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01. Mai 2016

Kalter Frieden in der Taiwan-Straße

Der Machtwechsel in der „abtrünnigen Provinz“ beunruhigt Chinas Machthaber

Die designierte Präsidentin Taiwans, Tsai Ing-wen, von der Demokratischen Fortschrittspartei hat sich im Gegensatz zu ihrem Vorgänger von der Kuomintang nicht vom Gedanken der Unabhängigkeit ihres Landes distanziert. Damit steht die Entspannungspolitik in der Taiwan-Straße auf dem Prüfstand. Eine Eskalation hätte auch Folgen für Europa.

Es ist derzeit erstaunlich ruhig in der Taiwan-Straße – fast zu ruhig. Denn die Wahlen vom 16. Januar 2016 haben die Grundlage für neue Spannungen in dem bis heute nicht gelösten Konflikt zwischen Peking und Taipeh gelegt. Seit 1949 harrt diese Auseinandersetzung einer Lösung. Damals hatte Chiang Kai-shek den Bürgerkrieg gegen die Kommunistische Partei Mao Zedongs verloren und war mit seinen verbliebenen Anhängern nach Taiwan geflüchtet. Die Staatsbezeichnung, die einmal für das komplette chinesische Festland galt, zog gewissermaßen nach Taiwan um, das in den folgenden Jahren zum Bollwerk der Kuomintang ausgebaut wurde. China wiederum hat nie die Staatlichkeit der Nachbarinsel anerkannt; es betrachtet sie schlicht als „abtrünnige Provinz“.

Die jüngsten Präsidentschaftswahlen in Taiwan hat die Kandidatin der Demokratischen Fortschrittspartei (Democratic Progressive Party, DPP), Tsai Ing-wen, sehr deutlich gewonnen – und damit eine politische Kraft, die sich für die Unabhängigkeit Taiwans einsetzt. Mit 56,1 Prozent der Stimmen hat Tsai ihre Konkurrenten Eric Chu von der Kuomintang (31 Prozent) und James Soong von der People First Party (12,8 Prozent) geradezu deklassiert.

Auch in den parallel abgehaltenen Wahlen zum Parlament, dem Legislativ-Yuan, kam es zu einem politischen Erdrutsch. An die DPP fielen 68 von 113 Sitzen, die Kuomintang kam nur auf 35 Mandate. Das Votum für die DPP ist somit eindeutig. Mehr noch: Zum ersten Mal überhaupt befinden sich das Präsidentenamt und das Parlament zeitgleich in der Hand der DPP.

Kein Wunder, dass Chinas Führung um Staats- und Parteichef Xi Jinping das Wahlergebnis besorgnis­erregend findet. Am Rande der Sitzung des Nationalen Volkskongresses in Peking im März 2016 kommentierte er den Machtwechsel in Taiwan mit der deutlichen Warnung, separatistische Aktivitäten entschlossen eindämmen zu wollen.

Die Besorgnis Chinas hat mehrere Gründe. Zu ihnen zählen die sehr schlechten Erfahrungen mit Chen Shui-bian, dem ersten DPP-Präsidenten Taiwans von 2000 bis 2008. In seiner Amtszeit erreichten die Beziehungen zwischen Peking und Taipeh einen Tiefpunkt, da er offensiv mit dem Gedanken der Unabhängigkeit spielte. Aktuell kommt die Lage in Hongkong hinzu. Im Herbst 2014 gab es Proteste demokratischer Aktivisten in der ehemaligen britischen Kronkolonie. Zum Ärger Pekings hatte sich der damalige Präsident Taiwans Ma Ying-jeou mit der Bewegung solidarisch erklärt. Nun dürfte die chinesische Regierung befürchten, dass sich eine erneute Diskussion der Unabhängigkeit des Inselstaats auf die Lage in Hongkong auswirken könnte. Peking wird es zudem irritiert haben, dass ausgerechnet die Regierung in Tokio der DPP-Kandidatin demonstrativ zum Wahlsieg gratuliert hat.

China liegt also einiges daran, dass Tsai Ing-wen nach ihrer Amtseinführung am 20. Mai 2016 als (erste weibliche) Präsidentin nicht an die Ära ihres Vorgängers Chen anknüpft, in dessen Amtszeit sie unter anderem Ministerin des Mainland Affairs Council war. Peking fordert eine Anerkennung des „Konsens von 1992“. Demnach akzeptieren beide Seiten, dass es ein China gibt; es bleibt ihnen jedoch vorbehalten, dies eigenständig zu interpretieren. Unter Präsident Ma war der „Konsens von 1992“ akzeptiert. Tsai hat ihn bislang abgelehnt und wird nun eine Formulierung finden müssen, die für China zumindest akzeptabel ist. Genau davon wird es in den nächsten Monaten abhängen, ob die Lage in der Taiwan-Straße friedlich bleibt.

Souverän und unabhängig

Die chinesische Führung weiß gleichwohl, dass die Handlungsräume der neuen Führung in Taipeh in dieser Frage durch die Innenpolitik begrenzt werden. Tsai darf ihre Partei nicht verprellen. Die „Resolution zur Zukunft Taiwans“, die von der DPP im Mai 1999 verabschiedet worden war, ist immer noch in Kraft. In ihr heißt es unzweideutig: „Taiwan ist ein souveränes und unabhängiges Land.“

Die Wähler Tsais werden erwarten, dass sie den Kurs von Präsident Ma zumindest modifiziert. Ihm war eine zu große Nähe zum Festland vorgeworfen worden, vor allem durch immer enger werdende Wirtschaftsbeziehungen. So gehen zum Beispiel fast 40 Prozent der taiwanischen Exporte an das Festland. Auch Mas Treffen mit Xi im November 2015 in Singapur – das erste dieser Art seit 1945 – wurde kritisiert. Zudem muss die neue Präsidentin den sich wandelnden Identitätsmustern der Wählerschaft Rechnung tragen. Umfragen der National Chengchi Universität ergaben für 2015, dass sich 59 Prozent der Bürger der Republik China als „Taiwaner“ – und nicht als Chinesen – betrachten. Noch 1992 waren nur 17,6 Prozent der Befragten dieser Ansicht.

Eng sind gleichwohl auch die Handlungsräume Xi Jinpings. Da die Rückgewinnung Taiwans zu den „Kerninteressen“ des Festlands zählt, sind Kompromisse in dieser Frage unmöglich. Denkbar sind höchstens temporäre taktische Zugeständnisse, da China derzeit bereits genug Kritik in seiner Nachbarschaft erfährt und vermutlich nicht noch eine weitere diplomatische Flanke öffnen möchte. Die Inselaufschüttungen im Südchinesischen Meer seit Ende 2013 haben nicht nur Vietnam und die Philippinen erzürnt, sondern auch die USA. Im Ostchinesischen Meer haben sich die Spannungen mit Japan seit Herbst 2010 erheblich verschärft. Eine Eskalation der Taiwan-Frage würde dem in der Region ohnehin schon gehegten Verdacht neue Nahrung geben, dass der Aufstieg Chinas nicht friedlich verlaufen werde. Das hätte für Peking ganz unerwünschte Folgen: Die Staaten Ostasiens würden noch intensiver die Nähe zu den USA suchen.

Gegen solche rationalen Abwägungen spricht die Tatsache, dass sich China weiterhin auf eine militärische Eroberung seiner „abtrünnigen Provinz“ vorbereitet – was auch während der ruhigen Jahre in der Amtszeit von Präsident Ma von 2008 bis 2016 der Fall war. Der stabile Status quo in der Taiwan-Straße ging über einen kalten Frieden nie ­hinaus. Bis zu 1400 ballistische Kurzstreckenraketen sind gegenwärtig auf die Insel gerichtet. Sie würden im Falle eines Angriffs die Flugplätze und Luftabwehrsysteme Taiwans attackieren, um den Einsatz der chinesischen Luftstreitkräfte vorzubereiten. Im Nationalen Verteidigungsbericht des taiwanischen Verteidigungsministeriums vom Oktober 2015 wird die Lage nüchtern bewertet: „Die Volksbefreiungsarmee plant, vor 2020 ein beachtliches militärisches Arsenal aufzubauen, um militärische Operationen gegen Taiwan durchzuführen.“

Folgen eines Krieges für Europa

Die meisten Regierungen Europas reagieren auf diese Entwicklung mit wohlwollendem Desinteresse. Doch der strategische Dornröschenschlaf des „alten Kontinents“ ist gefährlich. Sollte es zu einem Krieg zwischen China und Taiwan kommen, würden an ihm mit großer Wahrscheinlichkeit auch die USA und deren wichtigster Bündnispartner in Ostasien, Japan, teilnehmen. Für Europa wäre dieses Szenario ein Desaster. Wird aus dem kalten Frieden ein heißer Krieg, käme es sofort zu einer Beeinträchtigung der globalen Produktionsnetzwerke sowie zu Erschütterungen an den internationalen Börsenplätzen. Auswirkungen auf die Wirtschaft Europas wären deutlich spürbar – 2015 wickelte die EU über 30 Prozent ihres gesamten Außenhandels mit Nord­ost-, Südost- und Australasien ab.

Die Europäer müssten zudem in diplomatischer Hinsicht eine schwere Wahl treffen: Positionieren sie sich auf Seiten Chinas oder der USA? Jede Parteinahme für Peking dürfte die transatlantischen Beziehungen auf das Äußerste belasten. Absehbar wäre auch, dass Washington sich in einem solchen Konflikt stärker auf den Fernen Osten konzentrieren würde. Die EU müsste dann mehr sicherheitspolitische Verantwortung an ihrer eigenen geopolitischen Peripherie übernehmen. Sie ist derzeit für keines dieser Szenarien gewappnet.

Vor allem für deutsche Beobachter sind solche Planspiele gewöhnungsbedürftig, weil sich das europäische vom ostasiatischen Sicherheitsverständnis grundlegend unterscheidet. Auf der einen Seite ist zwischenstaatliche Integration gelungen, auf der anderen ist sie meistens nicht einmal erwünscht. Auch gibt es im Kreise der EU-­Staaten keine Großmachtkonflikte mehr, die in der eigenen Verteidigungsplanung Berücksichtigung finden müssten. Im Fernen Osten hat dagegen die umfassende Konferenzdiplomatie nichts am militärischen Wettbewerb zwischen China auf der einen sowie den USA, Japan und Taiwan auf der anderen Seite ­geändert.

Im Ergebnis ist der sicherheits­politische Vorstellungshorizont der EU stark eingeengt. Empfehlungen zur Entschärfung des fernöstlichen Sicherheitsdilemmas haben daher nur wenig Bezug zur Realität. Dies zeigen Vorschläge Brüssels, die ASEAN zum Nukleus einer fernöstlichen Sicherheitsarchitektur zu machen. In der Praxis hatte die südostasiatische Staatenorganisation zwischen 2008 und 2011 bereits größte Probleme, das kleine Grenzscharmützel zwischen Thailand und Kambodscha in den Griff zu bekommen. Dass die Sicherheit Ostasiens heute primär von den USA, ihren Bündnispartnern und der amerikanischen Truppenpräsenz vor Ort aufrechterhalten wird, ist Brüsseler Strategen nur eine Randnotiz wert.

Es wundert daher auch nicht, dass die Europäer einem einseitigen sicherheitspolitischen Fernost-Narrativ folgen. Dazu gehört, im Aufstieg Chinas fast nur Chancen zu sehen. Was ein in der Zukunft möglicherweise aggressives Reich der Mitte für Europa bedeuten würde, wird nicht reflektiert. Niemand scheint sich daran zu stören, dass der „alte Kontinent“ seit Jahren in der Reichweite chinesischer Interkontinentalraketen mit nuklearen Sprengköpfen liegt. Und als russische und chinesische Seestreitkräfte im Mai 2015 ein Militärmanöver mit scharfer Munition im Mittelmeer durchführten, gab es ebenfalls keinen Protest. Brüssel scheint in einer sicherheitspolitischen Fantasiewelt zu leben und dürfte auf einen militärischen Konflikt in Ostasien nicht einmal ansatzweise vorbereitet sein.

Ob sich die Lage in der Taiwan-Straße im Sommer 2016 verschärfen wird, hat vor allem Tsai Ing-wen in der Hand. Vermutlich wird sie in ihrer Rede zur Amtseinführung provokative Formulierungen vermeiden. Die von China gezogenen „roten Linien“ sind ihr bekannt: Am wahrscheinlichsten wäre ein Angriff der Volksbefreiungs­armee, wenn Taiwan sich für unabhängig erklärt. So unklug wird Tsai jedoch nicht sein. Gemäß dem chinesischen Taiwan-Weißbuch vom Februar 2000 und dem Antisezessionsgesetz vom März 2005 droht aber noch von einer anderen Seite Gefahr. China hat erklärt, auch dann einen Angriff zu erwägen, sollte Taiwan Verhandlungen über eine politische Wiedervereinigung dauerhaft verweigern. Damit hat sich Peking einen Freibrief für eine Invasion ausgestellt.

Die Sicherheitsstrategie Taiwans

Die neue Präsidentin Tsai ist unter diesen Bedingungen gut beraten, die Sicherheitsstrategie ihres Vorgängers fortzusetzen und auszubauen. Das wichtigste Ziel entspricht dem, was auch schon in der Ära Ma galt: Zeitgewinn. Sollte sich China – wider Erwarten – eines Tages demokratisieren, könnte die militärische Drohung gegenüber Taiwan entfallen. In der Zwischenzeit besteht Hoffnung auf eine Fortsetzung der Entspannungspolitik, solange sich Taipeh an den „Konsens von 1992“ hält. Werden ökonomische Interdependenzen ausgebaut, gibt es weitere Anreize, am Weg des Friedens festzuhalten. Gleichzeitig muss Taiwan aber dafür sorgen, von China ernst genommen zu werden. Dies setzt voraus, dass der Inselstaat über eine schlagkräftige Verteidigungspolitik verfügt.

Dabei kann es für Taipeh nicht darum gehen, sich mit Peking militärisch auf Augenhöhe messen zu wollen. Diese Zeiten sind seit Langem vorbei. China hat ökonomisch schlicht bessere Ausgangsbedingungen als Taiwan, um seinen Verteidigungshaushalt massiv auszubauen. So steht auf der einen Seite ein Staat mit fast 1,4 Milliarden Bürgern, auf der anderen Seite sind es nur 23,4 Millionen. Das Bruttoinlandsprodukt des Festlands lag 2014 bei 10,4 Billionen Dollar, jenes des Inselstaats bei 530 Milliarden Dollar. Diese Größenunterschiede spiegeln sich im Verteidigungsetat wider. Während China 2015 insgesamt (offiziell) 146 Milliarden Dollar zur Verfügung hatte, musste Taiwan mit 10,3 Milliarden Dollar auskommen.

Der Inselstaat ist also gezwungen, in seiner Sicherheitsstrategie unorthodoxe Wege zu beschreiten, um wehrhaft zu bleiben. Da Taiwan auf symmetrischer Ebene mit China nicht mithalten kann, bleibt ihm gar nichts Anderes übrig, als sich auf einen asymmetrischen Krieg vorzubereiten. Seit 2009 taucht dieser Begriff verstärkt in den zentralen Verteidigungsschriften Taipehs auf. In Teilen ist die Verteidigungsstruktur bereits entsprechend ausgerichtet worden. Ziel des asymmetrischen Krieges ist es, den chinesischen Militärapparat an seinen Schwachstellen zu treffen. Vor allem aber sollen die politischen Kosten eines Krieges für China steigen. Wäre Taiwan nicht handstreichartig zu erobern, dann muss auch die Volksbefreiungsarmee mit Opfern rechnen. Diplomatische und ökonomische Kollateralschäden sind absehbar.

Eventuell steigt sogar der innenpolitische Druck, und der Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei Chinas würde infrage gestellt. Im Idealfall rückt die Führung um Xi Jinping daher bereits frühzeitig von Invasionsüberlegungen wieder ab, da sie einsieht, dass ein Krieg gegen die „abtrünnige Provinz“ zu viele ungewollte Nebenwirkungen hätte. Um diesen Gedankenprozess in Gang zu setzen, muss Taiwan wehrhaft sein. Der asymmetrische Krieg sorgt dafür, dass es ein schwer verdauliches Invasionsopfer wird. Geht die Rechnung auf, dann rüstet der Inselstaat, um nicht kämpfen zu müssen.

Taiwan könnte dazu der „Strategie des Stachelschweins“ (William S. Murray) folgen, sich also militärisch einigeln. Der Ansatz erinnert ein wenig an die Schlacht von Verdun 1916. Ziel wäre ein Abnutzungskrieg, in dem China keine Geländegewinne macht und am Ende die Nerven verliert. Die Verteidigung ließe sich – hier grob vereinfacht – über vier Ringe organisieren: In Ring 1 wird die Invasionsmacht mit Antischiffsflugkörpern vom Typ Hsiung Feng III auf Distanz gehalten. Wird diese Linie durchbrochen, kommen in Ring 2 Hellfire-Raketen mit acht Kilometern Reichweite zum Einsatz. Sie können flexibel über Angriffshubschrauber, Lastkraftwagen oder Bodentruppen verschossen werden. Vorsorglich werden in Ring 3 „intelligente“ Minen gelegt, die zu aktivieren sind, sobald ein Landemanöver absehbar ist. In Ring 4 bereiten sich unter anderem Kampfpanzer und Artillerieeinheiten darauf vor, einen im Entstehen begriffenen Brückenkopf niederzukämpfen.

Dies wird von den Streitkräften Taiwans regelmäßig trainiert. Das übergeordnete Ziel der „Stachelschwein-Strategie“ ist, hinreichend Zeit für einen US-Entsatz zu gewinnen. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass Taiwan einen chinesischen Angriff nur wenige Wochen überleben wird. Zur Vorbereitung einer amerikanischen Intervention käme es also auf jeden Tag an.

Um den Preis einer Invasion für China weiter in die Höhe zu treiben, könnte Taiwan androhen, Ziele auf dem Festland anzugreifen. Dazu verfügt es über den Marschflugkörper Hsiung Feng IIE mit einer Reichweite von 600 Kilometern. Sollten Berichte zutreffen, dass der Inselstaat im Besitz der Boden-Boden-Rakete Yun Feng ist, wäre der asymmetrische Krieg noch effektiver zu führen. Diese Rakete soll eine Reichweite von 1200 Kilometern haben, womit sie gegen den Drei-Schluchten-Staudamm in der Provinz Hubei eingesetzt werden könnte. Über eine solche Einsatzoption hatte das Pentagon bereits 2004 spekuliert.

Jenseits solcher Invasionsszena­rien und Abwehrmöglichkeiten könnte China aber auch an einer ganz anderen Stelle ansetzen, um auf Taiwan Druck auszuüben. Eine gut organisierte Seeblockade dürfte die Insel schnell an die Grenzen ihrer Überlebensfähigkeit bringen. Statistiken weisen aus, dass Taiwan 98 Prozent seines Energiebedarfs importieren muss. Auch im Bereich der Nahrungsmittel ist das Land nicht autark; viele Produkte müssen eingeführt werden.

Taiwan würde so an seinem empfindlichsten Punkt getroffen. Es käme für die Volksbefreiungsarmee vermutlich, wie der chinesische Militärphilosoph Sun Tzu es empfiehlt, zum Sieg ohne Kampf. Denn die taiwanischen Streitkräfte verfügen kaum über Mittel, um eine Blockade zu durchbrechen. Die U-Boot-Waffe besteht aus nur vier Einheiten, von denen zwei Museumsreife haben. Washington hatte Taipeh 2001 die Lieferung von acht Diesel-U-Booten zugesagt, zu der es aus verschiedenen Gründen nicht gekommen ist. Deshalb hat sich das Land noch in der Amtszeit von Präsident Ma entschlossen, selbst U-Boote zu bauen. Der Zulauf wird gleichwohl noch Jahre dauern, da es nicht nur an Geld, sondern auch an notwendigem Know-how mangelt. Wie wertvoll die U-Boot-Waffe wäre, zeigte sich 1982 während des Falkland-Krieges. Damals war es einem einzigen argentinischen U-Boot gelungen, die Aufmerksamkeit der britischen Expeditionsmacht erheblich zu binden.

Das Ergebnis eines militärischen Schlagabtauschs zwischen China und Taiwan ist nicht absehbar. Offene Fragen und Unwägbarkeiten können in keinem noch so gut durchdachten Planspiel abschließend geklärt werden. Dies gilt insbesondere für die Bewertung der Fähigkeit zur Kriegführung. Beide Seiten haben in den vergangenen Jahrzehnten keine Kriegserfahrungen sammeln können. Wie sollen Offiziere unter diesen Bedingungen lernen, ein Gefecht zu führen? Diese und andere Fragen zeigen, dass die Entscheidung zum Krieg für Peking und Taipeh unabsehbare Folgen haben wird. Daraus kann eigentlich nur der Schluss gezogen werden, dass die Fortdauer des Status quo im Interesse aller Parteien liegen muss.

Fällt Taiwan an China?

Die Zukunft Taiwans ist mit zahlreichen Fragezeichen verbunden. Tsai dürfte es schwerfallen, den Verteidigungsetat substanziell anzuheben, um die Fähigkeit zur asymmetrischen Kriegführung auszubauen. Noch stehen die USA fest an der Seite Taiwans. Doch amerikanische Wissenschaftler diskutieren bereits seit einigen Jahren, ob es nicht klüger wäre, das Land aufzugeben. Alles werde, so John J. Mearsheimer, auf die von Peking präferierte „Hongkong-Lösung“ hinauslaufen – also „Ein Land, zwei Systeme“. Taiwan und die USA würden dem erstarkenden Reich der Mitte langfristig nichts entgegenzusetzen haben.

Vor allem die Europäer machen sich nicht klar, was eine friedliche oder gewaltsame Vereinigung der Insel mit dem Festland bedeuten würde. China könnte dann an der Ostküste Taiwans Stützpunkte für seine Seestreitkräfte errichten. Diese würden den lang ersehnten direkten Zugang zum Pazifischen Ozean erhalten. Dadurch könnten sie nicht nur die Seewege Japans direkt bedrohen. Es wäre auch absehbar, dass sich die maritime Konkurrenz zu den USA verschärft. Washington würde zudem einen wichtigen nachrichtendienstlichen Aufklärungsposten verlieren. So hätte es zum Beispiel keinen Zugang mehr zur vermutlich größten Radaranlage Ostasiens auf Leshan Mountain. Den taiwanischen Nachrichtendienst, mit dem die USA sehr eng zusammenarbeiten dürften, würde es nicht mehr geben. Dadurch würde der Westen insgesamt weniger über China wissen.

Wollen die Europäer diese Situation beeinflussen, dann müssten sie sicherheitspolitisch neu denken. Dies gilt insbesondere auch für Deutschland. Die Aufrüstung von Staaten wird gerade von linksliberalen Beobachtern per se als Gefahr für den Frieden betrachtet. Dies kann zutreffen, muss aber nicht. Aus Sicht der politikwissenschaftlichen Offense-Defense-­Theorie sind auch andere Interpretationen möglich. Demnach werden Angriffe wahrscheinlicher, wenn sie einfach sind. Für die Taiwan-Straße bedeutet dies, dass selektive und gezielte Exporte europäischer Rüstungstechnologie eher ein Beitrag zur Stabilisierung denn zur Destabilisierung der Lage wären. Einzelne Mitglieder der EU könnten Taiwan zum Beispiel beim U-Boot-Bau helfen. Dies würde eine mögliche chinesische Invasion komplizieren und dadurch unwahrscheinlicher machen.

Die Ausfuhr von defensiv ausgerichteter Rüstungstechnologie wäre kein Verstoß gegen die Grundsätze der „Ein-China-Politik“, da sich die Europäer auf einen wichtigen Präzedenzfall berufen könnten. Präsident Barack Obama hat allein in seiner Amtszeit Rüstungsexporte an Taiwan im Wert von über 14 Milliarden Dollar zugesagt. Die USA sehen dies durch ihre Auslegung der „Ein-China-Politik“ gedeckt.

Kann Taipeh mit einer solchen Politik Brüssels rechnen? Eher nicht. Die EU ist derzeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt: Griechenland und die Euro-Krise, Russland und die Ukraine, der „Islamische Staat“ und die Anschläge von Paris sowie Brüssel, die Bürgerkriege in Syrien und im Irak sowie der Zustrom von Flüchtlingen und Migranten absorbieren jegliche Aufmerksamkeit. Sollte es daher in Ostasien zu einem Krieg kommen, werden die Europäer auch hier den Ereignissen nur überrascht hinterherlaufen können. Dann wird sich rächen, dass der derzeitige strategische Blick der EU östlich von ­Afghanistan endet.

Das Fazit ist deshalb ernüchternd: Sollte es in der Taiwan-Straße zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen, darf Taipeh nichts von Europa erwarten. Nur die USA dienen als Rettungsanker. Die Europäer werden sich betroffen zeigen, die Konfliktparteien zur Mäßigung mahnen und den Krieg verurteilen. Kaufen kann sich Taiwan dafür nichts.

Prof. Dr. Martin Wagener lehrt Politik­wissenschaft mit dem Schwerpunk Internationale Politik an der Hochschule des Bundes für öffentliche ­Verwaltung in Brühl und Haar.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/ Juni 2016, S. 88-95

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