IP

01. Mai 2007

In der Vierten lebt sich’s besser

Die polnische Regierung interpretiert die Geschichte

Welche Republik soll es sein? Polens Intellektuelle streiten über Vergangenheit und Gegenwart

Wladyslaw Bartoszewski, der Nestor der deutsch-polnischen Aussöhnung, meidet es für gewöhnlich, aktuelle innenpolitische Auseinandersetzungen in Polen zu kommentieren. Der 85-jährige Historiker und Zeuge des „Zeitalters der Extreme“ hat eine eher distanzierte Haltung zu den Aufgeregtheiten der polnischen Mediendemokratie. Vor rund zwei Jahren verteidigte der Auschwitz-Überlebende die Kaczynski-Zwillinge gegen den besonders in deutschen Zeitungen erhobenen Vorwurf, sie seien antisemitische Nationalisten mit diktatorischem Charakter. Es war daher ein besonderes Ereignis, als Bartoszewski wenige Tage vor seinem 85. Geburtstag in einem Interview mit dem Spiegel (12. Februar 2007) den Kaczynskis die Leviten las. Darin bezeichnet er Premierminister Jaroslaw Kaczynski als arrogant und egozentrisch, die PiS-Zwillinge als straff organisierten und relativ autoritären Familien-Clan. Mit Ironie kommentiert Bartoszewski den Anspruch der Kaczynskis, ihre Amtszeit werde eine gerechtere und moralisch bessere Demokratie, eine „Vierte Republik“ begründen: „Als Historiker weigere ich mich“, so Bartoszewski, „eine Epochengrenze ante factum anzuerkennen. Die Erste Republik ist mit den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts zu Ende gegangen, die Zweite Republik 1939 durch den deutschen Überfall. Die Dritte Republik hat mit dem Ende des Kommunismus begonnen. Man kann nicht nach der Auszählung der Stimmen in den Wahlurnen einfach erklären: Wir leben in der Vierten Republik. (…) Das größte Verdienst der Dritten Republik ist es, Polen wieder in Europa etabliert zu haben, durch den Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union. Dazu gehört das Zusammenwirken mit Deutschland; dazu gab und gibt es gar keine Alternative.“

Doch so scharf der Konflikt zwischen den Kaczynskis und Bartoszewski um Polens Außenpolitik auch geführt wird: Im Vergleich zu den Angriffen der Zwillingsbrüder auf den legendären Gewerkschaftsführer Lech Walesa bleibt er durchaus zahm. In einem Interview mit der populistischen Wochenzeitschrift Wprost lässt sich Staatspräsident Kaczynski zu einer Generalabrechung mit Walesa unter dem Titel „Lech gegen Lech“ hinreißen (18. März 2007). Kaczynski wirft Walesa vor, nach 1989 die Zerschlagung alter kommunistischer Seilschaften verhindert zu haben, indem er seine Machtbasis nicht mit Hilfe von Solidarnosc-Gefährten, sondern mit Unterstützung alter Kader gesichert habe. Der Präsidentschaftswahlkampf 1995 zwischen Walesa und dem Chef der Postkommunisten, Aleksander Kaczynski, sei nichts anderes als eine Auseinandersetzung zwischen zwei Elementen desselben alten Systems gewesen, dem Parteiapparat und dem Geheimdienst.

Nach Ansicht des Staatspräsidenten sind alte Seilschaften auch eine Belastung für Polens diplomatischen Dienst. Die große Mehrzahl der Beamten des Außenministeriums seien loyale Mitarbeiter der Exaußenminister Bronislaw Geremek und Krzysztof Skubiszewski, zum Teil gewiss hervorragende Diplomaten, jedoch mit problematischen außenpolitischen Ansichten. So trete die Geremek-Fraktion für eine tiefgehende europäische Integration ein, die die Souveränität des polnischen Staates in Frage stelle. Er, Kaczynski, halte eine solche Haltung für völlig falsch.

Die ganze Diskussion hat in den vergangenen Monaten zu einem starken Ansehensverlust des Präsidenten und des Premierministers in Polen geführt. Nach Ansicht der Redakteure der angesehenen Wochenzeitung Polityka, Mariusz Janicki und Wieslaw Wladyka (17. März 2007), hat kaum eine Regierung zuvor ihre Machtbasis so sehr auf gesellschaftliche Konfrontation aufgebaut wie die Kaczynskis. Nach 1989 sei sich die polnische Gesellschaft trotz aller Spaltungen über die Grundzüge der demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen sowie der Außenpolitik einig gewesen. Heute sei dieser Konsens zerstört. In derselben Warschauer Zeitschrift kritisieren die angesehenen Soziologen und Publizisten Sergusz Kowalski, Nina Krasko und Jan Wolenski in einem gemeinsamen Text Kaczynskis Geschichtsinterpretation scharf (31. März 2007). Die Vorwürfe der Kaczynski-Anhänger, Walesa oder Geremek hätten die Solidarnosc-Ideale am Runden Tisch verraten, seien absurd, die Ergebnisse der Wende sprächen eine andere Sprache. Damals habe eine politische Kultur die Politik bestimmt, die vor allem durch einen Kompromiss kluger politischer Eliten geprägt gewesen sei.

Die kritische Haltung der Polityka oder von Adam Michniks Gazeta Wyborcza gegenüber den Kaczynskis überrascht kaum, denn beide Blätter stehen der von der Regierungskoalition durchgesetzten Verschärfung des Durchleuchtungsgesetzes grundsätzlich kritisch gegenüber. Seit Mitte März dieses Jahres müssen nicht nur alle Staatsbeamten und Sicherheitsdienstmitarbeiter, sondern auch alle Hochschulangestellten sowie Journalisten in einer „Lustrationserklärung“ mitteilen, ob sie zu Zeiten des Kommunismus mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben. Das Lustrationsgesetz ist neben der Einführung einer Zentralen Behörde zum Kampf gegen die Korruption das zweite wichtige Element der „moralischen Erneuerung“, dem Aufbau einer unbelasteten Vierten Republik.

Nun ist die Idee des Aufbaus einer Vierten Republik durchaus keine spezifische Obsession der Kaczynskis. Auch unter den ehemaligen Solidarnosc-Eliten herrscht Konsens darüber, dass man nach 1989 die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit vernachlässigt und dass die Korruption die Autorität des Staates untergraben habe. Der Machtmissbrauch durch postkommunistische Kader unter der Regierung von Leszek Miller hatte in weiten Teilen des liberalen und konservativen Lagers den Wunsch geweckt, den EU-Beitritt als Chance zu einer Erneuerung des Staates zu nutzen. Streit herrscht indes weiterhin über den Umgang mit dem Erbe der kommunistischen Herrschaft, über die Bewertung des Runden Tisches und schließlich über die Ausgestaltung der neuen Republik.

nhänger und Gegner des neuen Durchleuchtungsgesetzes kamen in einem Redaktionsgespräch der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita zu Wort, das in der Ausgabe vom 17./18. März 2007 dokumentiert ist. Nach Ansicht des Rundfunkjournalisten Krzysztof Skowronski stärkt die Überprüfung der Journalisten die Glaubwürdigkeit der Medien und damit die Demokratie. Wprost-Chef Stanislaw Janecki kritisiert die Initiative einiger Kollegen, die Durchleuchtung zu boykottieren, da ein solches Verhalten dazu beitragen könne, die Gesellschaft zu demoralisieren. Der prominente Fernsehjournalist Tomasz Lis hingegen bezeichnet die Lustrationsgesetzgebung als moralische Erpressung der Bürger durch den Staat. Sogar diejenigen, die sich nichts vorzuwerfen hätten, würden unter Druck gesetzt, da sie befürchten müssten, dass sich belastendes Material in den Stasi-Archiven finden könnte.

Die Mehrheit der Journalisten äußert sich kritisch über die Aussagekraft der Stasi-Akten und befürchtet, dass die Mitarbeiter des Instituts für Nationales Gedenken mit der Interpretation der Unterlagen überfordert sein könnten. „Wir wissen“, schreibt die Polityka (31. März 2007), „wie kompliziert das Leben vor 1989 war. Um die Stasi-Akten richtig bewerten zu können, müssen wir den Kontext von Entscheidungen einzelner Menschen kennen, ihr tatsächliches Verhalten, den Inhalt und die Folgen der Zusammenarbeit mit der Stasi“.

Für ein Ersatzthema hält Andrzej Skworz, Chefredakteur der Fachzeitschrift Press, die Lustration (zitiert in: Die Welt, 13. Februar 2007). Es sei leichter, Akten zu überprüfen als die Wirtschaftslage zu verbessern, denn von letzterem hätten die Kaczynskis leider überhaupt keine Ahnung.

Ähnlich wie Skworz argumentiert der Schriftsteller Andrzej Stasiuk im Interview mit der Tageszeitung Die Welt (14. März 2007): „Diese Aufklärung hätte schon vor zehn Jahren stattfinden müssen, die Kommunisten hätten ausgeschaltet werden müssen. (…) Die heutige Aufarbeitung der polnischen Stasi-Vergangenheit jedenfalls ist, so scheint mir, nur ein Mittel zur Eroberung und Erhaltung der Macht. Große Talente, Persönlichkeiten mit Profil gibt es in der regierenden Mannschaft nicht. Vielleicht zieht sie es deshalb vor, fremde Verfehlungen anzuprangern, statt die eigenen Verdienste herauszustellen. Aber diese Mannschaft wird eines Tages wieder abgewählt werden, basta. Man kann nicht endlos von negativen Emotionen profitieren. Positive Emotionen zu wecken, dazu sind die Kaczynskis nicht in der Lage.“

Zunehmend wenden sich auch Kaczynski-Anhänger wie der prominente Publizist Rafal Ziemkiewicz oder die renommierte Soziologin Jadwiga Staniszkis von der Politik der Regierung ab. Beide haben ihre massive Kritik an den Kompromissen des Runden Tisches, an der Politik Walesas oder der Rolle der Gazeta -Wyborcza nach 1989 nicht revidiert, zeigen sich jedoch enttäuscht über den Politikstil der PiS. Repräsentativ für die Enttäuschung der Anhänger der Vierten Republik ist ein Interview der Zeitung Rzeczpospolita mit Jadwiga Staniszkis (10./11. März 2007). Darin kritisiert sie die Führungsqualitäten von Premierminister Jaroslaw Kaczynski. Seine Fähigkeiten würden in einem beschleunigten Tempo abnehmen, seine Zeit als politischer Leader neige sich dem Ende zu, weil ihm die Fähigkeit fehle, Entscheidungen zu treffen, Risiken einzugehen und Koalitionen aufzulösen. Er handele in einem beschränkten Zeithorizont und habe keinen klaren Kurs.

Interessant ist, dass sich Staniszkis in dem Rzeczpospolita-Interview für die Auflösung der jetzigen Koalition zugunsten eines Bündnisses mit Donald Tusks Bürgerplattform ausspricht. Nur eine solche Regierung könne wichtige Reformen wie die des Gesundheitswesens oder des Rentensystems anpacken. Eine Koalition der KacznÄskis mit den Nationalisten aus der Liga der Polnischen Familien führe dagegen zur Isolation Polens in Europa. Die Marginalisierung des Landes sei im Interesse von Russlands Staatspräsident Putin. Antisemitische Äußerungen von Maciej Giertych im Europäischen Parlament würden westeuropäischen Politikern die Chance geben, Polen auf Distanz zu halten.

Zurück zu Wladyslaw Bartoszewski. Sein trockener Humor und sein Optimismus sind mittlerweile legendär. Dem Spiegel gestand er kurz vor seinem Geburtstag: „Ich bin fast 85 Jahre alt, die Regierung ist aber höchstens noch zwei Jahre und sieben Monate im Amt. Ich bin aber sicher, dass ich – so Gott will – unter einer anderen Regierung sterben werde.“

BASIL KERSKI, geb. 1969  in Danzig, ist Chefredakteur des zweisprachigen deutsch-polnischen Magazins DIALOG.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2007, S. 124 - 127.

Teilen

Mehr von den Autoren