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28. Febr. 2011

Die aufgeschobene Konfrontation

Warum die USA mit China (noch) kooperieren

Washington und Peking wachsen ökonomisch immer enger zusammen. Dennoch begreifen sie sich als strategische Rivalen und schließen langfristig einen militärischen Schlagabtausch nicht aus. Die Volksbefreiungsarmee wird auf ein solches Szenario systematisch vorbereitet. Warum also halten die USA an ihrer Zusammenarbeit mit China fest?

Die beiden wichtigsten Großmächte des asiatisch-pazifischen Raumes verfolgen divergierende Ordnungsvorstellungen: Während die USA ihre militärisch abgestützte Vormachtstellung im Fernen Osten aufrechtzuerhalten gedenken, will China die gegenwärtige Pax Americana langfristig durch eine Pax Sinica ersetzen. Wer einem zyklischen Geschichtsverständnis folgt, dürfte daher skeptisch in die Zukunft blicken. Immer, wenn sich ein Machtwechsel zwischen Hegemon und Herausforderer angebahnt hat, stieg die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Auseinandersetzung.

Noch ist es nicht so weit. Zwar streitet man zuweilen heftig über wirtschaftliche und sicherheitspolitische Angelegenheiten. Doch insgesamt haben sich die politischen Beziehungen in den vergangenen Jahren verdichtet. Im November 2009 fuhr Präsident Barack Obama zu seinem ersten Staatsbesuch nach China, im Gegenzug kam sein Amtskollege Hu Jintao im Januar 2011 nach Washington. Mittlerweile gibt es mehrere Dutzend amerikanisch-chinesische Dialogkanäle. Als einer der wichtigsten gilt der im Juli 2009 erstmals durchgeführte „U.S.-China Strategic and Economic Dialogue“. Bemerkenswert ist auch, dass die Streitkräfte beider Seiten im September/November 2006 ihr erstes gemeinsames Such- und Rettungsmanöver durchgeführt haben, seit Februar 2008 über einen „heißen Draht“ verfügen und bei Besuchen der Gegenseite Einblicke in früher als sensibel erachtete Militäranlagen gestatten.

Auch wenn man noch nicht von einer „G-2“ sprechen kann, gibt es doch eine ganze Reihe von Fällen, in denen sich mehr oder weniger intensive Formen der Zusammenarbeit nachweisen lassen. Dazu gehören die amerikanische Unterstützung des Beitritts Chinas zur Welthandelsorganisation im Dezember 2001, die Erklärung der Eastern Turkistan Islamic Movement zu einer terroristischen Organisation durch das Department of State im September 2002, der Beitritt Pekings zur Container Security Initiative im Juli 2003, die seit August 2003 zu beobachtende Zusammenarbeit in den derzeit ausgesetzten Sechsparteiengesprächen über Korea und nicht zuletzt das gemeinsame Interesse, einer „Talibanisierung“ Pakistans entgegenzuwirken.

Ökonomische Interdependenz

Noch enger als die politische Kooperation ist der Umfang der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aus der beide Seiten Vorteile ziehen. China erwirtschaftet durch Exporte in die USA erhebliche Handelsüberschüsse. Diese beliefen sich 2008 auf 268,04 Milliarden Dollar. 2009 waren es trotz der Finanzmarktkrise noch 226,88 Milliarden Dollar; für 2010 wird ein neuer Rekordüberschuss erwartet. China konnte so einen atemberaubenden Devisenschatz anhäufen. Im Dezember 2010 verfügte das Land über Devisenreserven mit einem Volumen von 2,85 Billionen Dollar.

In den USA wird diese Situation oft beklagt, zumal China sich aus amerikanischer Sicht durch unlautere Mittel wie eine unterbewertete Währung Handelsvorteile verschafft. Ende Januar 2011 lag das Verhältnis zwischen Yuan und Dollar bei 6,58:1; nicht wenige Experten halten eine Relation von 5:1 für angemessen. Dieses Ungleichgewicht hat allerdings auch zu einer Verbilligung des Konsums in den USA beigetragen. Und da ein großer Teil der Devisenreserven in amerikanischen Staatsanleihen angelegt worden ist – im November 2010 waren dies 895,6 Milliarden Dollar, was einem Anteil von 20,6 Prozent aller vom Ausland gehaltenen US-Staatsanleihen entspricht –, profitiert auch die amerikanische Regierung von chinesischen Exporterfolgen. Ob sie es also wollen oder nicht: In ökonomischer Hinsicht sind die USA und China eine Ehe eingegangen. Und wie im wahren Leben sind Scheidungenkostspielig.

Fraglich ist, wer auf lange Sicht mehr von dieser Situation profitiert. Skeptiker gibt es vor allem in den USA: Die vom Kongress im Oktober 2000 eingesetzte „U.S.-China Economic and Security Review Commission“ warnt in ihren jährlichen Berichten, dass China durch dauerhafte relative Gewinne in den Handelsbeziehungen erst in die Lage versetzt werde, militärisch zu den USA aufzuschließen. Misstrauisch werden auch die Aktivitäten des im September 2007 errichteten chinesischen Staatsfonds beäugt, der China Investment Corporation (CIC), die mit 200 Milliarden Dollar Startkapital ausgestattet wurde. Könnte die CIC im globalen Maßstab versuchen, sicherheitsstrategisch relevante Unternehmen aufzukaufen?

Dass der ökonomische Erfolg zu einer Steigerung des chinesischen Selbstbewusstseins beigetragen hat, ist offensichtlich. Trotz deutlicher Proteste des Westens ist z.B. der Export „seltener Erden“ reduziert worden. 2009 hatte China einen Anteil von 97 Prozent an der globalen Produktion dieser Hochtechnologiemetalle. Begleitet wird dieser Prozess von Geländegewinnen in internationalen Organisationen. Im Frühjahr 2010 wurden die Stimmanteile in der Weltbank zugunsten Chinas leicht umverteilt; im folgenden Herbst wurde dies im Internationalen Währungsfonds (IWF) beschlossen. Peking scheint hier einer Doppelstrategie zu folgen: Einerseits integriert es sich in die von Washington dominierten Strukturen, um dort den Einfluss des Hegemons zurückzudrängen; andererseits wird auch ganz offensichtlich das Ziel verfolgt, Alternativen zu schaffen. So hat z.B. die chinesische Zentralbank die Rolle des Dollar als Leitwährung in Frage gestellt und vorgeschlagen, diese Funktionden Sonderziehungsrechten des IWF zu übertragen. Und entgegen westlicher Praxis erhalten Entwicklungsländer Kredite ohne politische Auflagen, was von einigen Beobachtern zur Systemfrage erhoben wird („Beijing Consensus“ versus „Washington Consensus“).

Strategische Rivalen

Die Geschichte hat mehrfach bewiesen, dass ökonomische Verflechtungen Frieden zwar fördern, nicht aber garantieren können. Im Fernen Osten zeigt das Verhältnis zwischen Tokio und Peking, dass enge Handelsbeziehungen nicht zwingend das politische Klima verbessern. Deshalb ist es nur konsequent, wenn sich China auf eine mögliche militärische Eskalation von Konflikten auf der Großmachtebene vorbereitet. Woran könnten sich diese entzünden?

Am wahrscheinlichsten wäre ein Konflikt in der Taiwan-Straße, wenngleich sich die dortige Lage seit dem Wahlsieg des Kandidaten der Kuomintang, Ma Ying-jeou, vom März 2008 deutlich entspannt hat. Allerdings hat Peking die faktische Unabhängigkeit Taipehs nie akzeptiert. Im Dezember 2009 waren laut einer Studie des Pentagons zur militärischen Stärke Chinas bis zu 1150 Kurzstreckenraketen auf Taiwan gerichtet. Washington ist zwar seit Januar 1980 nicht mehr Bündnispartner Taipehs, beliefert die Insel aber auf der Basis des Taiwan Relations Act vom April 1979 mit militärischer Ausrüstung. Der bereits von der Bush-Administration im Oktober 2008 angekündigte Verkauf von Waffensystemen im Wert von 6,4 Milliarden Dollar, den die Obama-Regierung seit Januar 2010 in die Tat umsetzen will, hat für erhebliche Proteste Chinas gesorgt.

Die strategische Konkurrenz beider Großmächte führt zu weiteren Konflikten an der geopolitischen Peripherie der Volksrepublik. So ist China die militärische Präsenz der USA in Zentralasien ein Dorn im Auge. Im Juli 2005 unterstützte es daher eine Erklärung der Schanghaier Kooperationsorganisation, die sich für einen Abzug amerikanischer Truppen aus dieser Region aussprach. Auch sieht Peking in Südasien die sich vertiefenden Beziehungen zwischen Neu-Delhi und Washington skeptisch; der Obama-Besuch in Indien Anfang November 2010 hat die strategische Rolle des Landes in der US-Außenpolitik erneut bestätigt. Sollte es zu einer Wiedervereinigung Koreas kommen, wird sich ganz grundsätzlich die Frage stellen, ob dies auch zu einem Abzug der amerikanischen Soldaten von der koreanischen Halbinsel führen muss. Seoul und Washington arbeiten daher daran, ihre Allianz mit neuen Inhalten zu versehen und nicht mehr einzig und allein auf die Abschreckung Nordkoreas auszurichten.

In der Praxis dominieren derzeit Auseinandersetzungen, die eine starke maritime Komponente haben. China betrachtet das Südchinesische Meer de facto größteneils als Binnenmeer, was von den USA nicht akzeptiert wird. Dieser Dissens hat bereits zu mehreren Zusammenstößen geführt, da die Amerikaner weiter in Küstennähe zu China Aufklärungsmissionen durchführen. Für Unruhe in der Region sorgten im Frühjahr 2010 Zeitungsberichte, in denen behauptet wurde, dass die chinesische Regierung das Südchinesische Meer künftig zu ihren „Kerninteressen“ zähle. Eine solche sprachliche Zuschreibung wäre problematisch, weil mit diesem Begriff nicht verhandelbare territoriale Ansprüche markiert werden; das Südchinesische Meer befände sich damit auf einer Stufe mit Taiwan, Tibet und Xinjiang. Das Verhalten Pekings legt den Schluss nahe, dass es territoriale Ansprüche im Südchinesischen Meer künftig mit mehr Nachdruck verfolgen will.

Besonders sensibel hat sich China im Vorfeld des amerikanisch-südkoreanischen Seemanövers vom Juli 2010 gezeigt. Peking lehnt Übungen im Gelben Meer strikt ab. Washington gab zunächst nach und ließ die Übung im Japanischen/Ost-Meer abhalten. Gleichzeitig wies es den chinesischen Anspruch, bei der Nutzung internationaler Gewässer über ein Vetorecht zu verfügen, zurück. Ende September 2010 fand eine weitere Übung amerikanischer und südkoreanischer Seestreitkräfte statt – nun direkt im Gelben Meer.

Antiamerikanisches Fähigkeitsprofil

Vor diesem Hintergrund wird die gegenwärtige Struktur des militärischen Fähigkeitsprofils der Volksbefreiungsarmee (VBA) nachvollziehbar. China hat seine Nuklearstreitkräfte in den vergangenen Jahren qualitativ verbessert. Dazu gehört der Bau der mobilen Interkontinentalraketen Dongfeng-31 und Dongfeng-31A, die über Reichweiten von mindestens 7200 bzw. 11 200 Kilometern verfügen. Sie sollen laut Pentagon seit 2006 bzw. 2007 einsatzbereit sein. Zu nennen sind zudem die Arbeiten an dem neuen strategischen UBoot der Jin-Klasse, das mit zwölf Raketen vom Typ Julang 2 mit einer Reichweite von mindestens 7200 Kilometern ausgestattet ist.

Diese Waffensysteme sind eindeutig gegen die USA gerichtet. Um Russland, Indien oder Japan abzuschrecken, verfügt China bereits seit längerem über hinreichende Kurz- und Mittelstreckensysteme. Pekings Ziel ist es, in potenziellen Konflikten mit den USA deren Handlungsbereitschaft zu beeinflussen – z.B. ihre Unterstützung für Taiwan nach einem chinesischen Angriff.

Im konventionellen Bereich sind die amerikanischen Streitkräfte den chinesischen weit überlegen. Die VBA wird daher nicht auf symmetrische, sondern auf asymmetrische Einsatzszenarien vorbereitet. So wird Peking im Ernstfall u.a. die Abhängigkeit der US-Streitkräfte von weltraumgestützter Infrastruktur ausnutzen. Die VBA könnte versuchen, US-Aufklärungssatelliten auszuschalten. Im Januar 2007 demonstrierte China die entsprechende Fähigkeit durch den erfolgreichen Abschuss eines eigenen Wettersatelliten in 850 Kilometern Höhe.

Ein Schwerpunkt der Aufrüstung liegt darin, Einsatzmittel zu beschaffen, die ein Eingreifen von US-Streitkräften bei einem Konflikt in der Taiwan-Straße erschweren sollen. Wenn sich Washington zur Intervention entscheidet, wird Peking diese militärisch nicht verhindern können. Es bereitet sich daher darauf vor, im Ernstfall eine psychologische Karte spielen zu können. Durch die Beschaffung von Zerstörern des Typs Sovremenny sowie hochmodernen Kampfflugzeugen des Typs Suchoi-30 ist die VBA in der Lage, punktuelle Schläge, z.B. gegen eine amerikanische Flugzeugträgergruppe, durchzuführen.

Diesem Ziel dient vor allem die Modernisierung der U-Boot-Flotte: Wurden 2002 nur sieben von 69 U-Booten modernen Standards gerecht, waren es 2009 bereits 31 von 65 U-Booten, darunter zwölf U-Boote der Kilo-Klasse. Zudem soll China an einem ballistischen Flugkörper mit manövrierbarem Sprengkopf arbeiten, der von Land aus auf eine Distanz von über 1500 Kilometern einen Flugzeugträger direkt attackieren kann. Eine solche Waffe würde die Spielregeln im westlichen Pazifik erheblich ändern.

China würde eine Auseinandersetzung in der Taiwan-Straße zwar verlieren, die USA müssten aber ebenfalls mit Verlusten rechnen, die dann innenpolitisch zu rechtfertigen wären. Dass amerikanische Regierungen genau davor zurückschrecken, gehört zum Kalkül: Peking will für Washington die politischen Kosten eines Schlagabtauschs in die Höhe treiben und dadurch die US-Regierung abschrecken, eine Intervention durchzuführen.

Die Reaktion der USA

Die USA haben in mehreren Strategieberichten, sowohl unter demokratischem wie republikanischem Präsidenten, die Stoßrichtung chinesischer Rüstungsmaßnahmen analysiert und sind dabei zu einem eindeutigen Ergebnis gelangt. Im Quadrennial Defense Review Report vom 6. Februar 2006 heißt es: „Von den großen und aufstrebenden Mächten hat China das umfassendste Potenzial, um mit den USA militärisch zu konkurrieren.“ Admiral Robert F. Willard, Kommandeur des United States Pacific Command, äußerte sich in einer Senatsanhörung am 24. März 2010 ebenfalls besorgt: „Die schnelle und umfassende Transformation der chinesischen Streitkräfte beeinflusst die militärische Balance in der Region und hat Auswirkungen jenseits des asiatischpazifischen Raumes. Besonders beunruhigend ist, dass Teile der militärischen Modernisierung Chinas scheinbar darauf ausgerichtet sind, unsere Handlungsfreiheit in der Region herauszufordern.“

Die Antwort Washingtons besteht in der Aufrechterhaltung und Modernisierung präventiver Eindämmungsstrukturen, namentlich der militärischen Vornepräsenz. Zur Kontrolle der pazifischen Gegenküste verfügen die USA über fünf Bündnispartner (Japan, Südkorea, Australien, Philippinen, Thailand), einen wichtigen Sicherheitspartner (Singapur) und Kontakte zu zahlreichen weiteren Staaten, die amerikanische Militäreinheiten logistisch unterstützen (u.a. Brunei, Indonesien, Malaysia und wohl bald auch Vietnam). Hinzu kommen flexibel vor Ort patrouillierende maritime Einheiten sowie Guam, das zu den amerikanischen Besitzungen gehört. Insgesamt haben die USA an der asiatischen Pazifikküste knapp 80 000 Soldaten stationiert.

Der dafür betriebene Aufwand lässt sich nur damit begründen, auf eine eventuell notwendig werdende Eindämmung einer konkurrierenden Großmacht reagieren zu können. Zur Bewältigung humanitärer Katastrophen und selbst zur Abschreckung Nordkoreas benötigen die USA keine Flugzeugträgergruppe im japanischen Yokosuka; sie müssten dazu auch nicht umfangreiche Militärmanöver mit ihren Verbündeten abhalten; erst recht aber lässt sich der geplante Ausbau der militärischen Leistungsfähigkeit Guams nicht damit begründen, nach einem erneuten Tsunami Hilfsgüter schneller verteilen zu können. Das Signal in Richtung China ist somit eindeutig: Washington ist auf außenpolitische Abenteuer Pekings vorbereitet.

Die militärische Präsenz amerikanischer Streitkräfte an der pazifischen Gegenküste, die eine umfassende und schnelle Reaktionsfähigkeit in Krisenzeiten garantiert, erklärt zumindest zum Teil, warum Peking gegenwärtig auf Kooperation setzt. Würde es sich, wie etwa Mitte der neunziger Jahre, außenpolitisch aggressiv gebärden, dann müsste es erneut damit rechnen, dass seine Nachbarn den amerikanischen Schutzschirm verstärkt suchen und damit zur Festigung des US-Bündnissystems beitragen. Dies kann schneller der Fall sein, als Peking lieb ist. Gleich mehrere Staaten unterstützten während des Treffens des ASEAN Regional Forum im Juli 2010 in Hanoi die Position der USA, Streitigkeiten im Südchinesischen Meer friedlich zu lösen und die Freiheit der Seewege aufrechtzuerhalten. Es war eine direkte Reaktion auf das zuvor immer stärker zur Schau gestellte Selbstbewusstsein Pekings bei der Deklarierung maritimer Gebietsansprüche. Die Truppenpräsenz der USA in Asien setzt damit starke Anreize für China, an seiner Peripherie keine Ängste zu schüren.

Die machtpolitische Lücke

Weitere Erklärungen für den gegenwärtigen Status quo, der Zusammenarbeit ermöglicht, lassen sich aus der machtpolitischen Lücke ableiten, die zwischen beiden Großmächten besteht. Washington ist Peking in allen zentralen Vergleichskategorien weit überlegen: Während die USA nach Angaben der Weltbank im Jahr 2009 mit 14,12 Billionen Dollar für 24,28 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich zeichneten, kam China mit 4,99 Billionen Dollar nur auf 8,57 Prozent des weltweiten BIP. Die deutlich größere ökonomische Basis eröffnet dem Hegemon entsprechend größere Möglichkeiten zur Gestaltung seines Militärapparats. Der Verteidigungshaushalt der USA lag 2009 bei 693,6 Milliarden Dollar. Der chinesische Verteidigungshaushalt belief sich dagegen 2009 nach offiziellen Angaben nur auf 70,3 Milliarden Dollar; das Pentagon geht immerhin von 150 Milliarden Dollar aus.

Die machtpolitische Lücke zeigt sich vor allem im Bereich der militärischen Innovationsfähigkeit. Die USA haben 2008 für Research, Development, Test & Evaluation 79,567 Milliarden Dollar ausgegeben, China für den Bereich Research & Development offiziell lediglich 6,6 Milliarden Dollar. Peking wird daher noch erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um den militärisch-technologischen Abstand zu Washington zu verringern. Selbst wenn China mit den USA ökonomisch gleichzieht, wird es noch eine Weile dauern, bis derartige wirtschaftliche Zugewinne in eine Stärkung militärischer Fähigkeiten übertragen werden können.

Peking wäre gegenwärtig daher nicht gut beraten, Washington durch ein offensives militärisches Wettrüsten herauszufordern. Deshalb verzichtet die Volksrepublik auch darauf, durch eine Umlenkung von Haushaltsmitteln oder den Einsatz seiner Devisenreserven das Fähigkeitsprofil der VBA einem Quantensprung zu unterziehen. Denn dadurch würde es sich selbst schaden: Erstens würden sich die Nachbarn Chinas stärker an die USA anlehnen. Zweitens würde Washington die Herausforderung annehmen und die Schwächen Pekings gnadenlos ausnutzen, u.a. dessen Abhängigkeit von offenen Seewegen. Und drittens würde der innenpolitische Modernisierungsprozess gefährdet.

Diese Bewertung gilt umso mehr, wenn man sich die innenpolitische Entwicklung Chinas anschaut. Fehlende soziale Sicherungssysteme, die Überalterung der Bevölkerung, zahlreicher werdende Proteste, Korruption und vor allem dramatische Umweltprobleme stellen die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) vor enorme Herausforderungen. Hier wird die Regierung jedoch kaum gegensteuern können, da sie mehrfach betont hat, mindestens acht Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr zu benötigen, um genügend neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wie will sich die KPCh aus dieser dramatischen Zwickmühle herausmanövrieren, zumal ihre Legitimität an ökonomische Erfolge gebunden ist? Für China stellt sich daher folgende nüchterne Frage: Kommt der „Feind“ wirklich von außen – oder doch eher von innen? Die USA dürften dagegen in eine andere Richtung denken: Wird China versuchen, seine innenpolitischen Probleme konstruktiv zu lösen, oder wird es die Flucht nach vorne antreten, etwa durch ein außenpolitisches Ablenkungsmanöver?

Perspektiven einer Konfrontation

Solange die machtpolitische Lücke bestehen bleibt und Peking auf offensive Gegenmachtbildung verzichtet, haben die USA keinen Grund, China einzudämmen. So beugen sie einem kostenintensiven Hegemoniemanagement vor und müssen ihre Sicherheits- und Bündnispartner nicht vor die höchst unliebsame Alternative stellen, sich zwischen zwei Großmächten zu entscheiden. Die USA werden auch in den nächsten Jahren versuchen, den machtpolitischen Abstand zu China aufrechtzuerhalten, um Gegenmachtbildung sinnlos erscheinen zu lassen. Genau dadurch entstehen kooperative Spielräume. Soweit es China dabei ermöglicht wird, unter den Bedingungen der Pax Americana Gewinne zu erzielen, darf Washington zumindest auf eine vorübergehende Duldung seiner Vorherrschaft hoffen. Für China macht Kooperation derzeit Sinn. Eine aggressive Gegenmachtbildung käme zu früh und würde im Ergebnis auf ein Harakiri hinauslaufen.

Eine Konfrontation der beiden wichtigsten Großmächte des Fernen Ostens erscheint aber dennoch eher aufgeschoben als aufgehoben. Ein im Innern gestärktes China dürfte durchaus gewillt sein, offensiver zu den USA aufzuschließen. Das Verhalten Pekings seit der Finanzmarktkrise weist bereits in diese Richtung. Der Herausforderer sieht den Hegemon geschwächt und verlangt nicht nur mehr Mitsprache, sondern auch mehr Respekt.

Jun.-Prof. Dr. MARTIN WAGENER lehrt Politikwissenschaft an der Universität Trier.1

  • 1Für Anregungen und Kritik danke ich Dirk Schmidt.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, April 2011, S. 112-119

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