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01. Juli 2017

Die andere Seite des Lichts

Gegenüber den hellen Museen liegt die düstere Welt der Kriminalität

Marko Martin | Das politische System Brasiliens befindet sich in der größten Krise seit Wiedererlangung der Demokratie im Jahr 1985. Nach der Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff 2016 muss nun auch ihr Nachfolger Michel Temer zittern. Eine Enthüllungsgeschichte folgt der nächsten, wobei stets ein lokalpatriotischer Unterton mitschwingt: Während hier in der Zwölf-Millionen-Metropole São Paulo hart gearbeitet und der Finanz- und Wirtschaftsmotor am Laufen gehalten werde, verprasse eine dysfunktionale Regierungs- und Parteikaste in der „künstlichen“ Hauptstadt Brasilia „unser Geld“. Weit weniger analysiert wird hingegen, weshalb Konzernkonglomerate wie Petrobras, der Bauriese Odebrecht oder der weltweit größte Fleischkonzern JBS von lukrativen, aber keineswegs nachhaltigen Staatsaufträgen profitieren oder von staatlichen Banken zinsgünstige Kredite erhalten und im Gegenzug dann Politiker schmieren.

Der Schriftsteller Luiz ­Ruffato, Autor des berühmten São-Paulo-Romans „Es waren viele Pferde“, nennt diese Strukturen „präkapitalistisch“, da sie eher von traditionellem Korporatismus geprägt seien als von globalem Wettbewerb. Derlei hört man in den ultramodernen Wolkenkratzern des Bankenviertels an der drei Kilometer langen Avenida Paulista aber nur ungern, was Ruffatos These nur bestätigt: Glitzernder Schein zählt in einer Ständegesellschaft ungleich mehr als marktwirtschaftliches Sein.

Währenddessen trauert die Linke noch immer jenen vermeintlich goldenen Lula-Zeiten nach und vergisst, dass das damalige Wachstum vor allem schuldenfinanziert war und in unverantwortlicher Weise ärmere Bevölkerungsschichten animiert hatte, auf Pump Prestigeobjekte wie Flachbildschirme oder neueste Smartphones zu kaufen. Weder wurde ernsthaft in Bildung investiert noch die Chance ergriffen, endlich marktwirtschaftliche Diversität zu entwickeln. Auch an der sozial bedingten ethnischen Segregation hat sich deshalb nichts Grundlegendes verändert.

Weshalb aber wird gerade das nicht debattiert? Der 1961 geborene Ruffato lächelt fein und empfiehlt einen Besuch der Gegend um den Bahnhof Estacão da Luz: „Aber passen Sie aus Sicherheitsgründen auf der linken Seite auf – während Sie rechts in der Pinacoteca die fragwürdige Schönheit unserer vermeintlichen Kultiviertheit erwartet. Und verpassen Sie nicht die Museumsdependance an der 500 Meter nördlich gelegenen Estacão Prestes. Aber nehmen Sie besser ein Taxi!“ Seine Worte, gesprochen in einem Café im Stadtzentrum, das nach Einbruch der Dunkelheit ebenfalls als unsicher gilt, werden untermalt von flappenden Helicoptergeräuschen, an die man sich in São Paulo schnell gewöhnt: Entweder sind es Polizeieinsätze oder Schwerreiche, die zwischen den Landeplätzen der Hochhausdächer hin- und herfliegen.

Zwischen zwei Bahnhöfen

Dieser städtebauliche Ausschnitt bietet tatsächlich mehr Erkenntnisgewinn als alle mediale Tagespolemik: Linkerhand des restaurierten Bahnhofsgebäudes, das um 1900 im viktorianischen England entworfen und in Einzelteilen nach São Paulo transportiert wurde, liegen der triste Straßenstrich und die Ausläufer von „Cracolândia“, dem berüchtigten Drogenviertel. Vis à vis hingegen die Sonnenseite der Estacão da Luz. Vor und im Backsteingebäude der berückend gestalteten Pinacoteca tummeln sich weiße Privatschüler beim Ausflug und bleiben mitunter brauenrunzelnd vor goldgerahmten Gemälden stehen, die das Schicksal der brasilianischen Schwarzen zeigen, deren Sklavenstatus erst 1888 aufgehoben wurde – ohne dass es zu einer wirklichen Veränderung gekommen wäre.

Sittsam erschütterte Blicke hauptstädtischer Hipster und Kunststudenten auch einen halben Kilometer weiter in der Pinacoteca-Dependance neben der Estacão Prestel. Denn außer den üblichen postavantgardistischen Videoinstallationen gibt es in den lichtdurchfluteten Räumen auch dies: Schwarzweiß-Fotografien von jener Schattenseite des „Licht“-Bahnhofs, ästhetisch wertvolle Sozialanklagen, bislang leider ohne nachhaltige Wirkung. Im Erdgeschoss wird in einer ebenso antiseptischen Ausstellung an die Gefangenen während der Militärdiktatur erinnert, als auch Rousseff von der Politischen Polizei just in diesem Haus gefoltert wurde.

Die schwarzen Kids, die draußen in den unwirtlichen Straßen zwischen den zwei Bahnhöfen barfuß umherschlappen, dürfte dies am wenigsten interessieren. Vermutlich wissen sie vor allem instinktiv, wann es Zeit ist, vor der berittenen Polizei abzutauchen, weg von den hellen Museen, hinein in ihre düstere Welt der Drogen- und Gewaltkriminalität.

„Bildung ist ein Spielzeug für Reiche geblieben“, schrieb 1955 der französische Anthropologe Claude ­Lévi-Strauss im São-Paulo-Kapitel seiner legendären Untersuchung „Traurige Tropen“. Über ein halbes Jahrhundert später empfiehlt ein brasilianischer Romancier, dieses Viertel zu besuchen – pars pro toto für ein Land, für eine Stadt, in der die Krisen weiterhin ungleich tiefer reichen als der jüngste Präsidentenskandal.

Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in ­Berlin. Jüngst ­erschien sein Erzählband „Umsteigen in Babylon“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2017, S. 128 - 129

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