Internationale Presse

01. März 2016

Dialektische Vorwahlen

Internationale Presse USA

Wer wird nächster US-Präsident und was bleibt von Obamas Amtszeit übrig?

Es überrascht nicht wirklich, dass die Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl gegenwärtig das breiteste Echo in den amerikanischen Medien finden. Kandidaten werden gewichtet und man schlägt einen großen Bogen zu möglichen kulturellen Neuorientierungen in der Gesellschaft. Darüber hinaus finden aber auch internationale Entwicklungen, die europäische Flüchtlingskrise eingeschlossen, große Beachtung. Und schließlich gibt es Debatten, die außerhalb der USA kaum wahrgenommen werden.

Bei den Vorwahlen zum Weißen Haus stehen sich zwei verfeindete und zudem intern gespaltene Parteien gegenüber, befinden amerikanische Publizisten. Und trotzdem sei, unabhängig vom Wahlausgang am 8. November, schon jetzt klar: „Das Land insgesamt bewegt sich weiter nach links“, so der liberale Kolumnist ­Peter Beinart in The Atlantic (Januar/Februar 2016; siehe dazu auch seinen Essay in dieser IP).

Zum einen gebe es einen Linksruck der Demokraten, der ausgelöst worden sei durch die Präsidentschaft von George W. Bush. Dieser habe nämlich die Republikaner im Süden der USA so stark gemacht, dass die Zahl der zentristischen Southerners unter den Demokraten im Kongress dahingeschmolzen sei. Unter Obama kamen die Gleichstellung von ­Homoehen mit konventionellen Ehen durch den Supreme Court und die „Black-Lives-Matter“-Bewegung hinzu, so Beinart. Hillary Clinton musste im vergangenen Sommer erfahren, dass die vermeintlich naheliegende Reaktion darauf – „All lives matter“ – politisch vollkommen inkorrekt ist.

Zum anderen gäben bei den Republikanern nicht mehr „Neocons“, sondern „Reformocons“ den Ton an. „Ebenso wie Clinton links von Obama regieren würde, würde wahrscheinlich jeder Republikaner, der 2016 die Wahlen gewinnen sollte, links von George W. Bush regieren“, lautet Beinarts Fazit.

Andere Autoren nehmen die Spezifika des aktuellen Wahlkampfs stärker in den Blick. Bei den Demokraten stehen Hillary Clinton und Bernie Sanders für „moderaten Progressivismus“ auf der einen und „demokratischen Sozialismus“ auf der anderen Seite, schreibt Eugene Joseph „E.J.“ Dionne Jr. in der Washington Post (4. Februar). Bei den Republikanern sieht er drei konkurrierende Flügel: Ted Cruz repräsentiere die konservativen Christen. Donald Trump habe aus alten Ideen der Partei ein neues Lager begründet, das auf Nationalismus, ethnozentrischen Vorurteilen und Rassismus beruhe. Und Marco Rubio versuche, die gebildeteren Konservativen hinter sich zu vereinen, die Cruz und Trump nicht mögen.
 

Wer wagt eine Prognose?

Wer wird sich durchsetzen? Dionne wagt für die Republikaner keine Prognose. Und für die Demokraten findet der in der linken Mitte angesiedelte Autor nach kluger Analyse einen etwas matten Schluss: „Nennen wir es die dialektischen Primaries: Demokraten suchen nach einer Synthese zwischen Reform und Revolution.“ Das ist aber auch verständlich, denn wer will sich schon in dieser Phase der Vorwahlen, die mit vermeintlich ehernen Gesetzen bisheriger Präsidentschaftswahlen zu brechen scheinen, mit einer klaren Voraussage aus der Deckung wagen?

Vielleicht Charles Krauthammer. Ebenfalls in der Washington Post (29. Januar) sagt der konservative Kommentator die Nominierung Clintons bei den Demokraten voraus, weil die Annahme „weit hergeholt wäre“, dass die Amerikaner als einzige große Demokratie im 20. Jahrhundert den Sirenenklängen des Sozialismus widerstanden hätten, um jetzt Bernie Sanders zu folgen. „Die Demokraten würden bei den Wahlen im November ein historisches Desaster riskieren“, meint Krauthammer.

Mit Blick auf Trump schreibt der wortmächtige Publizist, dass es sich bei dessen Selbstverortung im Konservativismus wohl eher um ein „Mietobjekt“ (und zwar um ein „dreistöckiges Penthouse mit Blick auf den Central Park“) handele als um eine „ideologische Heimat“. Cruz sei hingegen ein „echter Konservativer, streng und so radikal, dass er die Mainstream-Konservativen im Kongress als Abtrünnige ansieht“. Darum baut Krauthammer auf den als „reformkonservativ“ etikettierten Rubio. Er stehe für „eine Agenda, die dem Konservativismus die besten Chancen seit Reagan eröffnet, die führende Philosophie des Landes zu werden“.

Wenn sich aber doch die Flügelkandidaten durchsetzen sollten, also Trump oder Cruz bei den Republikanern und Sanders bei den Demokraten? Für diesen Fall hält Douglas Schoen, einstiger Mitarbeiter von Bill und von Hillary Clinton, eine Alternative bereit. Dann würde sich, so Schoen im Wall Street Journal (3. Februar), Michael Bloomberg als dritter Kandidat in Stellung bringen. Und New Yorks ehemaliger Bürgermeister, den Schoen zeitweise beraten hat, hätte Aussichten, Präsident zu werden. Denn die Beteiligung an Primaries und Caucuses geht zurück, weil Vorwahlen zum Tummelplatz für dezidiert Linke und ausgesprochen Konservative würden. Aber während sich nur 26 Prozent der US-Bürger als Republikaner und 30 Prozent als Demokraten identifizierten, stuften sich voriges Jahr in einer Gallup-Umfrage 43 Prozent als Unabhängige ein.

Das wäre eine hübsche Ironie: Während sich die beiden Parteien nach links und rechts orientieren, würde in der Mitte ein Moderater ins Oval Office marschieren und das bisherige Zwei-Parteien-System möglicherweise dauerhaft sprengen.
 

Mehr Worte als Taten

Die Wahl bleibt spannend, sicher ist nur, dass Barack Obama ab dem 20. Januar 2017 nicht mehr im Amt sein wird. Wie sieht sein Vermächtnis aus? Obamas außenpolitische Bilanz wird überwiegend negativ beurteilt. Der gängige Vorwurf lautet, der Präsident sei schmerzlichen Entscheidungen ausgewichen und seine Taten unterschieden sich oft von seinen Worten, schreibt der Journalist Fred M. Kaplan in Foreign Affairs (Januar/­Februar 2016).

Der Pulitzer-Preisträger stellt diese These auf den Prüfstand vor dem Hintergrund außenpolitischer Krisen. Da war die Intervention in Libyen, bei der sich Obama für „leadership from behind“ entschied. Damals hatten Frankreich, Italien und Großbritannien ein viel größeres Interesse am Sturz Gaddafis und angekündigt, nach der gemeinsamen Militär­intervention die erforderliche Wiederaufbauarbeit leisten zu wollen. Doch dieses Versprechen wurde nicht eingelöst, „und diese Lehre wog schwer, als er (Obama) überlegen musste, wie er mit einer ähnlichen Krise in Syrien umgehen sollte“, so Kaplan.

Die Entscheidung Obamas, nicht in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen, führte zu einer ersten Welle der Kritik an seiner Außenpolitik. Dann kam die Definition einer „roten Linie“ und ihre folgenlose Verletzung durch Baschar al-Assad. Und zu allem Überfluss trat dann auch noch Wladimir Putin als weißer Ritter auf, der die Übergabe des syrischen C-Waffen-Arsenals aushandelte.

Ähnlich mäandernd geriet der Umgang mit den Terrormilizen des Islamischen Staates (IS). Kaplan fasst zusammen: „Was in allen Phasen von Obamas Syrien-Politik fehlte, war ein kohärentes Vorgehen. Seine beiden Ziele – den IS zu besiegen und Assad zum Rücktritt zu zwingen – widersprechen sich im Prinzip.“

Der Autor verweist auf die Vielzahl der Krisenherde und lobt Obamas Erfolg bei den Iran-Verhandlungen. Aber letztlich bestätigt er in seinem um Fairness bemühten Essay die Kritik, dass Obamas „Worte mitunter tapferer waren als seine Taten“.

Während Kaplan die Normalisierung der Beziehungen zu Kuba als einen Erfolg Obamas verbucht, wird die Havanna-Politik des Präsidenten von anderen Beobachtern inzwischen ebenfalls kritisiert. „Scheitern in Kuba“ überschreibt die Wa­shington Post (1. Februar) ein nicht gezeichnetes Editorial, das die Haltung der Redaktion formuliert. Der Präsident drohe an seinen selbst postulierten Zielen zu scheitern, das kubanische Volk zu stärken und die dort aufkommende Privatwirtschaft anzuspornen. Das sei möglicherweise der Fall, „weil Mr. Obama dem ­Castro-Regime weiterhin einseitige Zugeständnisse macht und keine Gegenleistungen verlangt“. Das Fazit: „Autokraten rundum müssen voll Neid auf die glückliche Situation der Castros schauen.“
 

Merkels „Führungskraft“

Große Aufmerksamkeit findet die ­europäische Flüchtlingskrise in einem Land, in dem tonangebende ­republikanische Politiker den Plan ­Obamas entschieden ablehnen, in diesem Jahr immerhin 10 000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Auch die sexuellen Übergriffe ausländischer Männer auf Frauen in Köln und anderen europäischen Städten in der Silvesternacht wurden sehr kontrovers diskutiert.

So schrieb der konservative Blogger und Autor Ross Douthat in einer Gastkolumne für die New York Times (9. Januar), Deutschland stehe „auf der Kippe“. Angesichts des Zustroms vor allem junger Männer aus muslimischen Staaten bestehe die Gefahr einer Destabilisierung der Gesellschaft. Darum müsse „Merkel gehen“, so Douthats Forderung.

Dieses Op-Ed hat in Deutschland großes Echo ausgelöst und wurde oft als „Kommentar der New York Times“ zitiert. Das entspricht jedoch so ganz und gar nicht dem Charakter eines Gastbeitrags. Zudem hatte das Blatt nur einen Tag zuvor (8. Januar) in einem echten Editorial, also einem namentlich nicht gezeichneten Leit­artikel, die Linie der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingskrise ausdrücklich gelobt. Während sich die EU auf einen fragwürdigen Deal mit der Türkei eingelassen habe, zeige Merkel „bemerkenswerte Führungskraft“.
 

Waffen ja, Bier nein

Mit der Erwartung, dass die USA linker würden, meint man in der Regel: „europäischer“. Laut einer außerhalb der USA kaum wahrgenommenen De­batte könnte sich dieser Trend verstärken. So fordert Jeffrey A. Tucker im Magazin Newsweek (16. Januar), den Konsum von Bier und Wein, der bislang erst ab 21 Jahren erlaubt ist, schon für 18-Jährige frei zu geben. Sein ­Argument: Eine „­europaähnliche Kultur des Trinkens fördert Verantwortungsbereitschaft und zivilisierte Nüchternheit“. Tucker erinnert an die Zeit der Prohibition, die den ­Alkoholkonsum nicht gestoppt, sondern lediglich in die Illegalität verschoben habe.

Ähnlich argumentiert die bekannte Kolumnistin Froma Harrop in The Herald (25. Januar). In ­Europa können 18-Jährige einen Martini ordern und in Belgien oder Deutschland schon 16-Jährige Bier oder Wein, schreibt sie. Aber in Amerika, „dem angeblichen Land der Freiheit, kann ein 19-jähriger Soldat, der gerade aus Afghanistan kommt, nicht in eine Bar gehen und legal ein Bier bestellen“.

In Kalifornien, Minnesota und New Hampshire wird es bei den November-Wahlen entsprechende Plebiszite geben, doch sie haben geringe Chancen; nach einer aktuellen Gallup-Erhebung befürworten in den USA lediglich 25 Prozent der Bevölkerung eine Senkung des „drinking age“. Allerdings: 2001 sprachen sich nur 21 Prozent für eine Senkung derAltersgrenze aus – der Trend ist also „europäisch“. Bis auf Weiteres bleibt es darum bei dem Kuriosum, dass 18-jährige Amerikaner Schusswaffen kaufen können, aber auf das legale Bier dann noch drei Jahre warten müssen.

Ansgar Graw ist USA-Korrespondent von Welt und Welt am Sonntag mit Sitz in Washington, D.C.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2016, S. 132-135

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