Umgang mit einem Riesen
Angela Merkels Blick auf China hat sich in 14 Jahren Amtszeit stark verändert. Vier Phasen erklären die heutige Position der Kanzlerin in der Causa Huawei/5G.
Als Angela Merkel am 7. September 2019 vor die Studenten der Universität Huazhong in Wuhan trat, hatte sie ein dickes Lob im Gepäck. „Chinas Weg zu mehr Offenheit und Reformen auf dem Weg hin zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist der richtige Weg“, sagte die Kanzlerin. Damit wählt sie eine völlig andere Tonlage als US-Präsident Donald Trump, der China als Konkurrenten der bisherigen Supermacht ausgemacht hat und immer wieder mit Strafzöllen und Sanktionen überzieht. In einer Phase, in der die US-Regierung ihre Verbündeten auf Linie zumindest im Streit um die Beteiligung des chinesischen Netzwerkausrüsters Huawei auf Linie zwingen will, ist Merkels Aussage eine deutliche Ansage: Deutschland will sich – darin einig mit Frankreich und den meisten EU-Partnern – bei aller Kritik etwa an der Behandlungen der Uiguren in Xinjiang nicht auf einen Anti-China-Kurs zwingen lassen.
Überraschend kommt dies nicht. China nimmt im Regierungshandeln von Kanzlerin Angela Merkel einen ganz besonderen Platz ein. Kein außereuropäisches Land hat Merkel in den 14 Jahren ihrer Amtszeit häufiger besucht. In keinem anderen Staat hat sie systematisch zu dem obligatorischen Besuch in der Hauptstadt Peking auch Abstecher in chinesische Provinzen gemacht – aus Neugierde, aber auch aus Respekt vor der chinesischen Kultur und dem Versuch der Führung in Peking, immer mehr Menschen des Landes aus der Armut gehievt zu haben.
Chinas wirtschaftlicher Aufstieg ist für die Kanzlerin dabei eine ständige Konfrontation mit ihrer eigenen DDR-Vergangenheit. In der DDR hatte sie das sowjetische Kommunismus-Modell kennengelernt, in dem die Politik die Wirtschaft lenken wollte – und scheiterte. Die chinesische KP gab der Wirtschaft aber seit Deng Xiao Ping sehr viel Freiraum, solange sie die politisch-ideologische Führerschaft der Kommunisten anerkannte. Immer wieder äußerte sich die Kanzlerin auf ihren Reisen fasziniert von der Größe der Aufgabe der chinesischen Führung, ein riesiges Land innerhalb kurzer Zeit zu modernisieren – und überrascht davon, dass ökonomische Flexibilität und Freiheit mit der Angst vor einer politischer Öffnung einhergehen kann.
Zu den Konstanten ihrer China-Besuche gehören neben der Mitnahme einer hochkarätigen Unternehmensdelegation, Wirtschaftstermine und der Betonung einer „Win-Win“-Konstellation immer auch Treffen mit Bürgerrechtlern und NGO-Vertretern in der deutschen Botschaft – sowie die Faszination über das Tempo der Entwicklung in China, das Merkel in Reden nach ihren Besuchen immer wieder betont. Immer wieder setzte sie sich für die Freilassung und Ausreise von Dissidenten wie Ai Weiwei, Hu Jia oder Liu Xia, der Witwe des Nobelpreisträgers Liu Xiaobo ein. Es gibt also lange Linien in Merkels China-Politik, die auch etwa ihr heutiges Vorgehen in der hitzigen Debatte um das Thema Huawei und 5G-Netz erklären.
Dennoch zeigen sich in den 14 Jahren Amtszeit Merkel auch enorme Veränderungen in ihrer Sichtweise auf China – was schon mit dem einzigartigen Tempo der Entwicklung des Landes zusammenhängt. „Als ich 2005 Kanzlerin wurde, war das Bruttoinlandsprodukt Chinas kleiner als das Deutschlands. Heute ist es mehr als dreimal so hoch wie das Deutschlands“, beschreibt Merkel selbst den wichtigsten Faktor. Ganz grob kann man die China-Politik der Kanzlerin in vier Phasen unterteilen. Dabei wird die Entwicklung vor allem aus ihrer eigenen Sicht auf die Dinge beschrieben. Grundlage des Artikels sind zahlreiche Mitreisen nach China, Pressekonferenzen und Reden sowie Gespräche mit ihren Beratern in den vergangenen Jahren.
DIE ENTDECKUNG CHINAS (2005 – 2008)
Merkel hatte mit China schon in den Jahren als Umweltministerin von 1994 bis 1998 erste Erfahrungen gesammelt. Aber der erste markante Meilenstein in ihrer China-Politik als Kanzlerin war der 23. September 2007. Damals empfing sie den Dalai Lama zu einem „privaten Gedankenaustausch“ im Kanzleramt, was Verstimmung nicht nur beim Koalitionspartner SPD, sondern auch in Peking auslöste. Außenminister Frank-Walter Steinmeier sorgte sich um die Beziehungen, zumal Chinas Führung prompt aus Protest einige Projekte der Zusammenarbeit vorübergehend auf Eis legte. Merkel verteidigte den Dalai-Lama-Empfang, auch wenn ihr außenpolitische Unerfahrenheit vorgeworfen wurde. Aber sie hatte gleich in Anfangsphase ihrer Kanzlerschaft damit einen Kontrapunkt zu einer von ihr als zu realpolitisch empfundenen Politik ihres Vorgänger Gerhard Schröder gegenüber Russland und China gesetzt. „Als Bundeskanzlerin entscheide ich selbst, wen ich empfange und wo“, betonte sie.
Der Empfang des religiösen tibetischen Oberhaupts sorgte dafür, dass die Kanzlerin in Peking zumindest ernst genommen wurde. Der Ärger wandelte sich nach Einschätzung ihrer Berater bald in Respekt um. Denn Merkel verfolgte einen doppelten Ansatz: Zum einen betonte sie auch in den Folgejahren immer wieder die Bedeutung des Dialoges über Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit mit China, pochte etwa als eine der wenigen europäischen Gäste aus Europa immer auf eine Pressekonferenz bei ihren Besuchen.
Zum anderen aber räumte Merkel eine zentrale Sorge in Peking aus: Die Kanzlerin unterstrich immer wieder, dass sie an der traditionellen Ein-China-Politik Deutschlands nicht rütteln werde. Wie wichtig dies der chinesischen Führung war, machte Ministerpräsident Wen Jiabao schon 2006 deutlich, als er diesen Punkt als allerersten bei einem gemeinsamen Auftritt erwähnte. Merkel sei vorher als „Sturm“ bezeichnet worden. Nun würde er sagen, sie habe einen freundschaftlichen Wind nach Peking gebracht, sagte er. Ausdrücklich stellte er sie in eine Reihe mit den Bundeskanzlern Kohl und Schröder.
Merkel betonte ihrerseits das Interesse an einer engeren Zusammenarbeit. Bei ihren Reisen nach China begegnete ihr immer wieder die Sorge vor einem Zerfall des Landes. Mit dieser Angst erklärte die chinesische Führung etwa ihren Widerstand gegen die Gewährung größerer politischer Freiheiten. Merkel hielt dagegen und argumentierte, dass vor allem größere Freiheit langfristige Stabilität garantiere. Aber sie erkenne die große Bedeutung der Sorge über den Zusammenhalt des Landes an, sagte sie später auch öffentlich. Übrigens standen schon damals die Themen Klimaschutz ebenso auf der Agenda wie die Frage, ob China eigentlich eine Bedrohung sei. Jedes Land müsse die gleiche Chance auf Entwicklung bekommen, betonte Merkel 2007. Wenn es gelinge, gemeinsame Standards für die Zusammenarbeit festzulegen, „dann wird die Entwicklung keines Landes für ein anderes Land eine Bedrohung darstellen“, betonte sie.
CHINA ALS RETTER DES EURO (2008 – 2013)
Der Grund für eine zentrale Neujustierung in Merkels Chinapolitik kam ausgerechnet aus den USA – die Schuldenkrise 2008. In der Folge setzte sich Merkel zusammen mit dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush dafür ein, dass sich auch die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industriestaaten im G20-Format treffen sollten. Der Ausbau der multilateralen Abstimmung wurde von China unterstützt, das in den folgenden Jahren zu einem Partner Deutschlands bei der internationalen Zusammenarbeit wurde. „China wird seinen Beitrag zur Stabilisierung der Situation der Weltwirtschaft leisten“, sagte Merkel. Ihre Grunderfahrung in dieser Krise war, dass von den USA ein destabilisierender und von China ein stabilisierender Einfluss gerade für Europa ausging. Zusammenfassend sagte die Kanzlerin 2010: „Deutschland und China haben während der Bewältigung der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise sehr engen Kontakte gehalten.“ Sie lobte ähnliche Konjunkturmaßnahmen beider Länder – obwohl China von der Finanzkrise gar nicht groß betroffen war - und betonte eine neue Nähe. Man könne die Beziehungen „auf eine völlig neue Ebene stellen“. Künftig sollten einmal jährlich Regierungskonsultationen stattfinden. Im Merkelschen Denken war dies der Ritterschlag: Denn Regierungskonsultationen führte sie als Instrument der besonderen Wertschätzung ein, zumal sie erlauben, Beziehungen zwischen zwei Ländern in der ganzen Breite der Themenfelder zu entwickeln.
Die Zusammenarbeit verstärkte sich noch in der folgenden Eurokrise. Denn China avancierte zum größten Verbündeten Europas und Merkels beim Versuch, die Eurozone zusammenzuhalten. Während die Kanzlerin Finanzakteuren in den USA vorwarf, sie hätten ein Interesse an einem Zerfall der Währungsunion in Europa, machte die Führung in Peking ganz klar, an wessen Seite sie stand: Das Land kaufte in erheblichen Umfang Anleihen von Euro-Schuldenstaaten auf, um die Lage zu stabilisieren. Im Hintergrund lief eine enge Abstimmungsmaschinerie auch zwischen Berlin und Peking ab, die aber teilweise öffentlich wurde. Anfang Januar 2011 etwa versicherte Ministerpräsident Wen Jiabao der Kanzlerin in einem Telefonat, dass man Europa auch weiter unterstützen werde. Und er wiederholte dies immer wieder: „Wenn Europa Schwierigkeiten hat, dann strecken wir die helfende Hand aus“, versicherte er in Berlin. „China denkt darüber nach, über die EFSF oder den ESM mehr an der Überwindung der Schuldenkrise mitzuwirken“, fügte er dann am 2. Februar 2012 hinzu. Für alle, die auf einen Auseinanderbruch der Eurozone spekuliert hatten, war dies ein schwerer Schlag.
Die Emissäre der chinesischen Regierung machten im Übrigen auch in ihren Gesprächen mit den Krisenländern der Eurozone deutlich, dass sie als Gegenleistung für den Kauf von Anleihen konsequente Strukturreformen erwarteten. Nach Einschätzung der Bundesregierung hat dieser Einfluss erheblich dazu beigetragen, dass die Euro-Schuldenländer allesamt die Forderungen akzeptierten.
Merkel rutschte in dieser Phase immer mehr in die Rolle als zentrale Ansprechpartnerin Pekings in Europa. Neu war, dass sie auf ihren weltweiten Road-Shows für den Euro zur Bittstellerin wurde. China wiederum begann aus einer neuen Position der Stärke heraus die Europäer zu ermahnen: Auch ihr persönlich wurde in den Jahren der Schuldenkrise deutlich gemacht, dass man von ihr erwarte, die Krise zu managen und die Eurozone zusammenzuhalten. Die anderen europäischen Akteure wurden von Peking als zu schwach angesehen.
Diese Phase etwa von 2008 bis 2014 hat bei Merkel erkennbar den Eindruck hinterlassen, dass es eine Nähe im Denken gibt, die über ideologische Grenzen hinausgeht. Vor allem den angloamerikanischen Finanzmärkten warf sie sehr kurzfristiges Denken vor, das gefährlich etwa für das Langfristprojekt der europäischen Einigung werden kann. Chinas Politik dagegen war strategisch und auf lange Linien ausgerichtet und damit berechenbarer. Zudem teilten ihre chinesischen Gesprächspartner ihr Interesse an einer multilateralen Weltordnung als Gegenmodell zu einer alleinigen Dominanz der USA und des Dollars. China beteiligte sich an den internationalen Klimaverhandlungen, nahm an der Piraten-Bekämpfung vor Somalia teil und war Teil des Atomdeals mit Iran.
Die politische Nähe – trotz der anhaltenden Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in China – sorgte auch für einen Aufschwung in den wirtschaftlichen Beziehungen zu dem Land, das nun gemessen an der Größe der Volkswirtschaft an Deutschland vorbeizog. 2012 kündigten deutsche Unternehmen an, in China nicht nur fertigen, sondern auch forschen zu wollen. Ausdrücklich warb Merkel um chinesische Investitionen in Deutschland. Die Konfliktthemen änderten sich: Als Beispiel sei erwähnt, dass die deutsche Industrie dazu über ging, sich weniger über den Diebstahl geistigen Eigentums als viel mehr über eine neue Patent-Schwemme in China zu beklagen. Wen Jiabao träumte davon, dass das bilaterale Handelsvolumen bis 2015 auf 280 Milliarden Dollar steigen werde.
DER KUKA-Schock (2013 – 2018)
Einen neuen Einschnitt gab es nach 2013, als der heutige Staatspräsident Xi Jinping sein Amt antrat. Denn in den Folgejahren zeigte sich, dass sich die Hoffnung auf eine schrittweise politische Öffnung des Landes nicht erfüllte. Stattdessen wurde ein restriktiverer innenpolitischer Kurs gefahren, den auch Merkel kritisierte. „Die Sonnenscheinphase ist vorbei“, beschrieb Merics-Chef Sebastian Heilmann 2014 die Stimmung zumindest in der Industrie, die sich nach einer Boom-Phase mit nur noch moderaten Steigerungsraten in den Handelsbilanzen abfinden musste. Dennoch trieben beide Regierungen die engere Zusammenarbeit voran. Am 28. März 2014 veröffentlichten beide Regierungen beim Xi-Besuch in Berlin eine Erklärung, in dem ausdrücklich eine strategische Zusammenarbeit in den Bereichen Außenpolitik und Sicherheit erwähnt wurde – Merkel wollte den ökonomischen Riesen schrittweise zu einem größeren Engagement in den internationalen Organisationen bewegen und dadurch gleichzeitig Zügel anlegen. Beschlossen wurden zudem ein Finanzdialog und eine engere Zusammenarbeit im Rahmen der UN und der G20. Im März 2015 vereinbarten beide Regierungen dann noch eine enge Zusammenarbeit im Bereich „Industrie 4.0.“ Bereits damals war absehbar, dass China zum Sprung in die Hightech-Technologie ansetzte.
Ein Resultat dieser rasanten Modernisierung zeigte sich am 17. Mai 2016, als der chinesische Konzern Midea mitteilte, dass er den Augsburger Konzern Kuka übernehmen will. Damit war klar, dass China mit der Einkaufstour in ganz Europa in die nächste Phase der Entwicklung überging. Merkel hatte ihrerseits immer wieder betont, dass Deutschland offen für chinesische Investitionen sei – das betonte sie auch einen Monat später in Peking. „Jetzt gibt es das Erlebnis, dass chinesisches Interesse an Unternehmen besteht, die uns in Deutschland sehr viel wert sind. Aber wenn man offen ist, muss man auch hier gute Lösungen finden“, sagte sie. Doch Kuka als Perle im Bereich der deutschen Robotik stellt die Regierung ebenso vor ein Dilemma wie die Übernahme des Düsseldorfer Krypto-Unternehmen Secusmart durch den kanadischen Smartphone-Hersteller Blackberry 2014: Wo sollte in der neuen globalen Welt die Offenheit enden – und wo der Kampf um den Erhalt technologischer Souveränität beginnen?
In der Bundesregierung löste die Kuka-Übernahme jedenfalls schrittweise ein Umdenken aus. Zum einen erkannten die Akteure im Kanzleramt und Wirtschaftsministerium, dass sich das Verhältnis zu China fundamental änderte: Die 2015 beschlossene Entwicklungsstrategie „Made in China 2025“ formulierte erstmals öffentlich einen klaren Führungsanspruch in fast allen Industriebereichen. Dazu kam die Frage, wie fair Wettbewerb ist, wenn private chinesische Unternehmen mit massiver staatlicher Finanzierungshilfe ausländische Wettbewerber übernehmen können.
Dennoch zögerte Merkel zunächst, den Weg zu einer größeren Abgrenzung mitzugehen. Die ehemalige DDR-Bürgerin argumentierte, dass gerade die Offenheit Deutschlands Wirtschaft stark und wohlhabend gemacht habe. Aber die monatelangen Gespräche über die Zukunft von Kuka zeigten der Regierung und ihr noch eines: In der neuen globalen Welt würde man sich nicht auf die Hilfe anderer deutscher Unternehmen verlassen können, um nationale Interessen zu schützen. Dabei hatte Merkel noch in Peking genau dies angedeutet: „Im Übrigen ist auch niemandem in Deutschland verboten, sich bei Kuka zu engagieren.“ Doch trotz vieler Gespräche der Regierung hinter verschlossenen Türen fand sich kein „weißer Ritter“, der anstelle von Midea Kuka kaufen wollte. Zu sehr, so hieß es damals, waren die deutschen Firmen schon vom chinesischen Markt und internationalen Investoren abhängig. Kein CEO wollte die Regierung in Peking verärgern, indem er eine chinesische Übernahme unterlief.
Am Ende konnte die Regierung nicht verhindern, dass Kuka verkauft wurde. Aber der Fall löste die vom Wirtschaftsministerium in mehreren Stufen vorangetriebene Reform des Außenwirtschaftsgesetzes aus. Die Hürden für den Einstieg ausländischer Firmen in strategischen Bereichen wurden erhöht. China wurde nicht mehr nur als Partner, sondern auch als Konkurrent wahrgenommen. Zudem pochte nun Merkel auf eine stärkere europäische Abstimmung. Weil China längst der größere Partner in der Beziehung geworden war, erkannte die Kanzlerin, dass die jahrelang gepflegten deutschen Sonderkontakte zu Peking nicht mehr ausreichten, um eigene Interessen durchzusetzen. „Von Peking aus betrachtet ist Europa eher eine asiatische Halbinsel“, warnte Merkel im Juni 2017 im Zusammenhang mit der Seidenstraßen-Initiative, die den Rest der Welt letztlich als eine Art Außenposten für den Absatz von Chinas Industrieproduktion sieht. Merkel unterstützte deshalb Frankreich Präsident Emmanuel Macron, der forderte, die Übernahme von strategischen Unternehmen in Europa genauer zu prüfen. Beide pochten nach dem EU-Gipfel im Juni 2017 auf Reziprozität, weil China seinerseits keine Übernahmen von Firmen erlaubte, sondern auf Joint Venture bestand.
DER BALANCEAKT MIT DEM NEUEN RIESEN (2018 -)
Diese Ambivalenz kennzeichnet in den vergangenen beiden Jahren Merkels Einstellung gegenüber China. Die Kanzlerin versuchte dabei, mit einem doppelten Ansatz die Balance zu halten: Chinas loben und mahnen. Denn parallel zu dem immer selbstbewusster auftretendem China veränderte sich das Verhältnis zur bisherigen Super- und Schutzmacht USA durch den Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump. Die Kanzlerin sorgte sich zunehmend vor der Gefahr einer neuen Bipolarität zwischen den USA und China, in der die EU zerdrückt werden könnte.
Aber nicht nur die neue geopolitische Lage, sondern auch die schnelle technologische Entwicklung in der Digitalisierung veränderte den Blick der Kanzlerin auf China – das zeigte ihr Besuch in der Hightech-Metropole Shenzhen im Mai 2018. Merkel war sichtlich beeindruckt vom Tempo der technologischen Entwicklung und lobte, dass China bereits Weltmarktführer im Hochtechnologiebereich sei. Dies veränderte aber die deutsche Argumentation: Ab jetzt, so betonte sie, gebe es keine Entschuldigungen mehr für Abschottungen gegenüber ausländischen Firmen auf dem chinesischen Markt. Bis dahin hatte Chinas Führung immer darauf beharrt, doch Industrie- und Entwicklungsland zugleich zu sein. Folge dieser härteren Haltung war, dass tatsächlich der Joint-Venture-Zwang gelockert wurde, wovon etwa BASF oder die Allianz profitierten.
Dazu kam, dass der Shenzhen-Besuch bei Merkel sehr zwiespältige Eindrücke hinterließ, was eigentlich die Folgen der Digitalisierung sind: Denn aus erster Hand wurde ihr demonstriert, dass die neuen Fähigkeiten einen perfekten Überwachungsstaat ermöglichen – etwa durch das „social scoring“, bei dem durch die Analyse von Big Data das Alltagsverhalten von Bürgern bewertet und bestraft werden kann. Fortan diente China im Reden der Kanzlerin ebenso wie die USA als Negativbeispiele für eine Entwicklung, die sie in Europa nicht will – auf der einen Seite eine als hemmungslos empfundene Datensammelwut privater IT-Konzerne, auf der anderen Seite die totale staatlichen Überwachung.
Dennoch hielt Merkel weiter an Kooperationen auch im Digitalbereich mit China fest. Denn wie die Unternehmen ist sie davon überzeugt, dass diese ohne das Wachstum auf dem riesigen chinesischen Markt keine Chancen im globalen Wettbewerb haben werden. Doch die Rollenverteilung veränderte sich: Nun bat die Kanzlerin um eine Absichtserklärung im Bereich der technologischen Zusammenarbeit etwa beim autonomen Fahren – Jahre zuvor hatte China um technologische Beteiligungen gebettelt. Gleichzeitig mahnte Merkel immer stärker, dass Europa in Bereichen wie Chip- und Batterietechnik wieder technologisch souverän werden müsse. Wie tief der Kuka-Schock wirklich saß, räumte die Kanzlerin später ein: „Der Kauf von Kuka war für uns alle erst einmal eine kulturelle Herausforderung, das haben wir jetzt überwunden. …Jetzt nähern wir uns natürlich der Frage: Wo sind kernstrategische Sicherheitsinteressen in Deutschland getroffen?“
Und den Studenten an der Huazhong-Universität in Wuhan gab sie am 7. September 2019 eine Mahnung mit auf den Weg. Für eine gute Entwicklung müsse sich China eben auch um Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte kümmern. „Nur auf einer solchen Grundlage kann unsere internationale Zusammenarbeit auch in Zukunft erfolgreich sein“, sagte sie.
DIE CAUSA HUAWEI
Exemplarisch zeigt sich das neue Spannungsfeld bei der Entscheidung über den Einsatz von Huawei-Produkten im 5G-Mobilfunknetz – das übrigens in China schon bei ihrem Besuch in Shenzhen ausgerollt wurde. Obwohl die USA die Debatte über mögliche Gefahren chinesischer Firmen bereits 2018 begannen, hatte Merkel als noch amtierende CDU-Chefin kein Problem damit, dass Huawei im Dezember 2018 zu den offiziellen Ausstellern auf dem CDU-Bundesparteitag in Hamburg gehörte (– was übrigens auf dem Leipziger Parteitag ein Jahr später nicht mehr der Fall war).
Merkels Entscheidung für den Umgang mit Huawei formte sich bereits Anfang 2019. Wie üblich hatte sie zunächst eine schnelle Festlegung bei einem so komplexen Thema vermieden, nutzte aber jede Gelegenheit, um auch ausländische Kollegen nach ihrer Haltung zu fragen. Am 4. Februar sagte sie etwa bei einem Besuch in Tokio, dass man mit China zusammenarbeiten müsse. Aber es war der japanische Ministerpräsident Shinzo Abe, der betonte, dass man keine chinesische Firma per se vom 5G-Aufbau ausschließen dürfe. Sehr schnell ergab sich für sie, dass alle westlichen Regierungen in einem Dilemma steckten, weil sie einerseits zwar die Sicherheitsanforderungen an ein sehr vernetztes und leistungsstarkes 5G-Netz erhöhen mussten, andererseits ihre Wirtschaften aber mit der China bereits erheblich verwoben waren. Zudem gab es erhebliches Misstrauen gegenüber einem unilateral vorgehenden US-Präsidenten Trump. Denn offenkundig hatten die US-Firmen die 5G-Entwicklung verschlafen, so dass auch in Regierungskreisen der Verdacht geäußert wurde, Washington wolle bewusst den 5G-Ausbau seiner Partner verzögern. Daneben warnten Telekommunikationsfirmen, dass der Verzicht auf Huawei-Produkte die Kosten für den 5G-Ausbau enorm in die Höhe treiben würde. BDI-Chef Dieter Kempf warnte offen vor chinesischen Gegensanktionen, die besonders die deutsche Wirtschaft treffen könnten: Sollte Huawei ausgeschlossen werden, könnte „China im Gegenzug versucht sein, deutsche Firmen an anderer Stelle zu treffen“, sagte er. Merkel selbst sah das Problem, dass sie nicht immer wieder den neuen US-Protektionismus anprangern konnte, wenn sich Deutschland nun selbst abschottete.
Noch unentschlossen im konkreten Fall, argumentierte sie deshalb zunächst auf der Metaebene: Am 17. Februar wehrte sie US-Aufforderungen zu einer Frontstellung gegenüber China ab und betonte die Notwendigkeit der Kooperation. Ausdrücklich warb sie dafür, den Aufstieg Chinas nicht etwa abwehren zu wollen, sondern zu bewältigen und zu akzeptieren. Die Botschaft von München war, dass die USA vielleicht als Demokratie Wertepartner der Europäer sind – aber die Europäer mit den Chinesen eher die Vorstellung einer multilateralen Weltordnung teilen als US-Präsident Trump, der bewusst eine Eskalation in den Beziehungen China, aber auch mit Europa suchte. Dasselbe Misstrauen, dass die Trump-Regierung eine ganz andere Agenda verfolgt als öffentlich vorgeschoben, gab es übrigens auch beim Streit um die Ostseepipeline Nordstream 2, an der Merkel trotz des US-Drucks festhielt.
In der Causa Huawei vertagte die Bundesregierung dann Mitte Februar die Entscheidung – auch wegen der widersprüchlichen internen Einschätzungen. Der BND und das Außenministerium gehörten zu den Befürwortern einer härteren Haltung, während Kanzleramtsminister Helge Braun, das Wirtschaftsministerium und die Telekommunikationsfirmen für einen Mix an Ausrüstern für das 5G-Netz votierten. In den kommenden Wochen gewannen dann aber die Gegner eines Ausschlusses die Oberhand – auch weil sich Innenminister Horst Seehofer klar positionierte. Am 13. März warnte er öffentlich vor negativen Folgen im China-Geschäft, sollte man Huawei ausschließen. Kurz zuvor hatte Merkel eine europäische Abstimmung angedeutet.
Am 19. März legte sich dann auch Merkel öffentlich fest: Sie halte nichts davon, „einen Teilnehmer, weil er aus einem bestimmten Land kommt, per se auszuschließen“, sagte sie. Die Bundesregierung habe sich deshalb entschieden, strenge Sicherheitskriterien aufzustellen, die jeder erfüllen müsse. „Wir sollten jedem eine Chance geben“, sagte sie. Am 22. März folgte auch die EU-Kommission dieser Linie, Länder wie die Niederlande schlossen sich an. Im Mai erinnerte Merkel daran, dass die Deutsche Telekom seit Jahren in allen Mobilfunknetze Huawei-Produkte einsetze – und bis dahin offenbar niemand ein Problem darin gesehen habe. Sie rate deshalb „zu einer gewissen Rationalität“, sagte sie intern.
Bei dieser Linie blieb es trotz weiterer Interventionen der USA und einer zunehmend hitzigeren medialen Berichterstattung auch im Herbst 2019, als dann die Sicherheitskriterien für die 5G-Ausrüster definiert wurden. Ein wichtiger Faktor dabei war, dass das zuständige Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) selbstbewusst versicherte, mögliche Sicherheitsbedenken durch die vereinbarte Zertifizierung sowohl von Hardware- als auch Software-Produkten ausräumen zu können. Immer wieder wurde hinter den Kulissen betont, dass man bisher nur einem Anbieter habe Spionage nachweisen können – und dies sei kein chinesisches, sondern ein amerikanisches Unternehmen gewesen. Vorsichtshalber wurde zugleich betont, dass man natürlich keinen Rechtsstaat wie die USA mit dem kommunistischen China gleichsetzen wolle.
Merkel verteidigte ihre Position: Im September 2019 betonte sie in Peking angesichts der um sich greifenden Abschottungsdebatte, dass chinesische Investitionen in Deutschland ausdrücklich erwünscht seien. Zwar änderte sich die öffentliche Diskussion in der Tonlage wegen der Demonstrationen in Hongkong und der Berichte über Masseninhaftierungen für Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang. Aber die Kanzlerin verwies erneut darauf, dass Huawei doch bereits beim 2G- und 3G-Netz verbaut worden sei. Im Übrigen sei eine einheitliche europäische Linie wünschenswert – was die gewählte neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auch zusagte.
Anfang November kam Merkel den Kritikern zumindest an einem Punkt entgegen: Es sei wahrscheinlich, dass Huawei in ganz Europa nicht in den 5G-Kernsystemen eingesetzt werde, sagte sie. Der Anteil von Huawei von derzeit 70 Prozent im deutschen Mobilfunknetz werde stark sinken. Ähnliche Hinweise kamen von der Deutschen Telekom. Dieser Hinweis richtete sich auch an den Bundestag. Denn dort baute sich Protest auf – in der Union eher ausgehend von den Außenpolitikern, in der SPD seitens der Digitalpolitiker. Während bis dahin vor allem die Sicherheitskriterien im Zentrum der Debatte gestanden hatten, rückte nun langsam ins Bewusstsein, dass der 5G-Aufbau auch eine Änderung des Telekommunikationsgesetzes und des IT-Sicherheitsgesetz erfordern würde. Beide Gesetze schreiben den Betreibern kritischer Infrastruktur vor, welche Vorschriften sie beachten müssen. An beiden Gesetzen muss der Bundestag mitwirken – weshalb sich die Lobbyarbeit der Huawei-Gegner fortan auf die Bundestagabgeordneten konzentrierte.
Doch Merkel blieb beim Verzicht auf einen formellen Ausschluss von Huawei. Man habe sich die Entscheidung in Bundesregierung nicht leicht gemacht und sei zur Überzeugung gekommen, strenge Regeln für alle. „Dabei geht es nicht um einzelne Firmen, sondern es geht um die Sicherheitsstandards und es geht um die Zertifizierung, die wir vernehmen werden. Das sollte unser Leitmaßstab sein“, sagte sie am 18. November nach der Digital-Kabinettsklausur der Bundesregierung sehr deutlich.
Eine weitere Hürde nahm sie für diese Position auf dem CDU-Parteitag in Leipzig. Dort wurde ein Antrag entschärft, der eigentlich einen Ausschluss von Firmen vorsah, wenn eine Einflussnahme durch einen „undemokratischen Staat“ drohte. Beschlossen wurde stattdessen die Formulierung „fremder Staat“. Das entsprach der Linie, dass strengste Sicherheitsvorkehrungen für Firmen aus allen Ländern gelten sollten. Am 28. November verkündete auch der französische Präsident, dass er keinen Ausschluss eines einzelnen Unternehmens wolle.
Entscheidungsjahr 2020
Doch das Thema ist damit für Merkel nicht erledigt. Denn Kritiker wie der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen interpretieren den CDU-Parteitagsbeschluss so, dass nun keine chinesische Firma mehr teilnehmen könne: Denn in China könne sich kein Unternehmen staatlichem Einfluss entziehen. Das Ringen mit den USA, aber auch den Kritikern in den eigenen Reihen geht also weiter. Um ihre Linie durchzuhalten, muss Merkel also zeigen, dass sie nicht nur dem US-Dauerdruck standhält, sondern auch zu weitgehende Änderungswünsche der Parlamentarier beim Telekommunikationsgesetz und dem IT-Sicherheitsgesetz abwehrt. Zugleich will Merkel verhindern, dass sich die EU-Staaten von China ausspielen lassen. In der zweiten Jahreshälfte 2020 strebt sie deshalb in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine Premiere an, in der letztlich alle Erfahrungen ihrer 14 Jahren China-Politik als Kanzlerin einfließen: Ein gemeinsamer EU-China-Gipfel in ihrer Studienstadt Leipzig soll die Dialogbereitschaft mit dem Signal kombinieren, dass alle EU-Staaten gegenüber der kommenden Supermacht an einem Strang ziehen.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020