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01. Dez. 2008

Die Achillesfersen des Riesenreichs

Einbruch des Ölpreises, Abzug von Geldern: Russlands Wirtschaft lahmt

Noch Ende Oktober verkündete Premier Wladimir Putin bei einem Treffen mit dem kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew siegesgewiss: „Russland wird die internationale Finanzkrise sicher über-stehen.“ Dass die globalen Turbulenzen nicht ohne sonderliche Verluste am Riesenreich vorbeiziehen werden, musste jedoch auch Putin schnell einsehen: Russlands Wirtschaftsaufschwung ist vorerst gestoppt. Die Moskauer Börsen RTS und MICEX haben in wenigen Wochen 65 Prozent an Wert verloren und ausländische Kreditgeber hohe Summen aus Russland abgezogen. Die Krise offenbart, wie abhängig die russische Wirtschaft von internationalen Entwicklungen ist. So hat die Regierung inzwischen ein Rettungspaket im Wert von 210 Milliarden Dollar aufgelegt.

Russland trifft die Finanzkrise doppelt hart: Einerseits hat sich in ihrer Folge der internationale Kreditmarkt für russische Unternehmen fast vollständig geschlossen. Allein in den letzten Wochen zogen ausländische Geldgeber fast 80 Milliarden Dollar aus Russland ab. Andererseits fiel aufgrund der weltweit befürchteten Rezession der Ölpreis von seinem Höchststand von 147 zeitweise auf 56 Dollar pro Barrel. Damit wurden die beiden Achillesfersen des russischen Wirtschaftssystems empfindlich getroffen: die beträchtliche Abhängigkeit von Auslandskrediten und einem hohen Ölpreis.

Neben den hohen Rohstoffpreisen basierte das russische Wirtschaftswachstum der letzten Jahre (zwischen fünf und sieben Prozent seit 2001) vor allem auf einer hohen Binnennachfrage und auf Auslandsinvestitionen. Konnte die russische Regierung Währungsreserven im Wert von 560 Milliarden Dollar aufbauen, so verschuldeten sich russische Banken und Unternehmen im Ausland mit etwa 440 Milliarden Dollar. Private Haushalte finanzierten damit ihren Konsum, russische Großunternehmen Zukäufe im In- und Ausland.

Diese haben jetzt Probleme, ihre Schulden zu bedienen: Im nächsten Jahr werden Rückzahlungen von 115 Milliarden Dollar fällig. Während Energieunternehmen wie Gazprom bereits geplante Investitionsprojekte auf Eis legen mussten, verkaufen russische Oligarchen ausländische Beteiligungen, um ihre Kredite abzuzahlen. Laut Bloomberg haben die 25 reichsten Russen bis Mitte Oktober an der Börse ungefähr ein Drittel ihres Vermögens und damit 238 Milliarden Dollar verloren.

Angesichts sinkender Kurs- und Börsenindices und aufgrund der bevorstehenden weltweiten Rezession sind die Preise für Öl, Gas und Metalle in den letzten Wochen massiv gefallen und werden so schnell nicht wieder anziehen. Rohstoffe sind aber die wichtigsten Exportprodukte Russlands. Allein Erdöl macht ein Drittel der russischen Staatseinkünfte und 60 Prozent der Exporteinnahmen aus. Damit rächt sich, dass Russland es in den letzten Jahren nicht geschafft hat, diese Abhängigkeit zu verringern. Laufende oder geplante Investitionen in die Erschließung neuer Lagerstätten wurden aufgrund fehlender Mittel teilweise gestoppt.

Hinzu kommt, dass viele geplante Projekte sich aufgrund der schwierigen klimatischen Bedingungen erst ab einem Ölpreis von 90 bis 100 Dollar lohnen. Dies trifft auch auf das Gasfeld Shtokman in der Barentssee zu, das künftig vor allem die in Bau befindliche Ostsee-Pipeline beliefern soll. Die größten Energieunternehmen Gazprom, Rosneft, Lukoil und TNK-BP erhielten im Oktober vom Staat neun Milliarden Dollar, um ihre laufenden Verpflichtungen bedienen zu können. Zuvor hatte Finanzminister Aleksei Kudrin zur Unterstützung der Unternehmen bereits die Steuern und Zollabgaben für Rohstoffe gesenkt.

Das Defizit auf dem Kreditmarkt und der Rückgang der Nachfrage haben inzwischen auch die reale Wirtschaft erreicht und zu einem Rückgang der Produktion geführt. Vor allem die Bauwirtschaft und die Automobilindustrie sind davon betroffen. Nachdem sich der Wert russischer Unternehmen an der Börse zum Teil halbiert hatte, begannen die Zentralbank und das Finanzministerium zu intervenieren und Aktien aufzukaufen. Die Zentralbank und der Nationale Wohlfahrtsfonds (Staatsfonds) stellten den großen staatlichen Banken Sberbank, VTB und VEB insgesamt 950 Milliarden Rubel für fünf Jahre zur Verfügung, um so der Wirtschaft Kredite zu ermöglichen. Damit wird der Einfluss des russischen Staates auf die Wirtschaft weiter steigen.

Gleichzeitig könnte diese Entwicklung gravierende Auswirkungen auf das von Präsident Dmitri Medwedew geplante Modernisierungsprogramm haben, welches enorme Investitionen in die Infrastruktur und in Schlüsseltechnologien vorsieht. Ebenso bezeichnen Kritiker den bereits beschlossenen Staatshaushalt für 2009 als nicht gedeckt, da er mit einem geschätzten Ölpreis von 80 bis 90 Dollar aufgestellt wurde.

Trotz dieser kritischen Tendenzen hat Russland im Unterschied zur Finanzkrise 1998 besser vorgesorgt. Die Währungsreserven sind nach den chinesischen und japanischen weltweit die drittgrößten. Moskau hat in den letzten Jahren seine Auslandsschulden weitgehend abgezahlt. Auch hat sich Finanzminister Kudrin erfolgreich gegen Steuersenkungen gewehrt. Das russische Wirtschaftsmagazin Expert sieht deshalb in der Krise eine Chance für ein gesünderes Wachstum der russischen Wirtschaft: Die nächsten Monate werden entscheiden, ob die Regierung die Krise nutzt, um die Regeln im Interesse der gesamten Wirtschaft zu verbessern oder weiterhin staatliche Großunternehmen bevorteilt.

Dr. STEFAN MEISTER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Programms Russland/Eurasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.