäsionspolitik und der zusätzlichen Unterstützung im Rahmen des Wiederaufbaufonds jetzt nach der Pandemie erfüllt. 

 

Und Eurobonds? Frankreich sieht doch die Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission bereits als Einstieg in eine andere Finanzarchitektur der EU.

Ich sehe Eurobonds nicht. Und zu der Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission sage ich: Das ist jetzt eine einmalige Sache für sechs Jahre. 

 

Wie sehen Sie die Perspektive einer gemeinsamen Armee? 

Das kann sicher eine langfristige Perspektive sein. Wir müssen aber zunächst einmal dafür sorgen, dass Europa bei der Sicherheit gemeinsam agiert. Wir müssen PESCO stärken und gemeinsame Projekte vorantreiben.

 

Was zu der Frage führt, wie eigentlich Ihre Vision für das Ende des europäischen Integrationswegs aussieht: Bundesstaat oder Staatenbund? 

Man kann heute nicht definieren, wie Europa irgendwann einmal aussehen wird. Es ist ein fortlaufender Prozess, der Veränderungen unterliegt. Ein Streit über Begrifflichkeiten hilft nicht weiter. Mehr Europa liegt im deutschen Interesse. Und zu Europa gehört auch die Einhaltung der grundlegenden Prinzipien der Europäischen Union: Das sage ich vor allem im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Ländern wie Polen und Ungarn. 

 

Sind Sie als neuer CDU-Chef dafür, die ungarische Fidesz aus der EVP zu werfen?

Wichtig ist, dass Ungarn an Europa gebunden bleibt. Unter welchen Umständen das möglich ist, diskutieren wir in der EU und in der EVP. Wir haben klare Erwartungen an die Fidesz. Momentan ist die Fidesz-Mitgliedschaft suspendiert – es gibt keinen Anlass, daran derzeit etwas zu ändern.  

 

Sehen Sie die Gefahr eines Auseinanderbrechens der EU?

Nach dem Brexit geht es darum, die 27 Mitgliedstaaten zusammenzuhalten. Zwischen Nord und Süd ist uns dies auch durch die Initiativen unter deutscher Ratspräsidentschaft gelungen. Aber die Debatte zwischen Ost und West ist nicht beendet. Es ist allerhöchste Kunst, da Kompromisse zu finden. Das zeigt die Einigung über den Rechtsstaatsmechanismus im Haushalt. 

 

Also keine Visionen? Merkel wurde das Fehlen solcher Visionen aber vorgeworfen.

Strategischer Weitblick und Leidenschaft sind in der Außenpolitik unverzichtbar. Manchmal muss man in der Außenpolitik auch Ideen entwickeln, die im Tagesgeschäft noch nicht realistisch sind. Das hat Frankreichs Präsident mit seiner Sorbonne-Rede getan und ist damit erfolgreich in den Wahlkampf gezogen. Er hat doch Recht: Die Bürgerinnen und Bürger wollen mehr Europa, etwa bei der inneren Sicherheit, im Kampf gegen Terrorismus, Islamismus, Geldwäsche oder Menschenhandel. 

 

Droht der EU nach der Pandemie eine neue Schuldenkrise?

Alles, was derzeit zu glücklicherweise sehr günstigen Bedingungen an Schulden aufgenommen wird, ist erforderlich, um die Pandemie und die wirtschaftlichen Folgen zu bekämpfen. Aus der Krise und den Schulden kommen wir nur durch wirtschaftliches Wachstum. Deshalb ist der „Green Deal“ zwar wichtig, aber er reicht nicht. Ökonomie und Ökologie zu verbinden heißt auch, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie sichern – bei Stahl, Chemie und Autos. Sie arbeitet übrigens deutlich klimaschonender als auf anderen Kontinenten. Wir müssen bei der Wasserstofftechnologie führend werden.

 

Wenn dafür so viele Investitionen nötig ist – sollte man dann die Schuldenregeln nicht einige Jahre aussetzen? 

Die Regeln sind gut. Die Mechanismen enthalten die nötige Flexibilität – sowohl der Maastricht-Vertrag als auch die Schuldenbremse unseres Grundgesetzes. Denn sie erlauben, in Krisensituationen, wie sie die Pandemie ohne Zweifel ist, abzuweichen. 

 

Das heißt, Sie teilen nicht die Forderung von Kanzleramtschef Braun nach einer Grundgesetzänderung?

Nein. Seine Analyse ist richtig. Aber der Weg über eine Grundgesetzänderung ist falsch. Das Grundgesetz erlaubt zusätzliche Kreditaufnahmen, wenn dies in einer außergewöhnlichen Notsituation wirklich nötig ist. Gerade für Notlagen wie die Pandemie wurde diese Ausnahme geschaffen. Veränderungen am Grundgesetz bergen immer die Gefahr, dass man die Schuldenbremse dann nicht mehr ernst nähme. Wir brauchen aber einen klaren Plan und ein gemeinsames Verständnis einer nachhaltigen Finanzpolitik.

 

Erwarten Sie eigentlich im Wahlkampf eine große Auseinandersetzung über die Europa- und Außenpolitik? 

Nein, beides wird nicht den Wahlkampf dominieren, weil hier nicht die Hauptgegensätze zwischen den maßgeblichen Parteien liegen. Die Gemeinsamkeiten zwischen den demokratischen Parteien sind auf diesen Feldern sehr groß. 

 

Aber die Grünen wollen gerade das Thema Nord Stream 2 hochziehen und gegen die Union und die SPD wenden. Entstehen hier nicht unüberwindbare, emotional aufgeladene Gegensätze zwischen möglichen Koalitionspartnern? 

Ich glaube nicht, dass Nord Stream 2 ein großes Wahlkampfthema wird.  Zudem halte ich den Konsens etwa mit den Grünen für möglich. Bei den Jamaika-Sondierungen 2017 waren wir in den außenpolitischen Feldern sehr weit. Außerdem erinnere ich an die Bundestagswahl 1998: Damals sagte man auch, dass gerade die Außenpolitik ein Bündnis mit den Grünen schwierig machen würde. Und dann erlebte die Öffentlichkeit, dass der erste deutsche Kriegseinsatz nach 1945 mit der Bombardierung Belgrads ausgerechnet unter einer rot-grünen Regierung geschah. 

 

Ist das nicht ein Argument, dass man ein rot-rot-grünes Bündnis gar nicht fürchten müsste?

Ein rot-rot-grünes Bündnis würde Deutschland innen- und außenpolitisch schaden. Es wäre unverantwortlich, mit der Linken eine Partei in die Bundesregierung aufzunehmen, die die NATO ablehnt und noch nie für ein europäisches Einigungsprojekt gestimmt hat. Man darf dieses Risiko nicht eingehen. Wir sehen leider auch, dass sich bei der SPD gerade der linke Parteiflügel durchsetzt. Er verweigert der Bundeswehr die nötige Ausstattung, kämpft gegen das 2-Prozent-Ziel der NATO und treibt sicherheitspolitisch versierte Politiker aus den eigenen Reihen in den Rücktritt. Wenn sich dieser Flügel mit der Linkspartei und dem linken Flügel der Grünen verbündet, wird Deutschland außenpolitisch nicht mehr handlungsfähig sein und als internationaler Partner nicht mehr ernst genommen.

 

Wie entscheidend ist eigentlich die außen- und europapolitische Kompetenz bei der Auswahl eines Unions-Kanzlerkandidaten?

Man erwartet von einem Bundeskanzler, dass er außen- und europapolitisch erfahren ist.



 

Die Fragen stellte Dr. Andreas Rinke. Er ist Chief Correspondent der Nachrichtenagentur Reuters in ­Berlin

Auszüge dieses Gesprächs wurden zuerst von Reuters veröffentlicht.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Februar 2021, online exklusiv

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