Die Ära der größten Völkerwanderung?
Ökonomie
Der Zusammenhang zwischen Migration und Freiheit verschwindet aus dem Bewusstsein
Die Zeiten, in denen die deutsche Haltung zur Wanderung vom Tenor des Volkslieds „Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein. Stock und Hut stehn ihm gut – ist gar wohlgemut“ geprägt war, scheint versunkene Geschichte zu sein. Wanderung mit den Assoziationen Ablösung vom Nest, Erfahrungsgewinn und Weltoffenheit zu verbinden, erscheint heute angesichts von Terrorangst und Sorge um den Arbeitsplatz in Verbindung mit den Einwanderern gänzlich verdrängt.
Wanderung war und ist ein Phänomen mit äußerst vielfältigen Implikationen für Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Religion. Zumeist werden heute gesamtwirtschaftliche Aspekte wie der Wettbewerb um Arbeitsplätze in der Diskussion hervorgehoben. Die vielfältigen Aspekte im mikroökonomischen Kontext – die Lernerfahrungen der Einzelnen, die Fühlungsvorteile der Firmen, der Verständnisgewinn für Wissenschaft, Verwaltung und Politik – sind meist weit in den Hintergrund gedrängt. Die Bedeutung des Zusammenhangs von Freiheit und Wanderung für das Gelingen der Lebensentwürfe ist nicht im Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins.
Historisch waren dicht besiedelte Räume Auswanderungsländer, und leere, offene Räume waren Einwanderungsländer. Solche Ideen dominieren auch noch am Anfang des 21. Jahrhunderts die gesellschaftlichen Vorstellungen über die Wünschbarkeit und Verträglichkeit von Wanderung in Gesellschaft und Politik. Während fast überall die Entwicklung der Lebenserwartung gleich ist, nämlich mit unverändertem Tempo steigt, unterscheidet sich die Kinderfreudigkeit erheblich, und nicht nur – wie traditionellerweise – zwischen reichen und ärmeren Ländern, sondern auch zwischen Ländern mit ähnlichem Einkommensniveau. Diese Unterschiede sorgen dafür, dass Länder – bislang dicht besiedelt und einwanderungsunwillig und -fähig – mit guter Infrastruktur entleert werden. Hier entsteht Einwanderungssog. Andere Länder mit beträchtlicher Kinderzahl erleben eine Bevölkerungsexplosion. Oftmals fehlt die ausreichende physische Infrastruktur, oftmals die Möglichkeit einer angemessenen Aus- und Weiterbildung. In solchen Ländern herrscht Auswanderungsdruck. Solche Sog- und Druckverhältnisse sind umso wanderungsrelevanter, je näher die entsprechenden Räume einander sind. Zudem sind Wanderungen umso stärker, je mehr sich Trampelpfade bereits historisch etabliert haben. Diese können politisch bedingt sein, sie können sich aber auch durch Impulse aus Wissenschaft oder Wirtschaft entwickelt haben.
Trotz der kräftigen Ausweitung der Wohnbevölkerung der USA durch eigene Kinder auf 400 Millionen bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts wird es starke Zuwanderung aus Lateinamerika, aber auch aus vielen anderen Teilen der Welt geben: Einwanderung in das Elite-Bildungssystem und in die Welt der Unternehmer.
Die zweite Region mit starker Wanderung wird um das Mittelmeer liegen. Die meisten Teile Kontinentaleuropas werden ab der Mitte des kommenden Jahrzehnts eine schrumpfende Bevölkerung aufweisen. Gleichzeitig steigt im Nahen Osten und in Nordafrika die Bevölkerung massiv an. Hier fehlen die Jungen, die Lernfähigen, die Risikobereiten – dort gibt es sie in übergroßer Zahl. Die Vermutung, dass Menschen aus dem ärmeren europäischen Osten in das reichere Westeuropa wanderten, ist ohne demographische, ja ohne wirkliche ökonomische Begründung. Für eine solche Wanderungsabstinenz spricht die Erfahrung, die man mit der Süderweiterung der EU gemacht hat. Nicht Mittelwesteuropa wurde Einwanderungsregion, Spanien zog Einwanderer an. Die Wanderung über das Mittelmeer wird zu einem wichtigen Teil historisch eingeübte Trampelpfade nutzen. Offenkundig ist aber, dass die Mittel-/Westeuropäer keine proaktive Einwanderungspolitik betreiben. Im Gegenteil: Die ablehnende politische und gesellschaftliche Haltung gegenüber der Einwanderung verstärkt sich. Angst vor Verlust des eigenen Arbeitsplatzes, Sorge vor Belastung der Sozialbudgets, aber auch Sorge vor Überfremdung, vor Verlust der eigenen nationalen Identität sind Ursachen der Ablehnung. Auch die Besorgnis um die eigene Sicherheit erzeugt eine oft dumpfe Ablehnung alles Fremden. Die europäische Völkerwanderung im 21. Jahrhundert wird eine große Herausforderung in Bezug auf die soziale Integration darstellen. Die meisten Einwanderer werden aus fremden Ethnien, aus der muslimischen Welt stammen. Die Einwanderer werden ganz andere Lebensentwürfe haben als sie in den Einwanderungsländern zu beobachten sind. Die sprachlichen Unterschiede sind dramatisch. Da die Einwanderung eher spontan/chaotisch stattfinden wird statt selektiv und vorbereitet/geordnet, ist die Vorbereitung der Einwanderer auf ihr Zielland und des Ziellands auf die neuen Einwohner eher unterentwickelt. Sprachliche, kulturelle und religiöse Vorbereitung auf die Wanderung würde soziale Spannung abbauen und die ökonomische Nützlichkeit für beide Seiten erhöhen.
Die Wanderungsregion Asien wird sicherlich aufregende Jahrzehnte vor sich haben. Japans Alterung und Schrumpfung wird einen ähnlichen demographischen Sog auslösen, wie er für Kontinentaleuropa skizziert wurde. Ob das insulare Japan aber eine ähnlich kräftige Einwanderung erleben wird, wie ich sie für Europa voraussehe, ist zweifelhaft. Chinesische Alterung und Schrumpfung wird um zwei Jahrzehnte verzögert erfolgen. China mag eine Wanderung Richtung Russland für eine Übergangszeit erleben. In Asien wird es in den künftigen Dekaden weiter kräftige Wanderungen von Gastarbeitern geben. Diese Wanderung von weiblichen und männlichen Arbeitskräften folgt den Arbeitsmöglichkeiten und deutlichen Einkommensgefällen. Gastarbeiter wandern von den Philippinen nach Hongkong oder Singapur, aus Pakistan und Bangladesch auf die Arabische Halbinsel. Diese Gastarbeiter lösen Zahlungsströme in die Heimatländer aus, die die Zahlungsströme aus Auslandsinvestitionen der Größe, vor allem aber der Stabilität nach übertreffen.
Bedenkt man die mit der Wanderung verbundenen Spannungen – insbesondere bei großen religiösen und kulturellen Unterschieden – so erscheint das Votum für den Ausgleich durch Handel und Direktinvestition verständlich. So sollten die USA, Japan und Europa Finanz-, Sach- und Wissenskapital dorthin bringen, wo die Zahl der Menschen und Arbeitskräfte dramatisch steigt. Dann könnten die Menschen in ihrem eigenen Kulturkreis bleiben. Die alternde und schrumpfende Gesellschaft könnte mit Gütern und (digitalisierten) Diensten aus den jungen Gesellschaften versorgt werden. Die Bezahlung dieser Importe könnte teils aus dem Kapitaldienst für den (vorherigen) Kapitalexport geleistet werden. Ein solches Konzept ist attraktiv, aber wohl zu idealistisch, da hierfür „good governance“ in Entwicklungs- und Schwellenländern durchgängig erforderlich wäre, was jedoch kaum zu erwarten ist.
Prof. Dr. NORBERT WALTER, geb. 1944, ist Chefvolkswirt der Deutschen Bank Gruppe in Frankfurt am Main.
Internationale Politik 3, März 2006, S. 58 - 59.